41
Eine wilde Huperei
auf der Uferstraße ließ ihn aufschrecken. Er fühlte sich ohne
Orientierung und sank sofort in eine bleierne Müdigkeit zurück. Die
Augenlider schienen wie gelähmt und ließen sich erst öffnen, als er
sich mit äußerster Willenskraft aufgerichtet hatte und auf dem
Bettrand saß. Der Kopf tat bei der geringsten Bewegung weh, und die
Adern schienen viel zu eng für das heftig pochende Blut. Der
Verkehrslärm war unerträglich. Es war sieben Minuten vor
neun.
Keine Zeit mehr fürs
Duschen und Rasieren, und auch Kaffee konnte er keinen mehr
bestellen. Erleichtert stellte er fest, daß ihm die Zunge, obwohl
sie dick war und brannte, wieder ganz gehorchte. Er schaufelte mit
beiden Händen kaltes Wasser ins Gesicht und rief dadurch die
Erinnerung an die Tankstellentoilette in Recco hervor. Kein Mord. Kein Plagiat. Hastig raffte er die
Blätter auf dem Schreibtisch zusammen. Es waren mindestens zwanzig
Seiten, dachte er. Die letzte halbe Seite war durchgestrichen.
Am Schluß muß ich
improvisieren.
Der Aufzug war
besetzt. Zwei Minuten nach neun. Perlmann biß auf die Zähne und
humpelte die Treppe hinunter. Er hatte den Ausdruck seiner
Aufzeichnungen vergessen, und als er sich vergewissern wollte, daß
er wenigstens einen Stift bei sich hatte, sah er, daß quer über die
Jacke zwei dicke Schmutzstreifen liefen. Die Mülltonne beim Ventilator. Er blickte auf die Hose:
überall Blutflecke. In der Halle angekommen, sah er durch die
Glastür des Eingangs das Meer, das in der Morgensonne glitzerte.
Irgendeinmal in der Nacht, das wußte er noch, hatte er gemeint,
endlich die Gegenwart gefunden zu haben. Eine Täuschung, gewoben
aus Erleichterung, Alkohol und Tabletten. Die Gegenwart war ferner
denn je.
Die Tür zur Veranda
stand offen. Perlmann spürte keine Stiche mehr, als er durch den
Salon darauf zuging und die drei Stufen nahm. Die Angst legte sich
über ihn wie ein betäubender Schleier. Er war noch gar nicht ganz
im Raum, da hatte er schon gesehen, daß sie alle da waren, auch
Silvestri und Angelini. Und hinten rechts Leskov mit der Pfeife im
Mund. Perlmann zog seinen Blick sofort zurück. Er wollte sich durch
keines dieser Gesichter verwunden lassen. Wie während der Nacht
wollte er ganz in sich selbst eingeschlossen bleiben, unerreichbar
für die anderen.
Wie immer stand
Kaffee auf dem Tisch, eine Kanne allein für den Redner. Perlmann
setzte sich grußlos hin, schenkte sich ein und konzentrierte sich
darauf, nicht zu zittern. Der Kaffee war heiß, man konnte nur
langsam trinken. Er konnte unmöglich unter den Blicken der anderen
erst die ganze Tasse austrinken. Nach drei Schlucken setzte er sie
ab. Er hatte einleitende Worte der Erklärung sagen wollen: über den
verteilten Text und sein Verhältnis zu dem, was er jetzt vortragen
werde. Aber solche Worte hätte er nicht mit gesenktem Blick sagen
können, und er brachte es jetzt nicht fertig, den Blicken der
anderen zu begegnen. Nicht, bevor sie den Text von heute nacht
gehört hatten, der ihn rehabilitieren würde. Er nahm noch einen
Schluck Kaffee, zündete sich eine Zigarette an und begann
vorzulesen.
Die einleitenden
Sätze waren zu langatmig geraten. Er merkte es sofort, wurde
ungeduldig und rasselte sie hastig herunter, um endlich zu der
ersten These zu kommen, die in ihrer Originalität, da war er ganz
sicher, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden sofort fesseln würde.
Er legte das erste Blatt zur Seite und war froh zu sehen, daß vor
dem entscheidenden Absatz nur noch drei Zeilen kamen. Als er sie
hinter sich hatte, nahm er zwei große Schlucke Kaffee, sah einen
Moment auf und stürzte sich dann in den Gedankengang.
