56
 
Leskovs fleckiger Koffer stand neben der Empfangstheke, als Perlmann herunterkam. Auf dem glänzenden Marmorboden der eleganten Halle wirkte er wie ein Überbleibsel aus einem anderen Zeitalter. Es war kurz nach sieben, und Giovanni wartete auf Signora Morelli, um dann nach Hause gehen zu können.
«Buona fortuna!» sagte Perlmann, als er ihm die Hand schüttelte.
«Ihnen auch!»erwiderte Giovanni und schüttelte immer weiter.«Und dann... äh... wollte ich noch sagen: Sie spielen ja ganz toll Klavier. Große Klasse! »
«Danke», sagte Perlmann und tauschte einen verlegenen Blick mit ihm.«Gibt es vielleicht demnächst einen Pokalwettbewerb, wo ich Baggio in unserem Fernsehen sehen könnte?»
«Demnächst spielt Juventus gegen Stuttgart. Ich könnte nachsehen... »
«Nicht nötig», sagte Perlmann,«ich werd’s schon merken. Wie heißt er übrigens mit Vornamen?»
«Roberto. »
Vor der Tür zum Speisesaal drehte sich Perlmann noch einmal um und hob die Hand: «Ciao.»
Giovanni gab das Wort zurück, und jetzt kam es ihm leichter und sicherer über die Lippen als Mittwoch abend. Beinahe klang es schon so selbstverständlich wie zwischen alten Freunden.
Leskov hatte seinen Handkoffer neben sich auf einen Stuhl gestellt. Perlmann fuhr zusammen, als er ihn jetzt wieder sah, und sofort suchte sein Blick das Stückchen Gummiband im Reißverschluß des Außenfachs. Es war weg.
«Ziemlich schäbig im Vergleich zu deinem, nicht wahr?»sagte Leskov, als er Perlmann auf den Koffer starren sah.
Perlmann machte eine vage Handbewegung und griff nach der Kaffeekanne.
«Wenn ich neulich abend richtig verstanden habe, wirst du mit Angelini auch über die Frage der Veröffentlichung sprechen», meinte Leskov zögernd, als er die Serviette zusammenfaltete.
Perlmann nickte. Er hatte es kommen sehen. Aber in einer guten Stunde ist es vorbei. Endgültig.
«Es ist wegen einer Übersetzung meines Texts... Glaubst du...?»
«Ich werde mit ihm reden», sagte Perlmann und schob den Stuhl zurück.«Ich lass’ es dich wissen. »
 
Von Signora Morelli, die gerade den Mantel auszog, hätte sich Perlmann gern allein verabschiedet. Leskovs Gegenwart störte, und als er dessen überschwenglichen Dankesworte hörte, ging er auf die Toilette.
Aber Leskov stand danach immer noch neben ihr. Sie trug heute ein schwarzes Tuch mit einem feinen weißen Rand, und ihr noch etwas verschlafenes Gesicht wirkte darüber bleicher als sonst.
Perlmann gab ihr die Hand und war froh, daß sich Leskov jetzt nach dem Koffer bückte.«Danke», sagte er einfach,«und alles Gute. »
«Ihnen auch», sagte sie. Dann legte sie für einen Moment auch noch die andere Hand auf die seine.«Ruhen Sie sich aus. Sie sehen völlig erschöpft aus. »
Leskov machte dem Taxifahrer ein Zeichen und ging schwerfällig die Treppe hinunter. Perlmann setzte das Gepäck ab und ging zurück in die Halle. Er sah Signora Morelli an und hatte keine Ahnung, was er hatte sagen wollen.
«Ist noch was?»fragte sie lächelnd.
«Nein, nein. Ich... äh... wollte nur sagen: Es war gut, daß Sie in diesen Wochen da waren.»Und dann, als ihre Hand verlegen ans Tuch faßte, fügte er rasch hinzu:«Sind Sie mit der Steuer jetzt fertig?»
«Ja», lachte sie,«Gott sei Dank. »
«Also dann», sagte er.
«Ja. Gute Reise. »
 
Perlmann war erleichtert, daß Leskov sich neben den Fahrer gesetzt hatte. Er lehnte sich hinter ihm ins Polster und schloß die Augen. Die Nachwirkung der Schlaftablette drückte auf die Augen. Gegen seine Gewohnheit hatte er sich vorhin, als das Taxi um die Kurve bog, nicht nach dem Hotel umgedreht. Jetzt sah er es noch einmal in allen Einzelheiten vor sich, und auch die Stufen zur Veranda Marconi stieg er noch einmal hinauf. Es war vorbei. Vorbei.
