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Millar sah auf die Uhr und erhob sich, freilich ohne ihm entgegenzugehen. Er trug zu der grauen Hose einen dunkelblauen Zweireiher und über dem fein gestreiften Hemd eine matrosenblaue Krawatte, auf die mit goldgelbem Faden ein stilisierter Anker gestickt war. Sein Aussehen und seine straffe Körperhaltung erinnerten an einen Marineoffizier, ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, daß sein kantiges Gesicht mit dem energischen Kinn gebräunt war, als sei er wochenlang auf See gewesen. Wie er da mit seinen breiten Schultern am Tisch stand, während die Kollegen sitzengeblieben waren, wirkte er wie der Chef des Ganzen, der zur Begrüßung eines Nachzüglers aufgestanden war.
«Good to see you, Phil», sagte er mit einem Lächeln, das seine großen, weißen Zähne sichtbar werden ließ. Sein Händedruck war so kurz und kräftig, daß in Perlmann die Empfindung vollständiger Passivität entstand.
«Yes», murmelte er und ärgerte sich über seine alberne Reaktion. Wie damals in Boston waren es die stahlblauen Augen hinter der blitzenden Brille, die ihn innerlich zum Schüler schrumpfen ließen, zum kleinen Pimpf, der sich beklommen bewußt war, daß er sich vor dem Lehrer erst noch bewähren mußte. Da hatte Millar einen Nachtflug hinter sich und eine Arbeitssitzung mit dem italienischen Kollegen, und trotzdem blickten diese Augen so ausgeschlafen, wach und ruhig, als sei er gerade eben aufgestanden. Fit, dachte Perlmann und sah das lachende Gesicht von Agnes, wenn er seinem unbegründeten Haß auf dieses Wort wieder einmal freien Lauf gelassen hatte.
Während die anderen schon vor den leeren Tellern saßen, löffelte Perlmann hastig seine Suppe. Er war froh, daß zwischen ihm und Millar ein Platz für Giorgio Silvestri freigeblieben war. Irgend etwas Unangenehmes war da noch mit Millar, das spürte er plötzlich ganz deutlich; ein Versäumnis, das ihm aber nicht einfallen wollte. Erst als er hörte, wie von Levetzov sich bei Millar für einen übersandten Text bedankte, erinnerte er sich an das Päckchen mit den vier Sonderdrukken, das im August aus New York angekommen war, versehen mit dem Stempel FIRST CLASS MAIL, der Perlmann stets an Diplomatenpost denken ließ, die sich zu ihm verirrt hatte.
Das Päckchen hatte auf dem Schreibtisch gelegen, als er nachmittags, nach Frau Hartwigs Dienstschluß, ins Büro gegangen war, ohne Ziel, nur um sich zu vergewissern, daß er noch zur Universität gehörte. Zu Hause hatte er die Sachen sofort in den Schrank gestopft, aus dem ihm jedesmal ein Berg von Sonderdrucken entgegenkam, von denen regelmäßig einige zu Boden fielen. Am Anfang, als Assistent und Privatdozent, hatte er auf jeden Sonderdruck mit einem Brief reagiert, der oft die Länge einer Rezension hatte. Es war eine umfängliche Korrespondenz entstanden, denn er hatte nie gewußt, wann ein solcher Briefwechsel zu Ende war, und hatte es nicht fertig gebracht, den Brief des anderen den letzten sein zu lassen. Die anderen fühlten sich ernst genommen, auch geschmeichelt, es war für sie ein Anlaß, ihre Arbeit weiter zu kommentieren, und nicht selten fand Perlmann in einem späteren Sonderdruck den Hinweis, daß diese neue Arbeit auf eine besonders anregende Korrespondenz mit ihm zurückgehe. Darüber war jeweils viel Zeit vergangen, er war sich wie der selbsternannte und zugleich zwangsverpflichtete Trainingspartner der anderen vorgekommen, der selbst nicht vorankam. Dann, mit den Verpflichtungen als Professor, waren diese weitläufigen Briefwechsel zeitlich unmöglich geworden. Er hatte keinen Mittelweg gefunden und war von einem Tag zum anderen dazu übergegangen, einfach nicht mehr zu reagieren.
