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Der Kellner, der ihm
am nächsten Morgen den Kaffee brachte, ließ sich wegen des neuen
Zimmers nichts anmerken. Als er sich dem runden Tisch beim roten
Sessel näherte, deckte Perlmann Leskovs Text mit der Hotelbroschüre
zu und schob ihn dann zur Seite, um Platz für das Tablett zu
machen. Er tat es mit einer schnellen, verstohlenen Bewegung, die
ihn vage beunruhigte, die er aber sogleich wieder
vergaß.
Für die Lektüre von
Millars erstem Text, zu der es gestern nacht nicht mehr gekommen
war, blieb keine Zeit mehr, denn aus den fünf Minuten des Dösens,
die er sich nach dem Klingeln des Weckers zugestanden hatte, war
eine halbe Stunde geworden. Perlmann sah sich noch einmal die
Passagen an, die Millar aus seinen Schriften zitierte. Daß er
selbst das geschrieben haben sollte, kam ihm unglaubhaft vor.
Nicht, weil er es schlecht fand. Aber der Autor dieser Zeilen hatte
einen Zugriff auf die Sache und eine Sicherheit der Meinung, an die
er sich so wenig erinnern konnte, daß er das Gefühl hatte, damals
beim Schreiben gar nicht anwesend gewesen zu sein. Dieser ferne,
fremde Autor war ihm kein bißchen näher als die wissenschaftliche
Stimme Millars, so daß er sich vorkam wie ein Schiedsrichter in
einer Auseinandersetzung zwischen Fremden, ein Schiedsrichter,
dessen Neutralität so weit ging, daß er das Hin und Her der
Argumente ohne das geringste Bedürfnis der Einmischung verfolgte.
Als er nachher die Halle durchquerte, in den Korridor zum Salon
einbog und auf die Stufen zur Veranda Marconi zuging, war er immer
noch mit dem vergeblichen Versuch beschäftigt, für sich selbst
Partei zu ergreifen.
Millar begann mit
einer Erläuterung der theoretischen Motive und der langfristigen
Forschungsinteressen, die ihn bei der vorliegenden Arbeit geleitet
hatten. Nach wenigen Sätzen stand er auf und begann, langsam auf
und ab zu gehen, die Arme über der Brust verschränkt. Er trug eine
dunkelblaue Hose und ein kurzärmliges, weißes Hemd mit
Schulterklappen, dem man ansah, daß es länger in einem Koffer
gelegen hatte. Obwohl sein Haar noch feucht war, wirkte es seltsam
stumpf, und vom rötlichen Schimmer war nichts zu sehen. Die
Bestimmtheit, mit der er seine Sache vortrug, erinnerte an die
Bestimmtheit, mit der ein Admiral bei der Lagebesprechung zu seinen
Leuten sprechen würde. Wie er da mit sonorer Stimme einen
wohlgeformten Satz an den anderen reihte, strahlte er die
Sicherheit desjenigen aus, der sich in seiner Welt perfekt
auskannte und keinen Moment daran zweifelte, daß er in dieser Welt
genau am richtigen Platz war – einer Welt, in der es, wie in einem
Offizierskasino, unverrückbare Regeln gab wie zum Beispiel die, daß
man pünktlich zum gemeinsamen Frühstück zu erscheinen hatte.
Perlmann war nie an der Rockefeller-Universität gewesen, an der
Millar arbeitete, aber irgendwie schien es ihm ganz
selbstverständlich, daß Leute, die dort ein- und ausgingen, so
waren wie dieser Brian Millar. Er blickte zu Giorgio Silvestri
hinüber, der, auf dem Stuhl balancierend, eben fast das
Gleichgewicht verloren hatte und einen Sturz nur hatte verhindern
können, indem er sich mit der Hand am Fenster hinter sich
abstützte. Gerne hätte er mit ihm einen Blick und ein Lächeln
getauscht, fürchtete aber, damit zuviel von seinem Wunsch nach
einer Komplizenschaft gegen Millar zu verraten.
Millar setzte sich
und suchte Perlmanns Blick. Doch Adrian von Levetzov war schon
lange auf dem Sprung und fing sofort an zu reden. Hätte er Millar,
der immerhin fünfzehn Jahre jünger war als er, mit seinem
entschuldigenden Lächeln nicht derart hofiert – Perlmann hätte ihn
bewundert. Seine Fragen und Einwände trafen genau ins Schwarze, und
Perlmann hätte sich gerne gesagt, daß sie ihm selbst auch schon
durch den Kopf gegangen seien. Aber so war es nicht. Um darauf zu kommen, muß man ganz drin sein – so, wie ich
nicht mehr drin bin. Er spürte einen Stich des Neids, wie er
ihn früher, als ehrgeiziger Student, oft empfunden hatte, wenn ein
anderer schneller war mit dem Formulieren von Gedanken, die er sich
selbst auch zugetraut hätte; und einen Moment lang ärgerte er sich
mit der früheren Heftigkeit über sich selbst. Doch dann geschah
etwas Sonderbares: Mit einemmal erlebte er diese Empfindungen als
nicht mehr zu ihm, zu seiner Gegenwart gehörig; es waren nur noch
Reminiszenzen, überholte Gefühlsreflexe aus einer Zeit, als ihm die
Wissenschaft noch nicht fremd geworden war. Es verblüffte ihn zu
spüren, wie sehr er sich selbst überlebt hatte, und für eine Weile,
während der es um ihn herum ganz still wurde, empfand er das als
eine große Befreiung. Doch dann erreichten ihn die Stimmen der
anderen wieder, und es kam ihm mit Schrecken zu Bewußtsein, wie
weit ihn diese innere Entwicklung von ihnen entfernt hatte und wie
bedrohlich das war, besonders in diesem Raum, vor dem er sich seit
seiner Ankunft fürchtete.
