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Leskovs fleckiger
Koffer stand neben der Empfangstheke, als Perlmann herunterkam. Auf
dem glänzenden Marmorboden der eleganten Halle wirkte er wie ein
Überbleibsel aus einem anderen Zeitalter. Es war kurz nach sieben,
und Giovanni wartete auf Signora Morelli, um dann nach Hause gehen
zu können.
«Buona fortuna!» sagte Perlmann, als er ihm die
Hand schüttelte.
«Ihnen
auch!»erwiderte Giovanni und schüttelte immer weiter.«Und dann...
äh... wollte ich noch sagen: Sie spielen ja ganz toll Klavier.
Große Klasse! »
«Danke», sagte
Perlmann und tauschte einen verlegenen Blick mit ihm.«Gibt es
vielleicht demnächst einen Pokalwettbewerb, wo ich Baggio in
unserem Fernsehen sehen könnte?»
«Demnächst spielt
Juventus gegen Stuttgart. Ich könnte nachsehen... »
«Nicht nötig», sagte
Perlmann,«ich werd’s schon merken. Wie heißt er übrigens mit
Vornamen?»
«Roberto.
»
Vor der Tür zum
Speisesaal drehte sich Perlmann noch einmal um und hob die Hand:
«Ciao.»
Giovanni gab das
Wort zurück, und jetzt kam es ihm leichter und sicherer über die
Lippen als Mittwoch abend. Beinahe klang es schon so
selbstverständlich wie zwischen alten Freunden.
Leskov hatte seinen
Handkoffer neben sich auf einen Stuhl gestellt. Perlmann fuhr
zusammen, als er ihn jetzt wieder sah, und sofort suchte sein Blick
das Stückchen Gummiband im Reißverschluß des Außenfachs. Es war
weg.
«Ziemlich schäbig im
Vergleich zu deinem, nicht wahr?»sagte Leskov, als er Perlmann auf
den Koffer starren sah.
Perlmann machte eine
vage Handbewegung und griff nach der Kaffeekanne.
«Wenn ich neulich
abend richtig verstanden habe, wirst du mit Angelini auch über die
Frage der Veröffentlichung sprechen», meinte Leskov zögernd, als er
die Serviette zusammenfaltete.
Perlmann nickte. Er
hatte es kommen sehen. Aber in einer guten
Stunde ist es vorbei. Endgültig.
«Es ist wegen einer
Übersetzung meines Texts... Glaubst du...?»
«Ich werde mit ihm
reden», sagte Perlmann und schob den Stuhl zurück.«Ich lass’ es
dich wissen. »
Von Signora Morelli,
die gerade den Mantel auszog, hätte sich Perlmann gern allein
verabschiedet. Leskovs Gegenwart störte, und als er dessen
überschwenglichen Dankesworte hörte, ging er auf die
Toilette.
Aber Leskov stand
danach immer noch neben ihr. Sie trug heute ein schwarzes Tuch mit
einem feinen weißen Rand, und ihr noch etwas verschlafenes Gesicht
wirkte darüber bleicher als sonst.
Perlmann gab ihr die
Hand und war froh, daß sich Leskov jetzt nach dem Koffer
bückte.«Danke», sagte er einfach,«und alles Gute. »
«Ihnen auch», sagte
sie. Dann legte sie für einen Moment auch noch die andere Hand auf
die seine.«Ruhen Sie sich aus. Sie sehen völlig erschöpft aus.
»
Leskov machte dem
Taxifahrer ein Zeichen und ging schwerfällig die Treppe hinunter.
Perlmann setzte das Gepäck ab und ging zurück in die Halle. Er sah
Signora Morelli an und hatte keine Ahnung, was er hatte sagen
wollen.
«Ist noch
was?»fragte sie lächelnd.
«Nein, nein. Ich...
äh... wollte nur sagen: Es war gut, daß Sie in diesen Wochen da
waren.»Und dann, als ihre Hand verlegen ans Tuch faßte, fügte er
rasch hinzu:«Sind Sie mit der Steuer jetzt fertig?»
«Ja», lachte
sie,«Gott sei Dank. »
«Also dann», sagte
er.
«Ja. Gute Reise.