Er selbst hatte nie eigene Sonderdrucke verschickt; nur auf Anfrage hin hatte die Sekretärin einen vom Stapel genommen. Er hatte nie glauben können – wirklich glauben -, daß andere lesen wollten, was er schrieb. Der Gedanke, daß sich jemand mit ihm beschäftigen könnte, war ihm peinlich. Und diese Empfindung war, paradoxerweise, durchsetzt mit einer Gleichgültigkeit, die einem Sakrileg gleichkam, weil sie die gesamte akademische Welt in Frage stellte. Dabei war es nicht Arroganz, da war er sich ganz sicher. Und die Tatsache, daß die anderen seine Sachen ganz offensichtlich lasen und sein Ansehen größer wurde, änderte an dieser Empfindung nicht das geringste. Jedesmal, wenn er den Schrank öffnete, kam ihm der Berg von Ungelesenem, der ihm da entgegenstürzte, wie eine Zeitbombe vor, auch wenn er nicht hätte sagen können, worin die Explosion bestehen würde.
«Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, Sie zu dem Preis zu beglückwünschen», sagte von Levetzov zu Perlmann, als der Kellner die Suppenteller abgeräumt hatte. Es klang, dachte Perlmann, als habe er einen sehr langen Anlauf für diese Äußerung gebraucht, einen Anlauf, der schon oben in seinem Zimmer begonnen hatte, oder sogar schon auf der Reise. Von Levetzov fächelte den Rauch weg, der von Laura Sand her auf ihn zutrieb, und wandte sich dann an Evelyn Mistral.
«Sie müssen nämlich wissen, daß unser Freund hier kürzlich einen Preis gewonnen hat, der die höchste Anerkennung für wissenschaftliche Leistungen darstellt, die es in unserem Lande gibt; es ist fast schon ein kleiner Nobelpreis. »
«Weil...», warf Millar ein.
«Doch, doch», fuhr von Levetzov fort, und nachdem er in Ruges Gesicht vergeblich nach einer Bestätigung gesucht hatte, fügte er mit süffisantem Lächeln hinzu:«Man wundert sich zwar manchmal ein bißchen, wer den Preis bekommt, aber ich bin sicher, daß die Entscheidung in diesem Fall gerechtfertigt war. »
Perlmann umfaßte sein Glas mit beiden Händen und betrachtete das Kreisen des Mineralwassers so konzentriert, als beobachte er im Labor den Ausgang eines Experiments. Dasselbe hatte er getan, während damals, bei der Preisverleihung, seine Leistungen in einer Rede gewürdigt worden waren. Zwei Wochen nach Agnes’ Tod hatte er dort auch unter Kronleuchtern gesessen, gefühllos und taub für alles, froh, daß von seiner Seite keine Rede erwartet wurde.
Bestimmt sind auch Sie bald dran. Der Satz hatte sich in Perlmann bereits geformt; doch dann gelang es ihm zu seiner Überraschung, ihn nicht auszusprechen. Ein kleiner, ein winziger Schritt in Richtung auf das Ideal der Unbeflissenheit. Plötzlich ging es ihm gut, und seine Stimme klang fast aufgeräumt, als er zu Evelyn Mistral sagte:
«Solche Entscheidungen haben stets auch etwas Zufälliges an sich. Das ist in Spanien gewiß nicht anders, oder?»
Da sei es genauso, sagte sie. Milde ausgedrückt. Was sie am meisten ärgere, sei, daß oft Professoren ausgezeichnet würden, die im Grunde längst aufgehört hätten zu arbeiten, nur noch von ihren vergangenen Meriten zehrten und im Schutze einer vor Jahren entstandenen Reputation faulenzten.
«Du wärst entsetzt, Philipp, wenn du das sähest. Das sind Leute, die überhaupt nichts mehr leisten!»»
