23
 
Gegen halb neun holte sie ihn zum Frühstück ab. Sie war angezogen wie bei der Ankunft und trug auch wieder alle Ringe. Dafür waren die Lippen ungeschminkt, so daß man die Stelle sah, an der die Unterlippe aufgesprungen war. Als sie Perlmanns Blick sah, fuhr sie mit dem Zeigefinger über die Stelle.
«Darf ich mal?»fragte sie und trat ins Badezimmer vor den Spiegel.
Die Tabletten. Ich hätte sie wegräumen sollen. Perlmann ging zum Fenster hinüber, schloß die Augen und suchte nach Worten für eine beiläufige, harmlose Erklärung.
«Sag mal», sagte Kirsten, als sie aus dem Bad kam,«Barbiturat – ist das nicht ziemlich starkes Zeug? Ziemlich gefährlich auch? Wegen Sucht und so, meine ich. »
Perlmann atmete aus, bevor er sich umwandte.«Wie? Ach so, die Tabletten, meinst du. »Er brachte ein Lächeln zustande.«Ach nein, da könne ich ganz beruhigt sein, meinte der Arzt. Ist alles eine Frage der Dosierung. Außerdem brauche ich sie nur ganz selten, glücklicherweise. »Jetzt hatte er die zurechtgelegten Worte noch gar nicht gebraucht.«Nur ab und zu, da gibt es so eine Nacht, wo mir der Rücken weh tut. Irgend etwas ist auch mit dem Bett hier oben nicht ganz in Ordnung. Und bevor der ganze nächste Tag futsch ist... »
Sie stellte einen Fuß aufs Bettgestell und schnürte den Turnschuh neu. Es war nicht zu erkennen, ob sie ihm glaubte.
 
Silvestri erschien erst fünf vor neun im Speisesaal und trank nur Kaffee. Obwohl er ihr gegenübersaß, versuchte Kirsten ihn zu übersehen, indem sie Ruge plötzlich mit Fragen nach seinem Labor in Bochum bombardierte. Als Silvestri dann zu seinen Zigaretten griff, suchte er Kirstens Blick, um ihr eine anzubieten. Schließlich steckte er selbst eine an, warf Perlmann einen Blick zu und ließ die Packung schwungvoll über den ganzen Tisch gleiten, so daß sie gegen Kirstens Untertasse stieß und den Kaffee zum Überschwappen brachte. Kirsten zuckte zurück, hob einen Moment vorwurfsvoll die tropfende Tasse und griff dann nach der Packung. Erst jetzt begegnete sie Silvestris Blick. Eine Sekunde lang befürchtete Perlmann, sie würde die Pakkung einfach zurückschieben. Doch dann fischte sie ganz langsam eine Zigarette heraus, steckte sie zwischen die Lippen und streckte, den Blick ganz woandershin gerichtet, den Arm mit einer derart blasierten Geste in Silvestris Richtung, als habe sie das auf einer Schauspielschule gelernt. Der Italiener ließ grinsend sein Feuerzeug aus übertriebener Höhe in ihre offene Hand fallen. Es gab ein leises metallisches Geräusch, als es sich an den vielen Ringen rieb. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, hielt Kirsten ihre Zigarette in die Flamme, ließ das Feuerzeug zuschnappen und legte es mitten auf den Tisch.«Ecco!»lachte Silvestri und griff danach. Da wandte Kirsten ihm den Blick zu und streckte die Zunge heraus.
Perlmann fing einen Blick von Evelyn Mistral auf. Ihr orientalisches Gesicht mit den grünen, bernsteindurchsetzten Augen schien ihm aus weiter Ferne zu kommen, und er wußte nicht, ob er froh darüber war oder unglücklich.
 