Was er da las, war
so unsäglich schwach, daß ihm die Sätze buchstäblich im Halse
steckenblieben. Es war eine besondere Anstrengung nötig, beinahe
schon ein Würgen, um sie jeweils bis zum Ende vorzulesen. Es war
der reine Kitsch, lauter sentimentales Zeug, zusammengedacht von
einem, der am Ende seiner Kräfte war und zudem unter dem Einfluß
von Alkohol und Tabletten stand, so daß jegliche kritische
Fähigkeit, jeder Mechanismus der Zensur ganz und gar ausgesetzt
hatte. Perlmann wäre am liebsten im Erdboden versunken, und wenn
er, mit immer leiserer Stimme, weiterlas, dann nur deshalb, weil er
nicht wußte, wie er die Stille aushalten sollte, die eintreten
würde, wenn er abbrach.
Leskov hatte sich am
Rauch verschluckt und bekam einen Hustenanfall. Er krümmte sich mit
hochrotem Kopf zusammen, und seine Hustenstöße waren so laut, daß
jeder Vortrag unterbrochen worden wäre. Perlmann sah zu ihm
hinüber, und in diesem Augenblick drängte ein Gedanke ins
Bewußtsein, der bis dahin von irgendeiner Kraft niedergehalten
worden war: Ich hätte ihn ganz umsonst
getötet. Es wäre ein vollständig sinnloser Mord gewesen. Ein Mord
infolge eines Irrtums. Ohne daß er es noch recht merkte,
rutschten ihm die Blätter aus der Hand, sein Mund öffnete sich
halb, und sein Blick wurde leer. Er fror. Er hörte das
durchdringende, hohe Pfeifen und sah die riesige Schaufelwand mit
den seitlichen Zacken auf sich zukommen. Es wurde ganz still wie in
Watte und Schnee. Er nahm die eiskalten, schweißnassen Hände vom
Steuer. Dann war nur noch Schwäche und Dunkel. Perlmann fiel die
Zigarette aus der Hand, und in einer merkwürdig verlangsamten,
fließenden Bewegung glitt er seitlich zu Boden.
Es war ein
angenehmes, anstrengungsloses Hinaufgleiten durch immer dünnere,
immer hellere Schichten. Am Ende kam ein leichtes, leises
Erschrecken, die Welt stand ganz still, und mit einer winzigen
Verzögerung, die er gerade noch bemerkte, um sie sofort wieder zu
vergessen, wurde Perlmann klar, daß die Eindrücke, die durch die
offenen Augen zu ihm drangen, Wachsein bedeuteten.
Er lag in den
Kleidern unter der Bettdecke, nur Jacke und Schuhe hatte er nicht
mehr an. Im roten Sessel am offenen Fenster saß Giorgio Silvestri.
Er wandte ihm den Rücken zu und las die Zeitung. Perlmann war froh,
daß er rauchte. Das nahm der Situation den Charakter eines
Krankenbesuchs. Er hätte gern auf die Uhr gesehen. Aber das hätte
Silvestri gehört, und er wollte noch eine Weile mit sich allein
sein. Er schloß die Augen und versuchte, Ordnung in die Gedanken zu
bringen.
Die Ohnmacht hatte
ihn beruhigt, und wenn die Müdigkeit auch alles verlangsamte, so
hatte er doch das Gefühl, klar denken zu können. An die
Einzelheiten des Geschehens in der Veranda erinnerte er sich nicht
mehr. Gegenwärtig waren ihm nur noch das Entsetzen über seinen
peinlichen Text, und dann der hustende Leskov, der bruchlos in
einen Strudel von Bildern aus dem Tunnel übergegangen war.
Ich habe mich unsterblich blamiert.
Peinlicher hätte es gar nicht sein können.
Aber jetzt ist es überstanden. Ich habe keinen Betrug und keinen
Mord begangen. Und ich muß nie mehr vorne in der Veranda sitzen.
Nie mehr.
Zwei Männer mußten
ihn hochgetragen haben. Perlmann war froh, daß sie ihn nicht
ausgezogen hatten. Wer außer Silvestri war es gewesen? Hatte außer
diesen beiden sonst noch jemand das Zimmer betreten? In der
Jackentasche waren die starken Schlaftabletten. Hatte Silvestri sie
gefunden? Hatte er ihm die Vergiftung angesehen und gezielt
gesucht? Oder waren sie womöglich beim Herauftragen
herausgefallen?
Leskovs Text. Um Gottes willen, hoffentlich haben sie ihn
hier nicht gefunden. Unwillkürlich richtete sich Perlmann
auf. Silvestri drehte sich um, stand auf und sah ihn mit einem
Gesicht an, in dem sich auf sonderbare Weise ein warmes Lächeln und
ein fachmännischer, ärztlicher Ausdruck verbanden.
«Da bin ich ja
gerade rechtzeitig zurückgekommen», sagte er.
«Wie lange war ich
ohnmächtig?»fragte Perlmann.