Bevor von neuem die
Erwartung entstehen konnte, daß Perlmann sich äußere, griff Achim
Ruge in die Diskussion ein. Der Kontrast zu von Levetzovs
übertrieben verbindlicher Art hätte schärfer nicht sein können. Als
Kritisierender hatte Ruge etwas Ruppiges, Polterndes, und wenn er
einen Einwand mit seinem glucksenden Lachen begleitete, klang es
beinahe höhnisch. Er behandelte den gleichaltrigen Millar wie alle
anderen auch, nicht ohne Respekt, aber gänzlich unbeflissen, und er
war durch absolut nichts einzuschüchtern. Als Millar auf einen
Einwand hin mit einer gewissen Schärfe sagte: «Frankly, Achim, I just don’t see that», gab Ruge
mit einem Grinsen zurück: «Yes, I
know», und erntete damit Gelächter, das Millar mit einem
säuerlichen Lächeln, das sportlich wirken sollte, über sich ergehen
ließ.
Aber es war
eigenartig, dachte Perlmann: Von Ruge kommend hatte all das nichts
Verletzendes. Man konnte dem Mann mit dem kahlen Kopf und der
schauderhaften schwäbischen Aussprache seinen Stil einfach nicht
übelnehmen, denn durch alles Polternde hindurch war seine
Gutmütigkeit erkennbar, man spürte, daß seiner Angriffslust jede
Spur von Tücke fehlte. Jetzt, wo er seinem lauten Schneuzen
entflohen war und er sich nicht mehr würde vorstellen müssen, wie
er ihm jenseits der Wand gegenübersaß, konnte Perlmann diesen Achim
Ruge gelten lassen. Und eigentlich war es absurd anzunehmen, seine
Biederkeit und Rechtschaffenheit machten ihn
gefährlich.
Laura Sand hatte den
Stift hingelegt und wollte etwas sagen. Als sie jedoch sah, daß
aller Augen auf Perlmann gerichtet waren, lehnte sie sich zurück
und griff nach einer Zigarette. Perlmann blickte zu Silvestri
hinüber; doch statt bei ihm Halt zu finden, prallte sein Blick an
der gespannten Erwartung ab, die in den dunkel glitzernden Augen
lag. Es gab kein Entrinnen mehr. Es war soweit.
Es waren
einwandfreie Sätze, die aus seinem Munde kamen, und ihr
schleppendes Tempo unterschied sich nur unwesentlich vom
natürlichen Ausdruck der Nachdenklichkeit. Doch in Perlmanns Kopf
dröhnten sie als dumpfe, sinnleere Lautfolgen, die von irgendwoher
kamen und als etwas Fremdes durch ihn hindurch rieselten, nicht
unähnlich den leisen Erschütterungen während einer Bahnfahrt. Diese
Wahrnehmung drohte ihn vor jeder nächsten Silbe zum Schweigen zu
bringen, so daß er sich innerlich stets von neuem einen Ruck geben
mußte, um zum nächsten Satz zu gelangen – um sozusagen das hier
gebotene Minimum an Sätzen zu erzeugen. Und dann auf einmal wurde
der innere Druck zu groß, und es erfolgte eine stille Explosion,
die ihm den Mut eines Hasardeurs gab.
«Ihre Kritik an
meinen Arbeiten ist das Erhellendste, das Einsichtsvollste, was ich
seit sehr langer Zeit gelesen habe», hörte er sich sagen.«Ich finde
Ihre Einwände restlos überzeugend und denke, daß mein gesamter
Vorschlag damit widerlegt ist. »Er verfiel in ein Lachen, das
innerlich von einem fiebrigen Schwindel umrahmt war.«Es ist eine
fabelhafte Erfahrung, von einer falschen Idee befreit zu werden.
Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken! Und eigentlich finde
ich, daß Ihre Kritik noch viel weiter trägt, als Sie annehmen.
»
Und nun zauberte er,
plötzlich im Vollbesitz seiner Kräfte, ein Argument nach dem
anderen aus dem Hut, drosch auf alles ein, wofür sein Name stand,
und ruhte nicht, bevor auch noch die letzte Idee, die er irgend
einmal beigesteuert hatte, abgeräumt war. Er redete aus einer
spielerischen Inspiration heraus, deren Bitterkeit nur er selbst
schmeckte, und begleitete seine rhetorischen Ausfallschritte mit
einer Armbewegung, die, ähnlich der Bewegung eines Sämanns, etwas
Wegwerfendes und gleichzeitig Großzügiges hatte.