Auf ihrer Stirn, direkt über der Nase, hatte sich ein schwacher rötlicher Streifen gebildet. Perlmann hatte ihr you als du gehört, und die Spannung zwischen dieser Vertraulichkeit und ihrer Empörung, die in ihn hineinschnitt wie ein großes, scharfes Messer, war kaum auszuhalten. Warum habe ich bloß gedacht, sie sei anders. Wegen des roten Elefanten?
Er war froh über das Getue, das von Levetzov jetzt wegen des Essens machte, um zu zeigen, daß er ein Gourmet sei. Die Stille, die danach eintrat und in der man nur noch die Geräusche des Bestecks und die Stimmen von den Nebentischen hörte, nahm er als ein Zeichen, daß er von nun an nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.
«Übrigens, Phil», sagte Millar in die Stille hinein,«die Sache mit dem Preis wundert mich nicht. Am Tag vor der Abreise war ich noch bei Bill in Princeton – Sie kennen ja Bill Saunders -, und der erzählte mir, daß demnächst eine Einladung für ein Gastsemester an Sie ergehen wird. Die wissen dort schon, was sie tun», fügte er mit einem Lächeln hinzu, in dem sich, wie Perlmann schien, die übliche Hochachtung für Princeton mit einem mühsam ferngehaltenen und dennoch genossenen Zweifel an der Weisheit dieser ganz besonderen Entscheidung mischte.
Obwohl er das Fischmesser aus lauter Verzweiflung so verkrampft hielt, als müsse er damit ein Stück zähes, sehniges Fleisch schneiden, war Perlmann stolz, daß es ihm gelang, Millar nicht anzusehen. Nichts sagen. Die Stille aushalten.
«Bill war übrigens ein bißchen sauer, daß Sie ihn nicht ebenfalls eingeladen haben», sagte Millar schließlich, und dadurch, daß in seiner Stimme eine Irritation über Perlmanns ausgebliebene Reaktion mitschwang, klang es fast, als sei er selbst Bill Saunders, der sich beklagte.
«Ach, wirklich?»sagte Perlmann und sah Millar einen Moment lang an. Er war glücklich über den Ton milder Ironie, der ihm gelungen war, und jetzt blickte er Millar ein zweites Mal an, länger und ganz ruhig. Nicht stahlblau sind die Augen, sondern porzellanblau. Auf Millars Grinsen, dachte er, lag ein Schatten der Unsicherheit, und daß er jetzt forsch und geschwätzig über Princeton im allgemeinen zu reden begann, schien ihm diesen Eindruck zu bestätigen. Aber statt eines Triumphgefühls entstand in Perlmann plötzlich ein Vakuum, und dann stürzten die Empfindungen eines Verfolgten auf ihn ein. Warum lassen sie mich nicht in Ruhe. Während er im Zeitlupentempo Gräten entfernte, rang er den Impuls nieder aufzustehen und wegzulaufen. Erleichtert griff er zu, als er spürte, wie ihn Millars Sprache auch jetzt wieder wütend zu machen begann. Gierig stürzte er sich hinein in seine Wut.
Millar ließ sich in seine Sätze, vor allem in die idiomatischen, kolloquialen Wendungen, mit einem Genuß hineinfallen, der Perlmann abstieß. Suhlen. Er suhlt sich regelrecht in seiner Sprache. Perlmann haßte Dialekte, und er haßte sie, weil sie oft genau so gesprochen wurden, mit derselben stampfenden Anmaßung, mit der Millar sein Yankee-Amerikanisch sprach. Am allerschlimmsten fand er das bei dem Platt, mit dem er aufgewachsen war. Daß ihm seine Eltern zum Schluß sehr fremd geworden waren, hatte viel damit zu tun gehabt. Je älter sie wurden, desto trotziger hatten sie darauf bestanden, mit ihm Platt zu sprechen, und je deutlicher er diesen Trotz gespürt hatte, desto entschiedener hatte er mit ihnen Hochdeutsch gesprochen. Es war ein stummer Kampf mit Worten gewesen. Darüber reden konnte man nicht. Was hätte es genützt, ihnen zu sagen, daß ihre Ansichten immer starrer und dogmatischer wurden, und daß das viel damit zu tun hatte, daß sie sich immer mehr einfach von den Wendungen und Metaphern des Dialekts leiten ließen, und von den Vorurteilen, die sich darin kristallisierten.
