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Gegen halb neun
holte sie ihn zum Frühstück ab. Sie war angezogen wie bei der
Ankunft und trug auch wieder alle Ringe. Dafür waren die Lippen
ungeschminkt, so daß man die Stelle sah, an der die Unterlippe
aufgesprungen war. Als sie Perlmanns Blick sah, fuhr sie mit dem
Zeigefinger über die Stelle.
«Darf ich
mal?»fragte sie und trat ins Badezimmer vor den
Spiegel.
Die Tabletten. Ich hätte sie wegräumen sollen.
Perlmann ging zum Fenster hinüber, schloß die Augen und suchte nach
Worten für eine beiläufige, harmlose Erklärung.
«Sag mal», sagte
Kirsten, als sie aus dem Bad kam,«Barbiturat – ist das nicht
ziemlich starkes Zeug? Ziemlich gefährlich auch? Wegen Sucht und
so, meine ich. »
Perlmann atmete aus,
bevor er sich umwandte.«Wie? Ach so, die Tabletten, meinst du. »Er
brachte ein Lächeln zustande.«Ach nein, da könne ich ganz beruhigt
sein, meinte der Arzt. Ist alles eine Frage der Dosierung. Außerdem
brauche ich sie nur ganz selten, glücklicherweise. »Jetzt hatte er
die zurechtgelegten Worte noch gar nicht gebraucht.«Nur ab und zu,
da gibt es so eine Nacht, wo mir der Rücken weh tut. Irgend etwas
ist auch mit dem Bett hier oben nicht ganz in Ordnung. Und bevor
der ganze nächste Tag futsch ist... »
Sie stellte einen
Fuß aufs Bettgestell und schnürte den Turnschuh neu. Es war nicht
zu erkennen, ob sie ihm glaubte.
Silvestri erschien
erst fünf vor neun im Speisesaal und trank nur Kaffee. Obwohl er
ihr gegenübersaß, versuchte Kirsten ihn zu übersehen, indem sie
Ruge plötzlich mit Fragen nach seinem Labor in Bochum bombardierte.
Als Silvestri dann zu seinen Zigaretten griff, suchte er Kirstens
Blick, um ihr eine anzubieten. Schließlich steckte er selbst eine
an, warf Perlmann einen Blick zu und ließ die Packung schwungvoll
über den ganzen Tisch gleiten, so daß sie gegen Kirstens Untertasse
stieß und den Kaffee zum Überschwappen brachte. Kirsten zuckte
zurück, hob einen Moment vorwurfsvoll die tropfende Tasse und griff
dann nach der Packung. Erst jetzt begegnete sie Silvestris Blick.
Eine Sekunde lang befürchtete Perlmann, sie würde die Pakkung
einfach zurückschieben. Doch dann fischte sie ganz langsam eine
Zigarette heraus, steckte sie zwischen die Lippen und streckte, den
Blick ganz woandershin gerichtet, den Arm mit einer derart
blasierten Geste in Silvestris Richtung, als habe sie das auf einer
Schauspielschule gelernt. Der Italiener ließ grinsend sein
Feuerzeug aus übertriebener Höhe in ihre offene Hand fallen. Es gab
ein leises metallisches Geräusch, als es sich an den vielen Ringen
rieb. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, hielt Kirsten ihre
Zigarette in die Flamme, ließ das Feuerzeug zuschnappen und legte
es mitten auf den Tisch.«Ecco!»lachte Silvestri und griff danach.
Da wandte Kirsten ihm den Blick zu und streckte die Zunge
heraus.
Perlmann fing einen
Blick von Evelyn Mistral auf. Ihr orientalisches Gesicht mit den
grünen, bernsteindurchsetzten Augen schien ihm aus weiter Ferne zu
kommen, und er wußte nicht, ob er froh darüber war oder
unglücklich.
Laura Sands dritte
Sitzung verlief schleppender als die beiden ersten. Leben kam erst
bei den Filmbildern hinein, welche die Frage entstehen ließen, ob
die Tiere die Bedeutung gewisser Zeichen nur in dem Sinne
verstünden, daß sie darauf passend reagierten, oder ob es zu ihrem
Verstehen gehöre, daß sie – in welchem vereinfachten, blassen Sinne
auch immer – ihren Partnern die Absicht zuschrieben, ihnen etwas zu
verstehen zu geben. Hatten die Tiere so etwas wie eine Theorie über
das geistige Leben ihrer Artgenossen?