Millar war
konsterniert, und auch die anderen sahen aus, als seien sie durch
eine Tür getreten und dahinter unversehens ins Leere gefallen. Der
erste, der sich fing, war von Levetzov.
«Bemerkenswert»,
sagte er, und es war zu spüren, daß ihm seine gewohnte innere
Einstellung zu Perlmann auf einmal nicht mehr passend erschien,
ohne daß er Zeit gehabt hätte, eine neue aufzubauen.«Aber meinen
Sie nicht, daß Sie ein bißchen übers Ziel
hinausschießen?»
Und dann fing er an,
die Scherben aufzusammeln und zusammenzukitten, bis daß ein großer
Teil von Perlmanns bisheriger Position wieder intakt war. Evelyn
Mistral half mit, und plötzlich schien es auch Ruge vor allem darum
zu gehen, Perlmann der übereilten Schlüsse zu überführen. Alle
schienen erleichtert, daß sich nach und nach wieder eine Diskussion
der gewohnten Art entwickelte. Nur ab und zu noch spürte Perlmann,
wie ein verstohlener Blick ihn streifte.
Millar hatte seine
Erstarrung abgeschüttelt und redete über Perlmann fast wie über
einen Abwesenden. Er hatte keinen Beleg dafür, aber Perlmann hätte
schwören können, daß er seine Äußerungen von vorhin für besonders
tollkühnen Sarkasmus hielt und sich auf den Arm genommen fühlte.
Nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Und
trotzdem: Es würde schwer sein zu verhindern, daß aus diesem
Mißverständnis Haß zwischen ihnen entstand.
Wieder auf dem
Zimmer, fühlte sich Perlmann leer und ermattet wie ein Schauspieler
nach der Vorstellung. Würden sie es als eine bloße Laune ansehen,
oder hatte er sich mit seiner selbstkritischen Orgie bereits
unwiderruflich zum Sonderling gemacht? Dann war da die Sache mit
seinem angeblichen Thema, und schließlich würde es nicht mehr lange
dauern, bis sie entdeckten, daß er das Zimmer gewechselt hatte. Was
für ein Bild von ihm ergab das in ihren Köpfen? Perlmann glitt in
einen Halbschlaf, in dem er es an der Tür klopfen hörte, zuerst nur
leise, dann immer lauter, bis es ein Hämmern war, das von tausend
Fäusten zu stammen schien. Er stemmte sich gegen die Tür,
verbarrikadierte sich mit Hilfe des Schranks, jetzt hörte er, wie
das Holz unter den Axthieben splitterte, als erstes wurden Millars
Zähne sichtbar, große, weiße Zähne, die vor Gesundheit strotzten,
dann der ganze Millar in Admiralsuniform, dahinter Ruges
Riesenkopf, aus dem das glucksende Lachen herauskullerte wie bei
einer Puppe, und aus dem Dunkel des Flurs kam Evelyn Mistrals
Stimme, verzerrt zu einem schrillen, ordinären Lachen.
Er schreckte auf,
und auf dem Weg ins Bad legte er an der Tür die Kette vor, beschämt
über sein Tun. Später stand er am offenen Fenster, zwei Schritte
hinter der Brüstung, und sah in den strömenden Regen hinaus. Ohne
das südliche Licht wirkte die Bucht wie eine verlassene Bühne nach
der Aufführung oder wie ein Vergnügungsviertel frühmorgens, wenn
die Lichter gelöscht sind – so ernüchternd und schäbig, daß man
sich betrogen und verkatert fühlte. Drüben auf dem öffentlichen
Stück Strand sah man jetzt plötzlich vor allem die Abfälle und den
Dreck, leere Flaschen und Plastiktüten, und nun fiel auch ins Auge,
daß die blauen Umkleidekabinen dringend einen neuen Anstrich
brauchten.
Er griff zu Leskovs
Text. Er hatte nur die wenigsten der herausgeschriebenen Wörter
behalten, und es dauerte eine Weile, bis er in den Fluß des
Gedankengangs zurückfand. In einem nächsten Schritt wollte Leskov
nun zeigen, daß diejenige Art von artikuliertem Selbstbild, auf der
unser Erinnern beruhe, nur durch sprachliche Konturierung, durch
das Erzählen von Geschichten, zustande kommen könne. Gleich nach
dieser Ankündigung kam ein Absatz, der Perlmann das Gefühl gab,
kein Wort Russisch zu können, so undurchsichtig war er auch nach
dem zweiten und dritten Lesen noch. Er versuchte, die ganze Passage
einfach sein zu lassen und hinten weiterzumachen. Aber das ging
nicht, der Absatz enthielt allem Anschein nach ein Argument, das
der Schlüssel für alles weitere war, und wenn man es nicht
verstanden hatte, erschien das, was folgte, unbegründet, beinahe
willkürlich. Am liebsten hätte er den Text in die Ecke
geschleudert. Doch dann fand er sich damit ab, daß er, was dieses
Textstück anging, wieder ganz der Schüler war und nicht ein des
Russischen mächtiger Leser, und er fing an, die einzelnen Sätze zu
sezieren wie in der Lateinstunde.