»
Perlmann war
erleichtert, daß Leskov sich neben den Fahrer gesetzt hatte. Er
lehnte sich hinter ihm ins Polster und schloß die Augen. Die
Nachwirkung der Schlaftablette drückte auf die Augen. Gegen seine
Gewohnheit hatte er sich vorhin, als das Taxi um die Kurve bog,
nicht nach dem Hotel umgedreht. Jetzt sah er es noch einmal in
allen Einzelheiten vor sich, und auch die Stufen zur Veranda
Marconi stieg er noch einmal hinauf. Es war vorbei. Vorbei.
«Für eine
Veröffentlichung könnte ich eine kürzere Fassung machen», sagte
Leskov.«Was meinst du?»Trotz mehrerer ächzender Versuche war es ihm
nicht gelungen, sich ganz umzudrehen, und nun blickte er am
Hinterkopf des Fahrers vorbei zum Fenster hinaus.
Perlmann stemmte die
Fäuste ins Polster. Er müsse sich die ganze Sache mit der
Veröffentlichung erst einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen,
sagte er.
Nach einer längeren
Pause, in der er in einen Halbschlaf geglitten war, schlug die
Rückenlehne des Vordersitzes gegen seine Knie. Leskov hatte den
Sicherheitsgurt gelöst, wälzte sich auf die rechte Seite und
versuchte, auch jetzt vergeblich, sich ganz zu Perlmann
umzudrehen.
«Ich traue mich
kaum, das anzuschneiden», sagte er in seinem unterwürfigen
Ton,«aber du selbst würdest wohl meinen Text nicht übersetzen
wollen?»
Perlmann erstarrte
und war froh, daß es jetzt ein ruckartiges Überholmanöver gab, bei
dem der Fahrer fluchte.
«Ich dachte nur:
weil du meine Überlegungen so gut kennst und ihnen mit so viel
Interesse begegnet bist», fügte Leskov zögernd, beinahe
schuldbewußt hinzu, als er keine Antwort bekam.
Erst jetzt gelang es
Perlmann, seine Erstarrung abzuschütteln.«Es wird rein zeitlich
nicht gehen», hörte er sich mit hohler Stimme sagen.«Jetzt kommt
das Semester...»
«Ich weiß», sagte
Leskov rasch,«und dann willst du sicher an deinem Buch
weiterschreiben. Da wollte ich dich übrigens fragen, ob ich das,
was davon bereits fertig ist, lesen könnte. Du kannst dir ja
denken, wie brennend es mich interessiert. »
Perlmann hatte das
Gefühl, daß eine tonnenschwere Last auf der Brust ihn am Atmen
hinderte.«Später einmal», sagte er schließlich, als Leskov den
Sicherheitsgurt längst wieder eingeklinkt hatte.
«Der Mann mit der
Mütze hat auch heute Dienst», lachte Leskov, als das Taxi am
Parkhäuschen vorbei zum Eingang des Flughafens fuhr.«Den werde ich
so schnell nicht vergessen. Etwas derart Stures! »
Als sie dann in der
Schlange vor dem Abfertigungsschalter standen, sagte er plötzlich,
er hoffe, die Maschine sei nicht so voll wie beim Herflug, wo er
wegen des Handkoffers nicht gewußt habe, wohin mit den Füßen.
Schließlich habe ihn die Stewardess erlöst, indem sie den
Handkoffer irgendwo hinten verstaute.
«Wenigstens bin ich
auf diese Weise sicher, daß ich den Text nicht auf dieser Strecke
vergessen habe», sagte er mit schiefem Lächeln.«Du mußt mir ganz
fest die Daumen drücken, daß ich ihn vorfinde, wenn ich in...
warte... in fünfzehn Stunden die Wohnung betrete. »
Langsam gingen sie
auf die Paßkontrolle zu. Noch zwei, drei
Minuten.
Leskov setzte den
Handkoffer ab.«Wenn du deine Wohnung betrittst, kommt sie dir
sicher auch heute noch leer vor. Oder?»
Für einen kurzen
Moment spürte Perlmann die gleiche Wut wie damals im stillen
Tunnel, es war, als habe sie nur für wenige Minuten ausgesetzt und
nicht für mehrere Tage.
«Kirsten wird dort
sein», log er. Und dann, entgegen seiner Absicht, fragte er es
doch:«Klim Samgin – wie bewältigt er das Trauma? Oder wird er nie
damit fertig?»
Leskov machte das
Gesicht eines wenig beachteten Menschen, der völlig unerwartet
erfährt, daß man sich für ihn, für ihn ganz persönlich,
interessiert.