«Aber das ist doch
sonnenklar! »platzte Kirsten heraus.«Natürlich haben sie das! Das
sieht man doch einfach an ihren Blicken! »
«Tatsache ist», fiel
ihr Millar ins Wort,«daß man daran gar nichts sehen kann und daß
die Annahme ziemlich abenteuerlich ist. Um es milde auszudrücken.
»Er sagte es in seinem gewohnt selbstsicheren, professionellen Ton,
und nur ein Schatten von Gereiztheit verriet, daß es da eine
Diskussion über Faulkner gegeben hatte.
Perlmann dachte an
die lustigen Dinge, die Evelyn Mistral neulich über die beredten
Blicke der Tiere gesagt hatte, und erwartete, daß sie Kirsten zu
Hilfe kommen würde. Aber sie sagte kein Wort, hielt die Arme vor
der Brust verschränkt und nickte sogar, als Millar und Ruge einen
Vorschlag zur Güte ins Lächerliche zogen, den von Levetzov in
Perlmanns Augen nur deshalb gemacht hatte, weil er nett zu Kirsten
sein wollte.
Wie alle anderen
wartete auch Laura Sand darauf, daß Silvestri sich einschalten
würde, der, wie man wußte, Kirstens spontane Meinung teilte. Aber
der Italiener setzte dieser geballten Erwartung ein Pokergesicht
entgegen und klaubte mehr Tabakkrümel von der Zunge, als sich
wirklich dort befanden. Schließlich gab Laura Sand mit einem Zucken
der Mundwinkel zu erkennen, daß sie seine Weigerung begriffen
hatte, und nun entwickelte sie ihre eigene These, die gar nicht so
weit von Kirstens Gefühl entfernt war. Anfänglich hörte ihr Kirsten
gespannt zu; doch als es dann technisch wurde, lehnte sie sich
unauffällig zurück und sah verstohlen auf die Uhr.
«Ein bißchen
verblüfft bin ich schon», sagte sie nachher in der Halle zu
Perlmann, und es klang eher eingeschüchtert als verblüfft,«wie hart
da diskutiert wird. Da ist es in einem Seminar bei uns doch sehr
viel... lockerer, freundlicher. Fandest du es unmöglich, wie ich
mit meiner Meinung herausgeplatzt bin?»
Perlmann antwortete
nicht, denn jetzt trat Maria auf sie zu und reichte ihm einen
Ausdruck von Leskovs Text, darunter die Blätter seiner
handschriftlichen Übersetzung.
«Eccolo», sagte
sie,«es hat bis jetzt gedauert, weil Signor Millar dann doch noch
einiges zu schreiben hatte. »
Für den Titel, der
in einem übertrieben großen, fetten Format ausgedruckt war, hatte
sie ein eigenes Blatt genommen. Jetzt zeigte sie darauf und setzte
zu einer Bemerkung an. Mit einer Geistesgegenwart, die er von innen
her gar nicht erlebte, kam ihr Perlmann zuvor und stellte Kirsten
vor. Den Text hielt er mit beiden Händen hinter dem Rücken, während
er zu Kirsten lobende Worte über Maria sagte, die ihm unerträglich
hohl vorkamen. Und kaum hatte Maria eine Frage an Kirsten
gerichtet, machte er eine entschuldigende Geste, ging hinüber zur
Empfangstheke und bat Signora Morelli, den Papierstoß in sein Fach
zu tun.
«Der Text hat mich
sehr interessiert», sagte Maria, als er wieder zu ihnen trat.«Nur
im letzten Drittel, die Sache mit der Aneignung, das habe ich nicht
recht verstanden. »
«Ist ja auch ein
Problem», sagte Perlmann und begann sich abzuwenden.«Und vielen
Dank für die Arbeit. »
«Gern geschehen.
Und... Moment... Bleibt es dabei: der andere Text am
Freitag?»