«Für eine Veröffentlichung könnte ich eine kürzere Fassung machen», sagte Leskov.«Was meinst du?»Trotz mehrerer ächzender Versuche war es ihm nicht gelungen, sich ganz umzudrehen, und nun blickte er am Hinterkopf des Fahrers vorbei zum Fenster hinaus.
Perlmann stemmte die Fäuste ins Polster. Er müsse sich die ganze Sache mit der Veröffentlichung erst einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen, sagte er.
Nach einer längeren Pause, in der er in einen Halbschlaf geglitten war, schlug die Rückenlehne des Vordersitzes gegen seine Knie. Leskov hatte den Sicherheitsgurt gelöst, wälzte sich auf die rechte Seite und versuchte, auch jetzt vergeblich, sich ganz zu Perlmann umzudrehen.
«Ich traue mich kaum, das anzuschneiden», sagte er in seinem unterwürfigen Ton,«aber du selbst würdest wohl meinen Text nicht übersetzen wollen?»
Perlmann erstarrte und war froh, daß es jetzt ein ruckartiges Überholmanöver gab, bei dem der Fahrer fluchte.
«Ich dachte nur: weil du meine Überlegungen so gut kennst und ihnen mit so viel Interesse begegnet bist», fügte Leskov zögernd, beinahe schuldbewußt hinzu, als er keine Antwort bekam.
Erst jetzt gelang es Perlmann, seine Erstarrung abzuschütteln.«Es wird rein zeitlich nicht gehen», hörte er sich mit hohler Stimme sagen.«Jetzt kommt das Semester...»
«Ich weiß», sagte Leskov rasch,«und dann willst du sicher an deinem Buch weiterschreiben. Da wollte ich dich übrigens fragen, ob ich das, was davon bereits fertig ist, lesen könnte. Du kannst dir ja denken, wie brennend es mich interessiert. »
Perlmann hatte das Gefühl, daß eine tonnenschwere Last auf der Brust ihn am Atmen hinderte.«Später einmal», sagte er schließlich, als Leskov den Sicherheitsgurt längst wieder eingeklinkt hatte.
«Der Mann mit der Mütze hat auch heute Dienst», lachte Leskov, als das Taxi am Parkhäuschen vorbei zum Eingang des Flughafens fuhr.«Den werde ich so schnell nicht vergessen. Etwas derart Stures! »
Als sie dann in der Schlange vor dem Abfertigungsschalter standen, sagte er plötzlich, er hoffe, die Maschine sei nicht so voll wie beim Herflug, wo er wegen des Handkoffers nicht gewußt habe, wohin mit den Füßen. Schließlich habe ihn die Stewardess erlöst, indem sie den Handkoffer irgendwo hinten verstaute.
«Wenigstens bin ich auf diese Weise sicher, daß ich den Text nicht auf dieser Strecke vergessen habe», sagte er mit schiefem Lächeln.«Du mußt mir ganz fest die Daumen drücken, daß ich ihn vorfinde, wenn ich in... warte... in fünfzehn Stunden die Wohnung betrete. »
Langsam gingen sie auf die Paßkontrolle zu. Noch zwei, drei Minuten.
Leskov setzte den Handkoffer ab.«Wenn du deine Wohnung betrittst, kommt sie dir sicher auch heute noch leer vor. Oder?»
Für einen kurzen Moment spürte Perlmann die gleiche Wut wie damals im stillen Tunnel, es war, als habe sie nur für wenige Minuten ausgesetzt und nicht für mehrere Tage.
«Kirsten wird dort sein», log er. Und dann, entgegen seiner Absicht, fragte er es doch:«Klim Samgin – wie bewältigt er das Trauma? Oder wird er nie damit fertig?»
Leskov machte das Gesicht eines wenig beachteten Menschen, der völlig unerwartet erfährt, daß man sich für ihn, für ihn ganz persönlich, interessiert.