«Darüber habe ich
viel nachgedacht. Aber es ist sonderbar: Gorkij beantwortet diese
Frage nicht. Einerseits blitzt die Erinnerung an das Eisloch immer
wieder auf; andererseits erfährt man nichts darüber, wie es Klim
damit ergeht. Wenn du mich fragst: Wirklich fertig werden kann man
mit einem Trauma dieser Art nicht. Es ist ja nicht so, daß ihm
einfach etwas Schreckliches zustieß, für das er nichts konnte. So
wie mir die Haft. Er läßt den Gürtel los, das heißt, er tut etwas,
vollzieht eine Handlung. Und zudem gibt es diesen Haß in ihm. Ob da
etwas möglich ist, was eine echte Versöhnung mit sich selbst wäre,
und nicht nur eine krampfhafte Selbstbeschwichtigung: Ich bezweifle
es. Die roten Hände werden ihn nie mehr losgelassen haben. Oder was
denkst du?»
Perlmann brachte
kein Wort heraus und zuckte nur mit den Schultern. Leskov machte
einen Schritt auf ihn zu und schloß ihn in die Arme. Steif wie eine
Kleiderpuppe ließ es Perlmann über sich ergehen.
«Wegen des Texts
schreibe ich dir sofort! »rief Leskov, während der Beamte in seinem
Paß blätterte.«Und natürlich schicke ich dir eine Kopie, sobald er
abgetippt ist! »
Unfähig zu einer
Reaktion sah Perlmann zu, wie Leskov mit dem Paß winkte, bevor er
verschwand. Mit vollständig leerem Kopf blieb er auf demselben
Fleck stehen. Minutenlang nahm er nichts von dem Betrieb um sich
herum wahr. Erst als ein rennendes Kind an seinen Koffer stieß, kam
er wieder richtig zu Bewußtsein. Vorbei. Immer von neuem sagte er
sich das Wort vor, zunächst nur innerlich, dann halblaut. Es hatte
keine Wirkung. Die ersehnte Erleichterung blieb aus. Er machte ein
paar schleppende Schritte und lehnte sich an eine Säule. Fünfzehn
Stunden, dann begannen für Leskov Tage der Verzweiflung, der
ohnmächtigen Wut über sich selbst und der immer schwächer werdenden
Hoffnung auf eine Sendung der Lufthansa. Unwillkürlich zog Perlmann
den Kopf ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Die roten Hände werden ihn nie mehr losgelassen
haben.
An der Warteliste
für den Nachmittagsflug von Frankfurt nach Turin hatte sich nichts
geändert. Immer noch war der eine Mann vor ihm. Perlmann ging
hinüber in die Bar. Doch noch bevor der Kaffee vor ihm stand, legte
er einen Schein auf die Theke und ging zur Aussichtsterrasse
hinauf. Das Gepäck setzte er möglichst weit von der Stelle ab, wo
er, vor langer Zeit, den Handkoffer zurückgelassen hätte, wäre da
nicht das Mädchen in den Turnschuhen gewesen. Die Piloten saßen
schon im Cockpit, und jetzt verließen zwei Putzfrauen mit großen
Müllsäcken das Flugzeug. Weißt du, was ich am
meisten fürchte? Die Putzkolonne.
Leskov verließ als
einer der ersten den Bus, der in einer großen Schleife zur Maschine
hinausgefahren war. Mit seinen schweren Schritten ging er die
Gangway hinauf, und einmal sah es so aus, als sei er auf einen
Zipfel seines Lodenmantels getreten. Oben angekommen schien er sich
umdrehen zu wollen, wurde aber von den anderen
hineingedrängt.
Perlmann wollte
gehen. Er blieb stehen. Hinter welchem Fenster mochte Leskov
sitzen? Die Maschine rollte mit einer quälenden Langsamkeit zum
Start, in der sich die Zeit bis zum Zerreißen zu dehnen schien.
Nachdem sie gewendet hatte, stand sie, als sei sie nie mehr zu
bewegen, still im bleichen Morgenlicht, das durch einen feinen
Wolkenschleier sickerte. Auch sonst bewegte sich auf dem leeren
Rollfeld nichts. Perlmann hielt den Atem an und spürte das Blut
pochen. Es kam ihm vor, als sei diese Stille und Reglosigkeit ganz
allein für ihn inszeniert worden, ohne daß er hätte sagen können,
warum und mit welcher Botschaft. Minutenlang schien ihm die ganze
Welt in einem unverständlichen Warten erstarrt. Erst das Aufheulen
der Triebwerke setzte die Zeit wieder in Gang. Ohne zu wissen
warum, gefangen in blinder Anspannung, konzentrierte er sich auf
den genauen Augenblick, in dem die Reifen die Berührung mit der
Piste verloren. Als die Maschine dann in einer trägen Schleife aufs
offene Meer hinausflog, stellte er sich die Aussicht vor, die
Leskov jetzt hatte. So habe ich mir die
Riviera vorgestellt, genau so, hörte er ihn sagen. Nach dem
Gepäck bückte er sich erst, als der Wolkenschleier auch noch das
letzte Glitzern der Tragflächen verschluckt hatte.