Langsam, Halbsatz
für Halbsatz, gab der Text nach und offenbarte seinen Sinn. An der
entscheidenden Stelle des Arguments jedoch gab es einen Block von
vier Sätzen, die aller analytischen Anstrengung und Geduld zum
Trotz undurchdringlich blieben. Was Perlmann fast zur Verzweiflung
trieb, war, daß es nicht daran lag, daß die Wörter in seinem
Wörterbuch fehlten. Bei zwei Wörtern war das zwar der Fall, aber
das waren Adjektive, die ihm vernachlässigbar erschienen. Alle
anderen unbekannten Wörter fanden sich durchaus im Langenscheidt,
aber den Sätzen ließ sich mit Hilfe dieser Erläuterungen beim
besten Willen kein Sinn abringen, ganz zu schweigen von einem
schlüssigen Zusammenhang. Entgegen aller Erfahrung tat Perlmann,
als ließe es sich dennoch erzwingen, er ging auf und ab und sagte
die vier Sätze, die er längst auswendig kannte, immer wieder
halblaut vor sich hin, beschwörend und dabei gestikulierend, man
hätte ihn für einen Irren halten können. Er hielt erst inne, als es
an der Tür klopfte.
Hastig schob er
Leskovs Text zusammen und verstaute ihn mit dem Wörterbuch in der
Schublade des Schreibtischs, bevor er die Tür öffnete, die sich mit
einem Knall in der Kette verfing.
«Oh, ich störe
dich», sagte Evelyn Mistral, als sie sein Gesicht im Spalt
sah.
«Nein, nein, warte»,
sagte Perlmann schnell und schloß die Tür, um die Kette
loszumachen.
Sie hatte seine neue
Zimmernummer nach vergeblichem Anrufen und Klopfen von Signora
Morelli erfahren. Jetzt ließ sie, die Hände in den Taschen ihrer
rostroten Jeans, den Blick durch das ganze Zimmer wandern und
stürzte sich dann auf den Ohrensessel, in dem sie förmlich
versank.
Das Bett sei der
Grund für den Wechsel gewesen, sagte Perlmann, er habe das übliche
Problem mit dem Rücken.
«Und du bist gern
für dich», sagte sie mit einem leisen Zucken um die Mundwinkel und
sank mit übereinandergeschlagenen Beinen noch ein bißchen tiefer in
den Sessel.
Perlmann wußte
nicht, ob er über ihre Treffsicherheit erschrak, oder ob es Freude
war.
«Weißt du», sagte
sie, nachdem sie ihn um eine Zigarette gebeten hatte, die sie dann
bloß paffte,«ich habe einen Blick dafür. Mein Vater litt nämlich
sein Leben lang unter einer streng geheimgehaltenen Platzangst. Im
Kino zum Beispiel setzte er sich stets auf den äußersten Sitz einer
leeren Reihe, auch wenn er nachher laufend aufstehen mußte, um die
Leute vorbeizulassen, und nicht selten verschwand er durch den
Notausgang, wenn sich der Saal zu sehr füllte. Drängten sich die
Leute auf dem Gehsteig, so war er imstande und ging mitten in den
Verkehr hinaus. Und natürlich mied er Aufzüge wie die Pest; eine
Ausnahme machte er nur bei den alten, wo man durch die Glastüren
und den Drahtschacht hinaus ins Treppenhaus blicken kann. Das
Schlimme war, daß er beim Operieren immer die anderen Ärzte und die
Schwestern um sich herum hatte. Mehr als einmal war er kurz davor
aufzuhören. Doch das ganze Ausmaß seines Problems habe ich erst
begriffen, als ich ihn eines Nachts in unserer riesigen Küche fand,
wo er wie ein Häufchen Elend vor einem Schnaps saß, den er sonst
nie trank. Ein sehr guter Freund, vielleicht überhaupt sein bester,
mit dem er mindestens einmal die Woche telefonierte und der damals,
als meine Mutter schwer erkrankte, eine große Stütze für ihn war,
hatte angekündigt, er werde von Sevilla nach Salamanca ziehen, wo
wir unser Haus hatten. <Ich war wie versteinert, sagte Papa,
<ich hatte das Gefühl zu ersticken. Hoffentlich hat Jose Antonio
nichts gemerkt. Und dann begann er, der Alkohol nicht gewohnt war
und als Mann aus Valladolid das gestochenste Spanisch sprach, das
du dir denken kannst, in einer unbeholfenen, verwaschenen
Aussprache davon zu reden, daß wir wegziehen müßten, möglichst weit
weg nach Osten, nach Barcelona vielleicht oder Zaragoza, es brauche
ja nicht wieder eine Stelle als Chefarzt zu sein. < Verstehst
du: Sonst verliere ich Jose Antonio>, sagte er mit Tränen in den
Augen. Dabei war er ein sehr zärtlicher Vater. Wie das
zusammenpaßte, habe ich nie begriffen. Aber seither erkenne ich
Menschen, die viel leeren Raum um sich herum brauchen, sehr
schnell, und ich irre mich selten. – Natürlich meine ich damit
nicht, du littest unter Platzangst», schloß sie
lächelnd.
Ihr konnte er es
erzählen, bei ihr konnte er sich seine Not von der Seele reden –
so, als säßen sie zusammen in der großen Küche. Perlmann zündete
eine Zigarette an und trat einen Moment ans Fenster, um sich die
ersten Worte zurechtzulegen.