«Darüber habe ich viel nachgedacht. Aber es ist sonderbar: Gorkij beantwortet diese Frage nicht. Einerseits blitzt die Erinnerung an das Eisloch immer wieder auf; andererseits erfährt man nichts darüber, wie es Klim damit ergeht. Wenn du mich fragst: Wirklich fertig werden kann man mit einem Trauma dieser Art nicht. Es ist ja nicht so, daß ihm einfach etwas Schreckliches zustieß, für das er nichts konnte. So wie mir die Haft. Er läßt den Gürtel los, das heißt, er tut etwas, vollzieht eine Handlung. Und zudem gibt es diesen Haß in ihm. Ob da etwas möglich ist, was eine echte Versöhnung mit sich selbst wäre, und nicht nur eine krampfhafte Selbstbeschwichtigung: Ich bezweifle es. Die roten Hände werden ihn nie mehr losgelassen haben. Oder was denkst du?»
Perlmann brachte kein Wort heraus und zuckte nur mit den Schultern. Leskov machte einen Schritt auf ihn zu und schloß ihn in die Arme. Steif wie eine Kleiderpuppe ließ es Perlmann über sich ergehen.
«Wegen des Texts schreibe ich dir sofort! »rief Leskov, während der Beamte in seinem Paß blätterte.«Und natürlich schicke ich dir eine Kopie, sobald er abgetippt ist! »
Unfähig zu einer Reaktion sah Perlmann zu, wie Leskov mit dem Paß winkte, bevor er verschwand. Mit vollständig leerem Kopf blieb er auf demselben Fleck stehen. Minutenlang nahm er nichts von dem Betrieb um sich herum wahr. Erst als ein rennendes Kind an seinen Koffer stieß, kam er wieder richtig zu Bewußtsein. Vorbei. Immer von neuem sagte er sich das Wort vor, zunächst nur innerlich, dann halblaut. Es hatte keine Wirkung. Die ersehnte Erleichterung blieb aus. Er machte ein paar schleppende Schritte und lehnte sich an eine Säule. Fünfzehn Stunden, dann begannen für Leskov Tage der Verzweiflung, der ohnmächtigen Wut über sich selbst und der immer schwächer werdenden Hoffnung auf eine Sendung der Lufthansa. Unwillkürlich zog Perlmann den Kopf ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Die roten Hände werden ihn nie mehr losgelassen haben.
An der Warteliste für den Nachmittagsflug von Frankfurt nach Turin hatte sich nichts geändert. Immer noch war der eine Mann vor ihm. Perlmann ging hinüber in die Bar. Doch noch bevor der Kaffee vor ihm stand, legte er einen Schein auf die Theke und ging zur Aussichtsterrasse hinauf. Das Gepäck setzte er möglichst weit von der Stelle ab, wo er, vor langer Zeit, den Handkoffer zurückgelassen hätte, wäre da nicht das Mädchen in den Turnschuhen gewesen. Die Piloten saßen schon im Cockpit, und jetzt verließen zwei Putzfrauen mit großen Müllsäcken das Flugzeug. Weißt du, was ich am meisten fürchte? Die Putzkolonne.
Leskov verließ als einer der ersten den Bus, der in einer großen Schleife zur Maschine hinausgefahren war. Mit seinen schweren Schritten ging er die Gangway hinauf, und einmal sah es so aus, als sei er auf einen Zipfel seines Lodenmantels getreten. Oben angekommen schien er sich umdrehen zu wollen, wurde aber von den anderen hineingedrängt.
Perlmann wollte gehen. Er blieb stehen. Hinter welchem Fenster mochte Leskov sitzen? Die Maschine rollte mit einer quälenden Langsamkeit zum Start, in der sich die Zeit bis zum Zerreißen zu dehnen schien. Nachdem sie gewendet hatte, stand sie, als sei sie nie mehr zu bewegen, still im bleichen Morgenlicht, das durch einen feinen Wolkenschleier sickerte. Auch sonst bewegte sich auf dem leeren Rollfeld nichts. Perlmann hielt den Atem an und spürte das Blut pochen. Es kam ihm vor, als sei diese Stille und Reglosigkeit ganz allein für ihn inszeniert worden, ohne daß er hätte sagen können, warum und mit welcher Botschaft. Minutenlang schien ihm die ganze Welt in einem unverständlichen Warten erstarrt. Erst das Aufheulen der Triebwerke setzte die Zeit wieder in Gang. Ohne zu wissen warum, gefangen in blinder Anspannung, konzentrierte er sich auf den genauen Augenblick, in dem die Reifen die Berührung mit der Piste verloren. Als die Maschine dann in einer trägen Schleife aufs offene Meer hinausflog, stellte er sich die Aussicht vor, die Leskov jetzt hatte. So habe ich mir die Riviera vorgestellt, genau so, hörte er ihn sagen. Nach dem Gepäck bückte er sich erst, als der Wolkenschleier auch noch das letzte Glitzern der Tragflächen verschluckt hatte.