Perlmann spürte
Kirstens Blick auf dem Gesicht. Er hatte, als er sich noch einmal
umwandte, das Gefühl, eine schwere und unförmige Last zu
bewegen.«Ja», sagte er,«wie besprochen.»
Perlmann hatte
bereits die Tür zum Speisesaal in der Hand, da deutete Kirsten
hinüber zu den Schlüsselfächern.«Das ist jetzt der Text für deine
Sitzung am Donnerstag, nicht wahr? Etwas mit... LIGUISTIC CREATION.
Oder habe ich falsch gelesen? Du hast die Blätter ja sofort
verschwinden lassen!»lachte sie.
«Nachher», murmelte
Perlmann, als er Ruge und von Levetzov auf sie zukommen
sah.
«Weißt du», sagte
Kirsten, als sie sich an den Tisch setzten,«ich dachte, vielleicht
könnte ich eine Kopie des Texts mitnehmen. Als Reiselektüre. Meinst
du, ich könnte Maria bitten, mir noch einen Ausdruck zu
machen?»
«Später», sagte
Perlmann. Es war ihm nicht gelungen, seine Bedrängnis und Wut aus
der Stimme fernzuhalten. Er legte die Hand auf ihren Arm und
lächelte gequält.«Wir reden später darüber. Okay?»
Sie brauchte endlos
lange, um sich für die Reise frisch zu machen und die paar Sachen
zu packen. Beklommen blickte Perlmann auf die Bucht hinaus, wo
unter dem trüben Himmel die erste Dämmerung einsetzte. Über den
Text hatte sie kein Wort mehr verloren. Und das hatte, da kannte er
seine Tochter viel zu gut, nicht daran gelegen, daß alle bis nach
drei im Speisesaal sitzen geblieben waren und über die Späße von
Achim Ruge gelacht hatten, der unter Kirstens bewundernden Blicken
zu großer Form aufgelaufen war.
Auf diesen Text
würde sie von sich aus nie wieder zu sprechen kommen. Eher würde
sie sich die Zunge abbeißen. So war es immer gewesen, wenn er sie
in einer Sache ungeduldig behandelt hatte. Wie vorhin auch, pflegte
sie dann dieses betont vergeßliche, uninteressierte Gesicht
aufzusetzen, in dem überdeutlich eine einzige Botschaft zu lesen
stand: Es ist nichts. Einmal, als
jemand in einer fachlichen Diskussion die These vertreten hatte,
daß es neben der sprachlichen keine andere Form gebe, negative
Existenzbehauptungen auszudrükken, hatte er spontan und mit großem
Lacherfolg gesagt:«Sie kennen meine Tochter nicht. »
Kurz nachdem Kirsten
auf ihr Zimmer gegangen war, hatte er den Text aus dem Fach geholt.
Er hatte nur schnell auf das letzte gedruckte Blatt gesehen:
Dreiundsiebzig Seiten waren es geworden. Dann hatte er den Ausdruck
im Koffer eingeschlossen und die handschriftlichen Blätter zu
Leskovs Text in die untere Wäscheschublade getan. Er hatte am
Bahnhof von Genua angerufen und ein Schlafwagenabteil reservieren
lassen. Fünf Minuten später hatte er nochmals angerufen und die
Reservierung auf Couchette ändern lassen. Nein, welchen Anschluß
nach Konstanz man morgens um sechs in Zürich habe, könne sie ihm
mit dem besten Willen nicht sagen, hatte die genervte Frau gesagt.
Seitdem stand er am Fenster, und obwohl ihm der Rücken weh tat,
schien ihm das die einzige Stellung zu sein, in der er das Warten
aushielt.
Sie trug wieder den
schwarzen Mantel und hatte die rote Reisetasche in der Hand, als
sie gegen halb sieben endlich erschien. Die Sache mit dem Text war
wie nie gewesen. Eigentlich sei er ja doch ziemlich nett, der blöde
Giorgio, sagte sie, nur seinen ewigen Spott könne sie auf den Tod
nicht ausstehen. Und von Faulkner verstehe sie entschieden mehr als
er. Sie war wieder geschminkt, und die grellrote Haarspange, fand
er, paßte nicht zum fettglänzenden Violett der Lippen.
Sie waren viel zu
früh am Bahnhof, der schlecht beleuchtete Bahnsteig war noch leer.