«Aber ich bin ja
wegen etwas ganz anderem gekommen», sagte sie, als er sich, zum
Erzählen bereit, zu ihr umdrehte.«Einmal wollte ich sagen, wie sehr
mich die innere Freiheit beeindruckt hat, mit der du heute morgen
über deine Arbeiten geredet hast. Ich hatte zwar, wie du nachher
bemerkt haben wirst, nicht den Eindruck, Brian habe das wirklich
alles widerlegt. Aber die Ruhe, ja eigentlich Freude, mit der du
die Möglichkeit eines durchgängigen Irrtums einräumen konntest! Wie
schaffst du das bloß?»
«Vielleicht ist es
das Alter», sagte Perlmann mit einem Kloß im Hals und wäre vor
Scham über die Albernheit dieser Antwort am liebsten in den
Erdboden versunken.
«Na, ich weiß
nicht», lächelte sie, unsicher, wie ernst er es gemeint
hatte.«Jedenfalls fand ich es toll. -Und das andere war: Ich hätte
gern über dein neues Thema mit dir gesprochen. Was du gestern
morgen angedeutet hast, hat mich richtiggehend elektrisiert, denn
der Einfluß, den die sprachliche Artikulation aufs Erinnern hat,
muß ja eng verwandt sein mit dem sprachlichen Verfeinerungsprozeß
der Phantasie, den ich untersuche. ¿Verdad?»
Perlmann
entschuldigte sich und ging ins Bad, wo er minutenlang warmes
Wasser über die kalten Hände laufen ließ. Vor allem Zeit gewinnen
mußte er, und dann daraufhin wirken, daß hauptsächlich sie redete.
Wieder im Zimmer, schlug er vor, am Jachthafen einen Kaffee zu
trinken. Er möge das Licht und den Geruch, wenn, wie jetzt, nach
einem Regenguß die Sonne durchbreche.
Den Gedanken mit den
erinnerten Szenen, in die man, wenn auch oft unausdrücklich, ein
Bild seiner selbst hineinprojiziere, fand sie einleuchtend und fing
an zu überlegen, wie das bei Phantasieszenen und Träumen sei.
Manchmal lehnte sie sich zurück, die verschränkten Arme über dem
Kopf, den Blick aus den halbgeschlossenen Augen aufs Meer
gerichtet, und dachte laut über Beispiele nach. Sie war so
angespannt, daß sie beim Erscheinen des Kellners zusammenfuhr und
ihm mit einem heruntergenommenen Arm eine Kaffeetasse aus der Hand
schlug. Als der Kellner dann mit ihr schäkerte und ihr alles
verzieh, hörte er sie zum zweitenmal italienisch sprechen. Sie
sprach es so mühelos wie Spanisch, nur die herben Vokale fielen aus
dem Rahmen. Mama sei Italienerin gewesen, erklärte sie, und zu
Hause sei zwanglos beides gesprochen worden.
«Wie bei Giorgio,
nur daß es da umgekehrt war. Wir haben schon oft gelacht, weil wir
nicht wußten, wofür wir uns entscheiden sollten. Sein Vorschlag
ist: bis zwei Uhr dreiundzwanzig Spanisch, danach Italienisch»,
lachte sie.
Sie war durch dieses
Zwischenspiel nicht, wie Perlmann gehofft hatte, vom Thema
abgekommen und fragte ihn jetzt, ob er für den Fall der Erinnerung
einen Grund kenne, warum die Ausdifferenzierung des hineingelesenen
Selbstbilds im Medium der Sprache erfolgen müsse. Sie selbst sei
schon lange auf der Suche nach einer entsprechenden Begründung für
den Fall von Phantasie und Wille. Es genüge ihr nicht, sagte sie
mit einem Gesicht, auf dem Perlmann plötzlich die mattsilbrige
Brille zu sehen meinte, daß es da ein eindeutiges Zusammenspiel in
der Entwicklung der betreffenden Fähigkeiten gebe. Sie möchte etwas
haben, was einen engeren, sozusagen inneren Zusammenhang zwischen
den Phänomenen sichtbar machen könnte. Ob er ihr da weiterhelfen
könne?
Perlmann dachte an
die vier widerspenstigen Sätze in Leskovs Text. Ja, das sei eine
wichtige Frage, sagte er und drehte sich zum Wasser. Unzählige Male
schon hatte er sich gewünscht, auf eine solche Frage hin zunächst
einmal eine Weile schweigen zu können – sie erst einmal ganz für
sich allein wirken zu lassen, ohne sie als eine Drohung zu
empfinden, die einem gar keine andere Wahl ließ, als sofort mit
einer Antwort aufzuwarten, oder aber sich zu entschuldigen, daß man
das nicht konnte. Jetzt, neben dieser Frau sitzend, der er sich
noch vor einer Stunde beinahe anvertraut hätte, gelang ihm, nein:
stieß ihm etwas zu, was der Erfüllung seines Wunsches, von außen
gesehen, täuschend ähnlich sah: Ihre Frage kam ihm so bedrohlich
vor, daß er nicht nur eine Leere der Unwissenheit empfand, sondern
auch ein lähmendes Entsetzen bei dem Gedanken, mit einer Antwort
weiter an dem Lügengespinst seiner falschen Identität zu stricken;
und so schwieg er in der Pose des Nachdenklichen. Beschämt und doch
auch wieder mit einem Anflug von Galgenhumor, mit dem er sich gegen
das Entsetzen wehrte, stellte er dann fest, daß es klappte: Als sei
die Stille einer unbeantworteten Frage das Natürlichste der Welt,
fing Evelyn Mistral selbst an, Antworten auf ihre Frage
auszuprobieren.