Der Mann mit den aufgekrempelten Jackenärmeln, dem offenen Hemd und dem bleichen, unrasierten Gesicht, der sich jetzt an der Tür umsah und dann auf sie zukam, mußte Giorgio Silvestri sein. Als Perlmann ihm die Hand gab und die gelassene, ironische Wachheit in seinen dunklen Augen sah, die so ganz anders war als Millars sprungbereite Wachheit, war er sofort von ihm eingenommen. Es kam ihm vor, als sei mit diesem mageren, zerbrechlich erscheinenden Italiener, der abgerissen wirkte, bis man seine Kleider aus der Nähe sah, jemand angekommen, der ihm helfen konnte. Und als er dann als erstes eine Gauloise ansteckte und Millar den Rauch ins Gesicht blies, war Perlmann sich seiner Sache ganz sicher. Einzig daß er auf Evelyn Mistrals Begrüßungsworte mit fließendem, akzentfreiem Spanisch reagierte und sich damit ihr strahlendes Lachen verdiente, war ein bißchen störend.
Sein Englisch war nicht weniger fließend, wenn auch nicht akzentfrei. Von Laura Sand, die ihn unverwandt ansah, darauf angesprochen, erzählte er von den zwei Jahren, die er auf einer psychiatrischen Station in Oakland bei San Francisco gearbeitet hatte.
«East Oakland», sagte er zu Millar gewandt, und fuhr, als er dessen säuerliches, von Stirnrunzeln begleitetes Lächeln sah, fort:«Danach hatte ich genug. Nicht von den Patienten, die schreiben mir heute noch. Sondern von dem gnadenlosen, eigentlich muß man sagen: barbarischen amerikanischen Gesundheitssystem. »
Millar wich der erneuten Rauchwolke aus, als bestehe sie aus Giftgas.
«Well», sagte er schließlich, unterdrückte, was er auf der Zunge hatte, und widmete sich seinem Nachtisch.
Silvestri bestellte beim Kellner, den er wie einen alten Bekannten behandelte, sobald er seinen Florentiner Akzent hörte, ein besonderes Dessert und einen dreifachen Espresso. Perlmann machte darüber einen Scherz, und dabei passierte es: Er erlag wieder einmal seinem Berührungstick.
Seit Jahren kämpfte er gegen diese Angewohnheit, Leute, besonders solche, die er gerade erst kennengelernt hatte, zu berühren, wenn er sich mit einem vereinnahmenden Scherz oder einer persönlichen Bemerkung an sie wandte. Wie jetzt bei Silvestri legte er ihnen am Tisch die Hand auf den Unterarm, und im Stehen geschah es ihm oft genug, daß er plötzlich seinen Arm um ihre Schulter gelegt fand. Es gab Leute, die darin einfach ein kontaktfreudiges, liebenswertes Naturell sahen, und andere, die sein Verhalten unangenehm berührte. Seine Berührungssucht machte keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, und bei Frauen kam es nicht selten zu Mißverständnissen. Die Gegenwart von Agnes hatte geholfen, aber nicht immer, und wenn sie Zeuge geworden war, hatte man an ihrem Gesicht ablesen können, wie rätselhaft und auch unheimlich sie es fand, daß gerade er, der am liebsten am Rande großer, leerer Plätze saß, diesen Tick hatte. Ihm selbst war es nicht weniger rätselhaft, und er empfand den Zwang jedesmal als einen Riß, der mitten durch ihn hindurchging.
 
Es war von Levetzovs Idee, nach dem Essen gemeinsam in den Salon hinüberzugehen, wo die ockerfarbenen Sessel standen. Brian Millar, der als letzter kam, weil er den kleinen Raum inspiziert hatte, in dem die runden Spieltische mit dem grünen Filz standen, blieb stehen und ging dann auf den Flügel zu.