Laura Sands dritte Sitzung verlief schleppender als die beiden ersten. Leben kam erst bei den Filmbildern hinein, welche die Frage entstehen ließen, ob die Tiere die Bedeutung gewisser Zeichen nur in dem Sinne verstünden, daß sie darauf passend reagierten, oder ob es zu ihrem Verstehen gehöre, daß sie – in welchem vereinfachten, blassen Sinne auch immer – ihren Partnern die Absicht zuschrieben, ihnen etwas zu verstehen zu geben. Hatten die Tiere so etwas wie eine Theorie über das geistige Leben ihrer Artgenossen?
«Aber das ist doch sonnenklar! »platzte Kirsten heraus.«Natürlich haben sie das! Das sieht man doch einfach an ihren Blicken! »
«Tatsache ist», fiel ihr Millar ins Wort,«daß man daran gar nichts sehen kann und daß die Annahme ziemlich abenteuerlich ist. Um es milde auszudrücken. »Er sagte es in seinem gewohnt selbstsicheren, professionellen Ton, und nur ein Schatten von Gereiztheit verriet, daß es da eine Diskussion über Faulkner gegeben hatte.
Perlmann dachte an die lustigen Dinge, die Evelyn Mistral neulich über die beredten Blicke der Tiere gesagt hatte, und erwartete, daß sie Kirsten zu Hilfe kommen würde. Aber sie sagte kein Wort, hielt die Arme vor der Brust verschränkt und nickte sogar, als Millar und Ruge einen Vorschlag zur Güte ins Lächerliche zogen, den von Levetzov in Perlmanns Augen nur deshalb gemacht hatte, weil er nett zu Kirsten sein wollte.
Wie alle anderen wartete auch Laura Sand darauf, daß Silvestri sich einschalten würde, der, wie man wußte, Kirstens spontane Meinung teilte. Aber der Italiener setzte dieser geballten Erwartung ein Pokergesicht entgegen und klaubte mehr Tabakkrümel von der Zunge, als sich wirklich dort befanden. Schließlich gab Laura Sand mit einem Zucken der Mundwinkel zu erkennen, daß sie seine Weigerung begriffen hatte, und nun entwickelte sie ihre eigene These, die gar nicht so weit von Kirstens Gefühl entfernt war. Anfänglich hörte ihr Kirsten gespannt zu; doch als es dann technisch wurde, lehnte sie sich unauffällig zurück und sah verstohlen auf die Uhr.
 
«Ein bißchen verblüfft bin ich schon», sagte sie nachher in der Halle zu Perlmann, und es klang eher eingeschüchtert als verblüfft,«wie hart da diskutiert wird. Da ist es in einem Seminar bei uns doch sehr viel... lockerer, freundlicher. Fandest du es unmöglich, wie ich mit meiner Meinung herausgeplatzt bin?»
Perlmann antwortete nicht, denn jetzt trat Maria auf sie zu und reichte ihm einen Ausdruck von Leskovs Text, darunter die Blätter seiner handschriftlichen Übersetzung.
«Eccolo», sagte sie,«es hat bis jetzt gedauert, weil Signor Millar dann doch noch einiges zu schreiben hatte. »
Für den Titel, der in einem übertrieben großen, fetten Format ausgedruckt war, hatte sie ein eigenes Blatt genommen. Jetzt zeigte sie darauf und setzte zu einer Bemerkung an. Mit einer Geistesgegenwart, die er von innen her gar nicht erlebte, kam ihr Perlmann zuvor und stellte Kirsten vor. Den Text hielt er mit beiden Händen hinter dem Rücken, während er zu Kirsten lobende Worte über Maria sagte, die ihm unerträglich hohl vorkamen. Und kaum hatte Maria eine Frage an Kirsten gerichtet, machte er eine entschuldigende Geste, ging hinüber zur Empfangstheke und bat Signora Morelli, den Papierstoß in sein Fach zu tun.
«Der Text hat mich sehr interessiert», sagte Maria, als er wieder zu ihnen trat.«Nur im letzten Drittel, die Sache mit der Aneignung, das habe ich nicht recht verstanden. »
«Ist ja auch ein Problem», sagte Perlmann und begann sich abzuwenden.«Und vielen Dank für die Arbeit. »
«Gern geschehen. Und... Moment... Bleibt es dabei: der andere Text am Freitag?»
Perlmann spürte Kirstens Blick auf dem Gesicht. Er hatte, als er sich noch einmal umwandte, das Gefühl, eine schwere und unförmige Last zu bewegen.«Ja», sagte er,«wie besprochen.»
Perlmann hatte bereits die Tür zum Speisesaal in der Hand, da deutete Kirsten hinüber zu den Schlüsselfächern.«Das ist jetzt der Text für deine Sitzung am Donnerstag, nicht wahr? Etwas mit... LIGUISTIC CREATION. Oder habe ich falsch gelesen? Du hast die Blätter ja sofort verschwinden lassen!»lachte sie.
«Nachher», murmelte Perlmann, als er Ruge und von Levetzov auf sie zukommen sah.
«Weißt du», sagte Kirsten, als sie sich an den Tisch setzten,«ich dachte, vielleicht könnte ich eine Kopie des Texts mitnehmen. Als Reiselektüre. Meinst du, ich könnte Maria bitten, mir noch einen Ausdruck zu machen?»
«Später», sagte Perlmann. Es war ihm nicht gelungen, seine Bedrängnis und Wut aus der Stimme fernzuhalten. Er legte die Hand auf ihren Arm und lächelte gequält.«Wir reden später darüber. Okay?»
 