Silvestri sah auf
die Uhr.«Nur ein paar Minuten. Beruhigen Sie sich. Es besteht kein
Grund zur Sorge. »
Perlmann sank ins
Kissen zurück. Ein paar Minuten. Das können
zehn sein, oder zwanzig. Auf jeden Fall genug, um den Text zu
finden. Wenn sie hören, wie Leskov am Donnerstag praktisch dasselbe
wie in dem Text vorträgt, werden sie wissen, daß etwas nicht
stimmt, und sie werden zwei und zwei zusammenzählen. Es ist noch
nicht vorbei.
«War Leskov auch
hier drin?»fragte er heiser.
«Ja», sagte
Silvestri lächelnd,«er hat darauf bestanden, Brian Millar beim
Tragen zu helfen. Er ist ziemlich ins Schnaufen geraten. Ein netter
Kerl. »
Dann hat er seinen Text hier gesehen, und nun wird er an
den Tunnel zurückdenken. Perlmann fing an zu schwitzen und
bat um ein Glas Wasser.
Während er trank,
sah ihn Silvestri nachdenklich an. Er zögerte, sich wie ein Arzt zu
benehmen. Dann fühlte er Perlmann aber doch den Puls.«Haben Sie so
etwas schon öfter gehabt?»
Nein, sagte
Perlmann, das sei das erste Mal.
«Nehmen Sie
Schlafmittel?»Silvestri ließ die Frage harmlos klingen, beinahe
nebensächlich.
Perlmann log und
wußte sofort, daß er durchschaut wurde.
Nachdem er die
Zeitung zusammengefaltet und eine Gauloise angezündet hatte, lehnte
sich Silvestri an den Schreibtisch und sagte eine Weile nichts.
Perlmann war drauf und dran, ihm alles zu erzählen. Nur um mit
seinen Gedanken nicht mehr länger allein sein zu müssen. Um endlich
Ruhe zu haben.
«Wissen Sie», sagte
Silvestri langsam und ohne jede Spur von Belehrung oder
Bevormundung im Ton,«Sie befinden sich in einem Zustand tiefer
Erschöpfung. Noch nicht direkt gefährlich. Aber Sie sollten jetzt
ein bißchen aufpassen. Ruhen Sie sich aus. Schlafen Sie viel. Und
gehen Sie zu Hause zum Arzt. Er soll sie für alle Fälle gründlich
untersuchen. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich einfach. »Er
ging zur Tür.
«Giorgio», sagte
Perlmann.
Silvestri drehte
sich um.
«Ich... ich bin
froh, daß Sie da waren. Grazie.
»
«Di niente», lächelte Silvestri und griff nach der
Tür. Dann ließ er den Griff noch einmal los und kam zwei Schritte
zurück.«Übrigens, ich finde viele der Beobachtungen in Ihrem Text
sehr interessant. Besonders die Dinge über das sprachliche
Einfrieren von Erleben und den Punkt, daß Sätze die Phantasie
sowohl beflügeln als auch lähmen können. Er grinste.«Die anderen
haben natürlich ein bißchen was anderes von Ihnen erwartet. Aber
dem würde ich keine zu große Bedeutung beimessen. Und überhaupt
sollten Sie das hier nicht so wichtig nehmen», sagte er mit einer
Bewegung, die das ganze Hotel einschloß.
Perlmann nickte
stumm.
Mit dem Einschnappen
der Tür schlug er die Decke zurück und humpelte hastig hinüber zum
Koffer. Entsetzt sah er, daß das Zahlenschloß auf der richtigen
Kombination stand. Kein Text mehr drin. Die Adern unter der
Schädeldecke schienen bei jedem Pulsschlag zerspringen zu wollen.
Er setzte sich auf die Bettkante, nur um gleich wieder
aufzuspringen. Das Telefonbuch. Die
Hand auf den Kopf pressend riß er die Schublade des Schreibtischs
auf. Unter dem Telefonbuch lag auch kein Text. Er wußte, es war
vergeblich, aber er sah noch im Nachttisch und im Schrank nach. Sie
hatten ihn also entdeckt und als Beweisstück mitgenommen. Leskov
würde den Text identifizieren. Versuchtes Plagiat. Das war die
einzige Erklärung für die von Perlmann sorgsam geheimgehaltene
Existenz des Texts. Und in diesem Licht betrachtet wurde auch der
Vorfall in der Veranda verständlich. Heute würden sie ihn noch
schonen, er war gewissermaßen verhandlungsunfähig. Morgen aber
würden sie ihn zur Rechenschaft ziehen.