Ein verlegenes Schweigen stand plötzlich zwischen ihnen, sie sahen
sich scheu an, und dann begann Kirsten ziellos in der Reisetasche
zu wühlen. Plötzlich wurde der verlassene Bahnsteig von dem
schrillen Klingeln erfüllt, das Perlmann schon kannte. Es war ein
durchdringender, sich endlos hinziehender Ton, der gespenstisch
wirkte, weil er in der Nacht verhallte, ohne daß das geringste
geschah. Sie brachen gleichzeitig in Lachen aus, und Kirsten hielt
sich die Ohren zu. Fluchtartig verließen sie den Bahnhof und traten
unter die Platanen vor dem Eingang.
Ob er wirklich bis
nach Genua mitfahren wolle, fragte sie, als wieder ein Schweigen
einzutreten drohte. Das sei doch wirklich umständlich. Doch er
bestand darauf, und so saßen sie sich nachher in dem schäbigen
Wagen gegenüber, und Perlmann hätte am liebsten geheult, als ihm
bewußt wurde, daß er so krampfhaft nach Gesprächsstoff suchte wie
bei der Begegnung mit einer Wildfremden. Schließlich brachte er die
Rede auf Marias Frisur und fragte, ob Lack im Haar der letzte
Schrei sei.
«Du lebst hinter dem
Mond», lachte sie,«das ist längst wieder out, sogar mega-out. Das
trägt kein Mensch mehr! »
Später zündete sie
sich ihre letzte Gauloise an und reichte ihm dann das rote
Feuerzeug. Bevor er es zurückgab, betrachtete er es genau, froh,
etwas gegen das erneut drohende Schweigen tun zu können. Auf dem
feinen Goldrand war in winzigen Buchstaben Cartier eingraviert.
Gerade wollte er fragen, woher sie es habe, da warnte ihn ihre
Miene, und er legte es ihr wortlos in die Hand. Sie drehte es
zwischen den Fingern, während sie in die Nacht
hinaussah.
«Ich schenke es
dir», sagte sie plötzlich mit dem erleichterten Lächeln von
jemandem, der soeben einen längst fälligen Abschied hinter sich
gebracht hat.«Hier, nimm. »
Zögernd nahm er es
entgegen. Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch, dann schnippte sie
mit den Fingern.«Vorbei.»Er warf noch einmal einen Blick darauf und
ließ es in die Tasche gleiten. François.
Sie war vorläufig
allein in dem Couchettes-Abteil. Das könne sich ab Mailand ändern,
meinte er, und fragte dann, ob sie Franken bei sich habe. Für ein
Frühstück in Zürich. Sie lehnte sich aus dem Fenster und streckte
den Arm aus. Er nahm ihre Hand. Vorne am Zug begann der Schaffner,
die Türen zuzuschlagen.
«Zu Hause warst du
auch selten beim Frühstück. Zu Mamas Kummer.»Sie schniefte, und
jetzt sah er die Tränen.«Nur am ersten Ferientag, da haben wir
immer zusammen gegessen, den ganzen Vormittag lang. Das war... das
war wunderschön.»Sie ließ seine Hand los und wischte sich über die
Augen.«Giorgio hat mir nämlich erzählt, daß du hier nie beim
Frühstück bist. »Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie lachte.
«Gli ho detto che ti voglio bene.
Giusto?»
Perlmann nickte und
hob die Hand zum Winken. Durch die Tränen hindurch sah er, wie
Kirsten die Hände zu einem Trichter formte und etwas rief, das er
nicht mehr verstand. Er blieb stehen, bis er ganz sicher war, daß
er das rote Schlußlicht des Zuges nicht mehr erkennen
konnte.
Weil die Fahrkarte
für Kirsten mehr gekostet hatte als angenommen, hatte er nicht mehr
genug Geld für ein Taxi. Mit knapper Not erwischte er den letzten
Zug nach Santa Margherita. Hin und wieder griff er auf der Fahrt
nach dem roten Feuerzeug in der Tasche und wiederholte in Gedanken
Kirstens italienischen Satz. Im Hotel warf er sich aufs Bett und
ließ den Tränen freien Lauf.