Gerade als der
Moment in Sicht kam, wo er sich dann doch hätte äußern müssen,
gingen von Levetzov und Millar auf der anderen Straßenseite vorbei.
Von Levetzov winkte, sagte etwas zu Millar, und bevor sie um die
Ecke bogen, drehten sie sich beide noch einmal um. Evelyn Mistral
strich sich das Haar aus dem Gesicht und lächelte spöttisch, als
die beiden verschwunden waren. Dann sah sie auf die Uhr und sagte,
sie müsse noch etwas arbeiten, bis zu ihrer Sitzung seien es ja nur
noch zweieinhalb Wochen, und bis dahin wolle sie die beiden
Buchkapitel, um die es gehen werde, überarbeiten.
«Glaubst du, es
reicht, wenn ich die Texte am Freitag vorher zum Kopieren
gebe?»
Perlmann
nickte.
Sie werde in der
Sitzung sicher furchtbar nervös sein, meinte sie.«In einem derart
illustren Kreis!»
Als Perlmann
nachher, fast zur selben Zeit wie am Vortag, den Glasperlenvorhang
teilte und die Trattoria betrat, begann der Regen auf das Glasdach
zu trommeln. Die Wirtsleute begrüßten ihn wie einen alten
Bekannten, brachten ihm eine Bohnensuppe und danach Huhn, und als
Sandra später den Kaffee vor ihn hinstellte, kam der Wirt und legte
die Chronik dazu, als sei das ein seit Jahren eingeübtes
Ritual.
Perlmann hatte sich
während des Essens vorgestellt, wie Evelyn Mistral und Giorgio
Silvestri zusammen redeten, spielerisch die Sprache wechselnd und
scherzend, und es hatte ihm einen Stich gegeben. Jetzt schob er
diese Vorstellung beiseite und schlug das Jahr auf, in dem er die
Ausbildung zum Pianisten abgebrochen hatte.
In den ersten Tagen
des Jahres war Albert Camus tödlich verunglückt, Perlmann erinnerte
sich dunkel an die Verständnislosigkeit, auf die seine Aufregung zu
Hause gestoßen war. Erst Jahre später, als er La Peste zum erstenmal ganz las, ging ihm auf,
wieviel Unverstandenes in der damaligen Aufregung gelegen hatte und
wie sehr sie doch auch etwas von einer Mode an sich gehabt
hatte.
Er blätterte weiter.
Mit der Zündung der ersten Plutoniumbombe in der Sahara war
Frankreich in den Kreis der Atommächte eingetreten. Leonid
Breschnew wurde neuer sowjetischer Staatspräsident. Der Erfolg von
Fellinis La dolce vita in Cannes. Anita
Ekberg im Fontane di Trevi. Die Israelis entführten Eichmann. Vor
allen Dingen sei das ungesetzlich, hatte der Vater gesagt. Im
Zuchthaus von St.Quentin wurde Caryl Chessman hingerichtet, nachdem
die Vollstreckung des Todesurteils achtmal aufgeschoben worden war.
Die Olympischen Spiele in Rom; aber nicht dort war Armin Hary die
10,0 gelaufen, sondern vorher in Zürich.
Für den September
brachte die Chronik außer dem italienischen Medaillenspiegel kaum
etwas. In jenem Monat war seine Entscheidung gefallen, an einem der
letzten Tage, das genaue Datum wußte er nicht mehr. Er sah den
kahlen Raum im Konservatorium vor sich, und jener folgenreiche
Moment war in der Erinnerung auch heute, gut dreißig Jahre später,
noch sehr lebendig, gegenwärtig bis in alle Einzelheiten, als sei
er damals mit aller Macht ins Gedächtnis eingestanzt
worden.
Es war am frühen
Nachmittag eines regnerischen Tages gewesen, bei einem Licht, bei
dem die Zeit stillzustehen schien und doch keine Gegenwart besaß,
oder nur eine tote Gegenwart. Er hatte wieder einmal an Chopins
Polonaise in As-Dur gearbeitet. Sie war eine der ersten
Kompositionen für Klavier, die er kennengelernt hatte, und für
lange Zeit war sie sein Lieblingsstück gewesen. Inzwischen jedoch
war sie auch ein gehaßtes Stück, denn sie hatte eine Angststelle,
an der er fast nie sicher vorbeikam. Er hatte sie zahllose Male
durchbuchstabiert, Finger für Finger, aber es war, als habe das
motorische Gedächtnis für diese eine Stelle aus unerfindlichen
Gründen eine Sperre, so daß die Befehle vom Gehirn an die Finger
nicht entschieden und eindeutig waren, sondern zögerlich und
verwischt.