Er gab den Koffer auf und holte die Bordkarte für den Flug um elf nach Frankfurt. Er würde, dachte er in der Bar, im Frankfurter Flughafen fünf lange Stunden auf den Flug nach Turin warten müssen, nicht wissend, ob es mit einem Platz klappte. Wenn nicht, konnte er immer noch mit dem Auto nach Ivrea fahren. Bis morgen um zehn war das zu schaffen. Zwar hieße es, daß er nicht vor Mittwoch in der Universität wäre. Aber mit der Aussicht auf die neue Tätigkeit im hellen Büro war er für vorwurfsvolle Blicke unverwundbar.
In der Halle setzte er sich in eine Ecke und packte die Bücher aus. Er nahm jedes einzelne in die Hand und untersuchte es mit einer verwunderten Gründlichkeit, als sei es ein Zeugnis aus einer sehr fernen, sehr fremden Kultur. Die meisten Titel las er erst jetzt mit Aufmerksamkeit. Er ging die Inhaltsverzeichnisse durch, und obwohl er mit all diesen Themen vertraut war, staunte er, was es alles gab. Aufs Geratewohl schlug er einige Seiten auf und las. Es waren brandneue Fachbücher, im Klappentext als revolutionär angepriesen, aber er hatte das Gefühl, dasselbe zu lesen wie immer schon. Es knackte im Buchrücken, wenn er zur nächsten Stichprobe überging. Die Hochglanzseiten mit den Abbildungen und Tabellen rochen besonders intensiv nach frischem Druck.
Schließlich packte er alles wieder ein, nur Leskovs Text ließ er draußen. Nein, die eingestanzten Initialen auf dem Koffer konnten ihn nicht verraten. Plötzlich ekelte er sich vor den dunklen Schweißspuren am Griff. Auf dem Weg zum Waschraum trug er den Koffer auf den Armen wie ein unförmiges Paket. Er versteckte ihn hinter dem Abfallbehälter unter dem Waschbecken und ging dann mit raschen Schritten zur Sicherheitskontrolle, wo der Umschlag mit Leskovs Text mißtrauisch untersucht wurde.
Sven Berghoff saß mit dem Rücken zu ihm, als er den Warteraum betrat. Perlmann erkannte ihn sofort am wirren roten Haar, dem hochgeklappten Kragen des Jacketts und der langen Zigarettenspitze aus Elfenbein, die seitlich aus seinem Mund herausragte. Er war der einzige, der Perlmann wegen der Beurlaubung Schwierigkeiten gemacht hatte. Es war seine Rache dafür gewesen, daß Perlmann, bei dem die Hörsäle stets überfüllt waren, auf der Suche nach Kreide kürzlich in seine Vorlesung geplatzt war, wo ganze sechs Hörer saßen. Berghoff war rot geworden, hatte behauptet, es sei keine Kreide da, wo doch neben dem Schwamm ein ganzer Berg lag, und obwohl Perlmann, um ihn nicht bloßzustellen, ohne Kreide wieder gegangen war, schnitt er ihn seither.
Berghoffs Anblick versetzte Perlmann in helle Panik. Mit einemmal gab es keinen Leskov mehr und keinen Text, der auf die Post mußte. Es gab nur noch den dunklen Institutsflur, Hörsäle und Seminarräume, erwartungsvolle Gesichter von Studenten, nörgelige und salbungsvolle Bemerkungen von Kollegen. Er machte kehrt, schwang sich über eine Absperrung und rannte, Leskovs Text fest an die Brust gepreßt, hinaus zu einem Taxi, von dem er sich zum Bahnhof fahren ließ. Ruhiger wurde er erst wieder, als sich der Zug nach Ivrea in Bewegung setzte.
Perlmanns Schweigen: Roman
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