Sie brauchte endlos lange, um sich für die Reise frisch zu machen und die paar Sachen zu packen. Beklommen blickte Perlmann auf die Bucht hinaus, wo unter dem trüben Himmel die erste Dämmerung einsetzte. Über den Text hatte sie kein Wort mehr verloren. Und das hatte, da kannte er seine Tochter viel zu gut, nicht daran gelegen, daß alle bis nach drei im Speisesaal sitzen geblieben waren und über die Späße von Achim Ruge gelacht hatten, der unter Kirstens bewundernden Blicken zu großer Form aufgelaufen war.
Auf diesen Text würde sie von sich aus nie wieder zu sprechen kommen. Eher würde sie sich die Zunge abbeißen. So war es immer gewesen, wenn er sie in einer Sache ungeduldig behandelt hatte. Wie vorhin auch, pflegte sie dann dieses betont vergeßliche, uninteressierte Gesicht aufzusetzen, in dem überdeutlich eine einzige Botschaft zu lesen stand: Es ist nichts. Einmal, als jemand in einer fachlichen Diskussion die These vertreten hatte, daß es neben der sprachlichen keine andere Form gebe, negative Existenzbehauptungen auszudrükken, hatte er spontan und mit großem Lacherfolg gesagt:«Sie kennen meine Tochter nicht. »
Kurz nachdem Kirsten auf ihr Zimmer gegangen war, hatte er den Text aus dem Fach geholt. Er hatte nur schnell auf das letzte gedruckte Blatt gesehen: Dreiundsiebzig Seiten waren es geworden. Dann hatte er den Ausdruck im Koffer eingeschlossen und die handschriftlichen Blätter zu Leskovs Text in die untere Wäscheschublade getan. Er hatte am Bahnhof von Genua angerufen und ein Schlafwagenabteil reservieren lassen. Fünf Minuten später hatte er nochmals angerufen und die Reservierung auf Couchette ändern lassen. Nein, welchen Anschluß nach Konstanz man morgens um sechs in Zürich habe, könne sie ihm mit dem besten Willen nicht sagen, hatte die genervte Frau gesagt. Seitdem stand er am Fenster, und obwohl ihm der Rücken weh tat, schien ihm das die einzige Stellung zu sein, in der er das Warten aushielt.
 