An jenem Nachmittag
war die fragliche Passage zu seinem Erstaunen gleich beim erstenmal
glattgegangen. Er hatte sich gefreut, war aber aus Erfahrung
zunächst skeptisch geblieben. Er beeilte sich, diesen Erfolg zu
wiederholen und den Bewegungsablauf endlich ein für allemal
einzuritzen. Auch beim zweiten- und drittenmal lief es, und beim
viertenmal fühlte es sich beinahe schon an wie eine gut verankerte
Routine. Er hatte das Gefühl, es endlich geschafft zu haben, und
ging ins Foyer hinunter, um sich eine Zigarette zu
gönnen.
Als er, wieder am
Flügel, seine neu gewonnene Sicherheit überprüfen wollte,
verhedderte er sich sofort. Er probierte es noch ein paarmal, aber
es ging überhaupt nichts mehr. Da zündete er sich, vor den Tasten
sitzend, erneut eine Zigarette an, was strikt verboten war, und
rauchte sie ruhig zu Ende, die Schachtel als Aschenbecher
benutzend. Dann schloß er behutsam den Deckel über der Tastatur und
öffnete das Fenster. Bevor er hinausging, betrachtete er das kleine
Bild von Paul Klee, das, weil es das einzige Bild war, die Kahlheit
des Raumes nur noch betonte. Es lag direkt in der Blickrichtung des
Spielenden. Er würde es vermissen.
Es war nicht so,
dachte Perlmann, daß ihm damals einfach der Geduldsfaden gerissen
war. Er war ganz ruhig, ohne inneren Aufruhr, den Korridor entlang
zum Zimmer von Bela Szabo gegangen und später die Treppe hinauf zum
Direktor. Auch wäre es irreführend zu sagen, dachte er, daß er die
Ausbildung wegen der Niederlage bei der As-Dur-Polonaise
abgebrochen hatte. Was an jenem Nachmittag geschah, war einfach,
daß ein kompliziertes inneres Kräftespiel, das seit vielen Monaten
im Gange war – bestimmt von ganz verschiedenartigen Erfahrungen,
die er mit sich als Pianisten machte, und von Zweifeln sehr
unterschiedlicher Art -, zum Stillstand kam in einer endgültigen,
unwiderruflichen Klarheit über die Grenzen seiner Begabung. Wenn er
sich sagte, daß in jenem Augenblick die Entscheidung fiel, so
konnte, schien es ihm, damit nichts anderes gemeint sein als das
Eintreten dieses Stillstands, das Aufhören des inneren Schwankens.
Es gab darüber hinaus nicht noch eine innere Handlung des
Entscheidens, die hinzugekommen wäre und zwischen dem inneren
Zustand und den nachfolgenden äußeren Handlungen vermittelt
hätte.
Bela Szabo hatte
seinen Entschluß für einen Fehler gehalten, zumindest für verfrüht.
Er war darin einer Meinung mit den Eltern gewesen, die es schade
fanden und eigentlich auch undankbar, daß er seine künstlerische
Zukunft, in die sie so viel investiert hatten, einfach wegwarf.
Aber er fühlte sich vollkommen sicher in seinem Urteil und war
nicht umzustimmen. Er spürte es in den Händen, in den Armen, und
manchmal berührte es ihn sogar wie eine Gewißheit des gesamten
Körpers: Zu mehr als zum Klavierlehrer würde es nie und nimmer
reichen. Er war stolz darauf, zu einer derart nüchternen Einsicht
fähig zu sein, und setzte alles daran, seinen Entschluß nicht zu
einem Drama werden zu lassen. Gleichwohl war eine Wunde geblieben,
die nie ganz vernarbt war und die er als Quelle persönlicher
Unsicherheit empfand.
Nach dem Abbruch
hatte er mehrere Jahre lang keinen Ton gespielt und keinen
Konzertsaal betreten. Erst Agnes hatte ihn wieder bewegen können zu
spielen. Sie kauften einen Flügel, und nach und nach fand er wieder
in Chopin hinein, der ursprünglich den Wunsch in ihm geweckt hatte,
Klavierspielen zu lernen. Die Polonaise in As-Dur freilich
versuchte er nie wieder. Nach Agnes’ Tod dann mied er den Flügel.
Er hatte Angst, die Töne würden alle Dämme brechen und er würde
kitschig spielen. Das war etwas, was er nicht ertragen hätte, nicht
einmal, wenn er mit sich allein war.
Perlmann gab Sandra
ein großes Trinkgeld, als sie ihm die Zigaretten brachte, die sie
an der Piazza Veneto geholt hatte. Dann blätterte er weiter.
Chruschtschow, der in der UNO mit dem Schuh auf den Tisch klopfte.
Begierig las er den Artikel über seine Forderungen und den
Mißerfolg seiner Reise. Und die nächsten zwei Seiten, die ganz John
F. Kennedys Wahl zum Präsidenten gewidmet waren, verschlang er, als
stünden darin Offenbarungen über sein eigenes Leben.
Als sich das Lokal
zu füllen begann, sah er kaum auf, sondern wechselte nur verärgert
auf die andere Seite des Tischs, so daß er jetzt die Wand vor sich
hatte. Mit größter Aufmerksamkeit las er jeden einzelnen Namen auf
Kennedys Kabinettsliste, und dann ging es weiter ins nächste Jahr:
Gagarin im Weltraum; kubanische Invasion in der Schweinebucht;
Mauerbau in Berlin.