Perlmann drückte die
Zigarette aus und war froh, daß die Übelkeit nachließ, als er sich
hinlegte. Nein, als Willkommensgeschenk konnte er den Text nicht
ausgeben. Es war doch noch keine drei Tage her, daß er von Leskovs
Ankunft erfahren hatte. Und warum hatte er ihm das Geschenk dann
nicht längst überreicht? Er hatte den Text so gut gefunden, daß er
vorgehabt hatte, ihm die fertige Übersetzung nach St. Petersburg zu
schicken und eine Veröffentlichung in einer einschlägigen
Zeitschrift vorzuschlagen. Als er dann von seiner Ankunft erfuhr,
hatte er den Text als Überraschung bereitgelegt. Heute abend beim
Essen wollte er ihn überreichen. Das geht, das
klingt nicht unglaubhaft. Jedenfalls können sie es nicht
widerlegen. Perlmann zog die Decke bis unters Kinn. Das
Pochen im Kopf ließ nach. Es ist vorbei. Beim
einen oder anderen mag ein Verdacht bleiben. Mehr kann nicht mehr
passieren. Es ist vorbei. Er drehte sich auf den Bauch und
ließ das Gesicht tief ins Kissen sinken.
Aber der Text war doch überhaupt nicht mehr hier. Ich habe
ihn ja in der Nacht weggeworfen. Perlmann setzte sich auf
und umfaßte mit den Armen die Knie. Die große Mülltonne unter dem
Ventilator war bis auf die Kartoffelabfälle leer gewesen. Und der
aufgeklappte Deckel hatte den Ventilator verdeckt. Er beschwor
möglichst viele Einzelheiten der Situation herauf, um sich zu
vergewissern, daß es sich wirklich um Erinnerungen handelte und
nicht um einen Streich, den ihm die Einbildungskraft spielte. Er
hörte noch einmal das dumpfe Geräusch, mit dem der Stapel Papier
aufgeschlagen war, und roch noch einmal die Küchendünste, die aus
dem Ventilator gedrungen waren. Es war mühsam, all das
zurückzurufen, denn es war in feinen Nebel eingehüllt, der sich
auch durch höchste Konzentration nicht auflösen ließ – so, als sei
er nicht bloß ein Schleier vor den erinnerten Dingen, sondern
gehöre zu ihrem Wesen. Auch waren die Bilder unstet und schwer
festzuhalten, es war, als hätten die erinnerten Wahrnehmungen
letzte Nacht nicht richtig Gelegenheit gehabt, sich im Gehirn
einzugraben. Trotzdem wuchs Perlmanns Gewißheit, daß es echte
Erinnerungen waren. Die Einbildung würde nicht Bilder liefern, die
trotz des Nebels so dicht und zusammenhängend waren. Gestern abend,
auch daran erinnerte er sich jetzt, war ihm die Beseitigung des
Texts als der Inbegriff des Sinnlosen vorgekommen. Jetzt war er
froh über diesen Anfall von Unvernunft. Mengen von Abfall, riesige
Mengen, waren inzwischen auf den gefährlichen Text gefallen und
hatten ihn unter sich begraben.
Als er im
Schlafanzug aus dem Bad kam, fiel sein Blick auf die helle Jacke,
die sie über eine Stuhllehne gehängt hatten. Da waren nicht nur die
beiden Schmutzstreifen über der Brust. Auch die beiden Ärmel waren
an der Außenseite, unterhalb des Ellbogens, verschmutzt. Er hatte
sich auf die Mülltonne gestützt. Und im übrigen fehlte die
Hotelmappe. Jetzt war es endgültig klar. Es gab nichts mehr,
nichts, was ihn noch verraten konnte.
Hinten auf dem
Schreibtisch, mit einer Ecke unter dem Fuß der Lampe, lag ein Stoß
Papier. Es war der Text, den er in der Nacht geschrieben hatte.
Der Kitschtext. Hier also hatten sie
ihn hingetan. Diskret, mit der Schrift nach unten. In wessen Hand
war er beim Hochtragen gewesen? Silvestris? Millars? Seine
Handschrift auf den Blättern war größer als sonst, die Linien
schwungvoller, ausgreifender. Auf den letzten Seiten war vieles
unleserlich. Perlmann riß jedes Blatt mehrmals durch und ließ die
Schnipsel in den Papierkorb fallen.
Dann legte er sich
ins Bett. Er hätte ein Jahr schlafen mögen. Silvestri hatte seine
Aufzeichnungen nicht unmöglich gefunden. Er sah sein Lächeln vor
sich, als er von der Erwartung der anderen gesprochen hatte. Diese
spöttische Distanz, die keine Gehässigkeit nötig hatte – Perlmann
hatte noch nie jemanden so glühend um etwas beneidet. Er versuchte,
sich ganz in dieses Lächeln hineinzudenken – einer zu sein, der
über diese Sache so zu lächeln verstand. Darüber glitt er, seit
Tagen das erste Mal, in einen tiefen, traumlosen
Schlaf.