Er gab den Koffer
auf und holte die Bordkarte für den Flug um elf nach Frankfurt. Er
würde, dachte er in der Bar, im Frankfurter Flughafen fünf lange
Stunden auf den Flug nach Turin warten müssen, nicht wissend, ob es
mit einem Platz klappte. Wenn nicht, konnte er immer noch mit dem
Auto nach Ivrea fahren. Bis morgen um zehn war das zu schaffen.
Zwar hieße es, daß er nicht vor Mittwoch in der Universität wäre.
Aber mit der Aussicht auf die neue Tätigkeit im hellen Büro war er
für vorwurfsvolle Blicke unverwundbar.
In der Halle setzte
er sich in eine Ecke und packte die Bücher aus. Er nahm jedes
einzelne in die Hand und untersuchte es mit einer verwunderten
Gründlichkeit, als sei es ein Zeugnis aus einer sehr fernen, sehr
fremden Kultur. Die meisten Titel las er erst jetzt mit
Aufmerksamkeit. Er ging die Inhaltsverzeichnisse durch, und obwohl
er mit all diesen Themen vertraut war, staunte er, was es alles
gab. Aufs Geratewohl schlug er einige Seiten auf und las. Es waren
brandneue Fachbücher, im Klappentext als revolutionär angepriesen,
aber er hatte das Gefühl, dasselbe zu lesen wie immer schon. Es
knackte im Buchrücken, wenn er zur nächsten Stichprobe überging.
Die Hochglanzseiten mit den Abbildungen und Tabellen rochen
besonders intensiv nach frischem Druck.
Schließlich packte
er alles wieder ein, nur Leskovs Text ließ er draußen. Nein, die
eingestanzten Initialen auf dem Koffer konnten ihn nicht verraten.
Plötzlich ekelte er sich vor den dunklen Schweißspuren am Griff.
Auf dem Weg zum Waschraum trug er den Koffer auf den Armen wie ein
unförmiges Paket. Er versteckte ihn hinter dem Abfallbehälter unter
dem Waschbecken und ging dann mit raschen Schritten zur
Sicherheitskontrolle, wo der Umschlag mit Leskovs Text mißtrauisch
untersucht wurde.
Sven Berghoff saß
mit dem Rücken zu ihm, als er den Warteraum betrat. Perlmann
erkannte ihn sofort am wirren roten Haar, dem hochgeklappten Kragen
des Jacketts und der langen Zigarettenspitze aus Elfenbein, die
seitlich aus seinem Mund herausragte. Er war der einzige, der
Perlmann wegen der Beurlaubung Schwierigkeiten gemacht hatte. Es
war seine Rache dafür gewesen, daß Perlmann, bei dem die Hörsäle
stets überfüllt waren, auf der Suche nach Kreide kürzlich in seine
Vorlesung geplatzt war, wo ganze sechs Hörer saßen. Berghoff war
rot geworden, hatte behauptet, es sei keine Kreide da, wo doch
neben dem Schwamm ein ganzer Berg lag, und obwohl Perlmann, um ihn
nicht bloßzustellen, ohne Kreide wieder gegangen war, schnitt er
ihn seither.
Berghoffs Anblick
versetzte Perlmann in helle Panik. Mit einemmal gab es keinen
Leskov mehr und keinen Text, der auf die Post mußte. Es gab nur
noch den dunklen Institutsflur, Hörsäle und Seminarräume,
erwartungsvolle Gesichter von Studenten, nörgelige und
salbungsvolle Bemerkungen von Kollegen. Er machte kehrt, schwang
sich über eine Absperrung und rannte, Leskovs Text fest an die
Brust gepreßt, hinaus zu einem Taxi, von dem er sich zum Bahnhof
fahren ließ. Ruhiger wurde er erst wieder, als sich der Zug nach
Ivrea in Bewegung setzte.