Sie trug wieder den schwarzen Mantel und hatte die rote Reisetasche in der Hand, als sie gegen halb sieben endlich erschien. Die Sache mit dem Text war wie nie gewesen. Eigentlich sei er ja doch ziemlich nett, der blöde Giorgio, sagte sie, nur seinen ewigen Spott könne sie auf den Tod nicht ausstehen. Und von Faulkner verstehe sie entschieden mehr als er. Sie war wieder geschminkt, und die grellrote Haarspange, fand er, paßte nicht zum fettglänzenden Violett der Lippen.
Sie waren viel zu früh am Bahnhof, der schlecht beleuchtete Bahnsteig war noch leer. Ein verlegenes Schweigen stand plötzlich zwischen ihnen, sie sahen sich scheu an, und dann begann Kirsten ziellos in der Reisetasche zu wühlen. Plötzlich wurde der verlassene Bahnsteig von dem schrillen Klingeln erfüllt, das Perlmann schon kannte. Es war ein durchdringender, sich endlos hinziehender Ton, der gespenstisch wirkte, weil er in der Nacht verhallte, ohne daß das geringste geschah. Sie brachen gleichzeitig in Lachen aus, und Kirsten hielt sich die Ohren zu. Fluchtartig verließen sie den Bahnhof und traten unter die Platanen vor dem Eingang.
Ob er wirklich bis nach Genua mitfahren wolle, fragte sie, als wieder ein Schweigen einzutreten drohte. Das sei doch wirklich umständlich. Doch er bestand darauf, und so saßen sie sich nachher in dem schäbigen Wagen gegenüber, und Perlmann hätte am liebsten geheult, als ihm bewußt wurde, daß er so krampfhaft nach Gesprächsstoff suchte wie bei der Begegnung mit einer Wildfremden. Schließlich brachte er die Rede auf Marias Frisur und fragte, ob Lack im Haar der letzte Schrei sei.
«Du lebst hinter dem Mond», lachte sie,«das ist längst wieder out, sogar mega-out. Das trägt kein Mensch mehr! »
Später zündete sie sich ihre letzte Gauloise an und reichte ihm dann das rote Feuerzeug. Bevor er es zurückgab, betrachtete er es genau, froh, etwas gegen das erneut drohende Schweigen tun zu können. Auf dem feinen Goldrand war in winzigen Buchstaben Cartier eingraviert. Gerade wollte er fragen, woher sie es habe, da warnte ihn ihre Miene, und er legte es ihr wortlos in die Hand. Sie drehte es zwischen den Fingern, während sie in die Nacht hinaussah.
«Ich schenke es dir», sagte sie plötzlich mit dem erleichterten Lächeln von jemandem, der soeben einen längst fälligen Abschied hinter sich gebracht hat.«Hier, nimm. »
Zögernd nahm er es entgegen. Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch, dann schnippte sie mit den Fingern.«Vorbei.»Er warf noch einmal einen Blick darauf und ließ es in die Tasche gleiten. François.
 
Sie war vorläufig allein in dem Couchettes-Abteil. Das könne sich ab Mailand ändern, meinte er, und fragte dann, ob sie Franken bei sich habe. Für ein Frühstück in Zürich. Sie lehnte sich aus dem Fenster und streckte den Arm aus. Er nahm ihre Hand. Vorne am Zug begann der Schaffner, die Türen zuzuschlagen.
«Zu Hause warst du auch selten beim Frühstück. Zu Mamas Kummer.»Sie schniefte, und jetzt sah er die Tränen.«Nur am ersten Ferientag, da haben wir immer zusammen gegessen, den ganzen Vormittag lang. Das war... das war wunderschön.»Sie ließ seine Hand los und wischte sich über die Augen.«Giorgio hat mir nämlich erzählt, daß du hier nie beim Frühstück bist. »Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie lachte. «Gli ho detto che ti voglio bene. Giusto?»
Perlmann nickte und hob die Hand zum Winken. Durch die Tränen hindurch sah er, wie Kirsten die Hände zu einem Trichter formte und etwas rief, das er nicht mehr verstand. Er blieb stehen, bis er ganz sicher war, daß er das rote Schlußlicht des Zuges nicht mehr erkennen konnte.
Weil die Fahrkarte für Kirsten mehr gekostet hatte als angenommen, hatte er nicht mehr genug Geld für ein Taxi. Mit knapper Not erwischte er den letzten Zug nach Santa Margherita. Hin und wieder griff er auf der Fahrt nach dem roten Feuerzeug in der Tasche und wiederholte in Gedanken Kirstens italienischen Satz. Im Hotel warf er sich aufs Bett und ließ den Tränen freien Lauf.
Perlmanns Schweigen: Roman
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