«Ein Grotrian Steinweg», sagte er,«den ziehe ich jedem Steinway vor. »Er schlug ein paar Töne an und klappte dann den Deckel wieder zu.«Ein anderes Mal», lächelte er, als von Levetzov ihn aufforderte, etwas zu spielen.
Perlmann spürte, wie sein Atem plötzlich schwerer ging. Jetzt kann er auch das noch. Er bat den Kellner, der die Getränke brachte, ein Fenster zu öffnen.
Von Levetzov hob sein Glas.«Da es sonst niemand tut, möchte ich hiermit alle begrüßen und auf gute Zusammenarbeit anstoßen», sagte er mit einem Seitenblick auf Perlmann, der spürte, wie sich der Schweiß seiner Hände mit dem Kondenswasser am Glas vermischte.«Und dort oben werden wir also arbeiten», fuhr er fort und zeigte auf die Tür der Veranda, zu der drei Stufen hinaufführten.«Ein perfekter Raum für unsere Zwecke, ich habe mir vorhin ein Bild gemacht. Veranda Marconi wird er genannt; nach Guglielmo Marconi, einem Pionier der Radiotechnik, wie die Tafel draußen sagt. »
Perlmann, der die Tafel nicht bemerkt hatte, blickte auf seine neuen Schuhe hinunter, die ihm weh taten. Das schmerzhafte Drükken, das für immer mit Konfirmation und harten Kirchenbänken verknüpft bleiben würde, verschmolz mit der heißen Empfindung der Scham über die vergessene Begrüßungsrede und mit einem sich auftürmenden, hilflosen Ärger über von Levetzovs Gebaren als Reiseführer.
«Jetzt fehlt nur noch Vasilij Leskov», sagte Laura Sand, und es kam Perlmann vor, als habe sie seine Gedanken gelesen und versuche mit diesem Themenwechsel zu verhindern, daß die anderen sich erhoben, um die Veranda in Augenschein zu nehmen.«Wann kommt er? Und überhaupt: Wer ist er?»
Er sei ein Sprachpsychologe ohne feste Anstellung an der Universität, sagte Perlmann. Nur hin und wieder ein Lehrauftrag. Womit er sich finanziell über Wasser halte, könne er nicht sagen. Beeindruckend sei, wie gut Leskov beschreiben könne, viel besser als die meisten anderen, die im Fach arbeiteten. Er bringe einem zu Bewußtsein, wie sehr es vor aller Theorie darauf ankomme, unsere Erfahrungen mit Sprache ganz genau zu beschreiben. Zwar betriebe er eine Art altmodischer introspektiver Psychologie, mit der man ja heutzutage keinen Blumentopf mehr gewinnen könne. Aber gerade das habe er, Perlmann, in dem Gespräch damals in St. Petersburg interessant gefunden.
«Sprechen Sie denn auch Russisch?»fragte von Levetzov irritiert. Auf diese Frage war Perlmann nicht gefaßt gewesen, aber er zögerte keinen Moment.
«Nein, nein», sagte er und brachte sogar ein bedauerndes Lächeln zustande,«kein Wort. Er aber kann perfekt Deutsch. Seine Großmutter war eine Deutsche und redete mit ihm nur in ihrer Muttersprache, als er nach dem Tod des Vaters einige Jahre bei ihr wohnte. Sein Englisch sei ziemlich holprig, sagte er mir; aber er wäre hier sicher zurechtgekommen.»
Perlmann hatte keine Ahnung, warum er gelogen hatte, und es war ihm unheimlich, mit welcher Zielsicherheit es geschehen war. Evelyn Mistral, zu der er nur zögernd hinüberblickte, betrachtete ihn mit einem Gesicht, in dem Nachdenklichkeit und Schalkhaftigkeit abwechselten. Jetzt sind wir Komplizen, dachte er und wußte nicht, ob er sich darüber freute oder ob das Gefühl der soeben entstandenen Verwundbarkeit überwog.