Sein Leben entlang
der Weltgeschichte noch einmal aufrollen: Es war, dachte er, wie
ein Aufwachen. Mit jeder Seite wuchs das Bedürfnis, sich zu
vergewissern, was in all den Jahren in der Welt geschehen war, in
denen er vor allem mit sich selbst beschäftigt gewesen war – damit,
durch Arbeit seine Angst vor dem Mißlingen des Lebens zu bannen.
Mitten im Gerede und Gelächter von den anderen Tischen kam es ihm
vor, als sei er als Gefangener dieser Anstrengung sozusagen
abwesend gewesen und kehre erst jetzt zurück. Es war wie ein
Eintritt in die wirkliche Welt. Es hätte eine befreiende, eine
beglückende Erfahrung sein können, wäre da nicht, keine zwei
Kilometer entfernt, das Hotel mit der Freitreppe, den gemalten
Fensterfassungen und den schräg gewachsenen Pinien
gewesen.
Erschrocken sah
Perlmann auf die Uhr: Zehn nach neun. Mit soviel Verspätung konnte
er unmöglich zum Abendessen erscheinen. Trotzdem drängte er jetzt
darauf zu zahlen und ging mit hastigen Schritten zum Hotel, das er
zum erstenmal durch den Hintereingang betrat. Er hatte gerade leise
die Tür geschlossen, da kam Giovanni, einen großen Karton unter dem
Arm, um die Ecke. «Buona sera», sagte
er leutselig und deutete eine Verbeugung an, bevor er sich in
Bewegung setzte. Heute hatte er sein Gesicht gut in der Gewalt, es
war keine Spur vom gestrigen Grinsen darin zu entdecken. Aber
Perlmann kam es vor, als lache er gewissermaßen hinter seinem
Gesicht das Lachen eines Dienstboten, der seinen Herrn bei einer
unrühmlichen Tat ertappt hat.
Perlmann hatte sich
darauf gefreut, oben in den schummrig beleuchteten Flur einzubiegen
und in seinem Mittelteil, unter der Lampe ohne Licht, tastend nach
dem Schlüsselloch zu suchen. Und so war er unangenehm überrascht,
als alle Lampen mit ungewohnter Helligkeit brannten. Den Schlüssel
in der Hand, ging er im Zimmer eine Weile auf und ab, bevor er sich
dann zum Geräteschrank am Ende des Korridors schlich und eine
Leiter herausholte. Das Taschentuch um die Finger gewickelt,
schraubte er alle neuen Birnen halb heraus, so daß wieder genau
dieselbe Beleuchtung herrschte wie vorher.
Morgen würde es mehr
als heute um Millars ersten Text gehen. Widerwillig bückte er sich
zum runden Tisch hinunter und blätterte ein bißchen. Dann ging er
ins Bad und nahm eine halbe Schlaftablette aus der Packung. Er
brach sie entzwei und spülte nach einigem Zögern den größer
geratenen Teil hinunter.
Damals, als er im
Konservatorium aufgehört hatte, war doch auch die Sache mit den
Notstandsgesetzen gewesen, dachte er, als er im Dunkeln lag und dem
immer noch regen Verkehr lauschte. Er hatte die Demonstrationen von
der anderen Straßenseite aus beobachtet. Er spürte, daß er hätte
hinübergehen sollen. Aber da waren all diese Menschen, und die
lauten Megaphone, und die rhythmischen Bewegungen der Menge, die
einem das Gefühl gaben, den eigenen Willen zu verlieren. Und so war
es bis heute nie zu einem politischen Engagement gekommen,
wenngleich er auf der inneren Bühne stets für sehr klare und nicht
selten radikale Positionen focht. Daß er im spanischen
Anarcho-Syndikalismus eine Weile lang fast so gut zu Hause gewesen
war wie ein Historiker, hatte nicht einmal Agnes
gewußt.
In dieser Nacht
erwachte er dreimal, und trotzdem vermochte er sich der bleiernen
Macht dieses verfluchten Worts nicht zu entwinden. Es war das Wort
Meisterklasse, ein Wort, vor dem beide
Eltern in Ehrfurcht zu erstarren pflegten, als sei es einer der
Namen Gottes. Im Konservatorium in die Meisterklasse aufgenommen zu
werden, die von einem großen Namen geleitet wurde: Das war in ihren
Augen das Höchste, was es gab, und sie wünschten sich für ihren
einzigen Sohn nichts sehnlicher als diese Weihe. Im Traum, der über
die Unterbrechungen des Erwachens hinweg an ihm haftenblieb, sah
Perlmann seine Eltern nicht, und er hörte sie auch das Wort nicht
aussprechen. Vielmehr war es so, daß die Eltern da waren, und auch
das Wort, und das Wort war in riesigen Lettern der Beklommenheit in
ihr andachtsvolles Schweigen hineingeschnitten.
Erst als er am
Morgen schon minutenlang unter der Dusche gestanden hatte, gelang
ihm eine Empfindung des Hohns, welche die Macht des Worts
schließlich zu brechen vermochte.