«Leider ist ihm die Ausreisegenehmigung verweigert worden», schloß er und griff mit einer Erleichterung, die ihn erstaunte, zu den Zigaretten.
«Jetzt wollen wir doch noch einen Blick in die Veranda werfen», sagte Achim Ruge, als das Gespräch über die Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion versandete und Millar gähnend auf die Uhr sah.
Perlmann ging die drei Stufen als letzter hinauf. Wie wird es sein, wenn ich sie an jenem Tag herunterkomme.
Ruge hatte sich vorn in den Sessel mit der hohen Lehne gesetzt, dessen gestickte Polster an Gobelins erinnerten.«Wenn einer, der hier sitzt, nichts zu sagen hat, ist er selbst schuld», sagte er mit einem glucksenden Lachen und löste damit ein allgemeines Gelächter aus. Perlmann gab vor, die Wappen mit den Zotteln zu betrachten, welche die Wand entlangliefen.
«Was also hast du über Sprache zu sagen, Achim?»hörte er Evelyn Mistral fragen, die eine strenge Lehrerin zu imitieren suchte.«Oder hast du etwa vergessen, die Hausaufgaben zu machen?»
Erneutes Gelächter. Nur Laura Sand lachte nicht mit, sondern untersuchte die alte Truhe in der Ecke. Jetzt überboten sich die anderen mit Karikaturen eines Kreuzverhörs, und Ruge spielte mit wachsendem Genuß den verschlagenen Idioten, der sich hinter einer Fassade von Verschüchterung versteckt. Perlmann schlug das Herz bis zum Hals. Als Silvestri eine trockene Bemerkung machte und dann die Zigarette mit einer blitzartigen Bewegung der Zunge im Mund verschwinden ließ, überschlug sich Evelyn Mistrals helle Stimme vor Lachen. Perlmann wartete nicht mehr ab, was Millar, der gerade Luft holte, sagen würde. Wie betäubt verließ er den Raum, ließ sich von Giovanni den Zimmerschlüssel geben und hastete humpelnd und mit schmerzenden Zehen die Treppe hinauf.
 
Er legte die Kette vor, zog im Dunkeln die schmerzenden Schuhe aus und ließ sich aufs Bett fallen. Sofort begannen die Sätze im Kopf zu kreisen, Sätze, die beim Abendessen und vorhin in der Veranda gefallen waren, Sätze über den Preis, über Princeton, über faule spanische Professoren, über versäumte Hausaufgaben. Sie kehrten immer wieder, diese Sätze, aufdringlich wie ein nicht enden wollendes, nie abflachendes Echo.
Perlmann kannte es nur zu gut, dieses quälende Kreisen von Sätzen, diese Sucht, sich an einmal geäußerte Sätze zu klammern, und jedesmal, wenn er wieder in diesen Sog geriet, kam es ihm vor, als habe er den größten Teil seines Lebens damit zugebracht, auf diese Weise Sätzen nachzuhorchen, die ihn verletzt oder geängstigt hatten. Agnes hatte darunter gelitten, daß er manchmal nach Tagen, sogar Wochen, plötzlich mit einem solchen Satz kam und ihm ein Gewicht, eine Dramatik beimaß, die er nie gehabt hatte – einfach weil er nun so lange an ihm gekaut hatte, auf Spaziergängen oder während schlafloser Stunden. Oftmals konnte sie sich gar nicht mehr daran erinnern, etwas Derartiges gesagt zu haben. Das wiederum kam ihm vor wie Hohn und machte ihn auf hilflose Art wütend. Er war verbittert, fühlte sich von allen allein gelassen und verkroch sich. Agnes erklärte ihm, wie gefährlich dieses Satzgedächtnis sei, wie gehemmt es einen machen konnte, so daß man sich gar nicht mehr traue, spontane Dinge zu sagen, wenn das Gesagte dann auf die Goldwaage gelegt und einem später vorgehalten werde wie ein Verbrechen. Er hatte das eingesehen, für dieses Mal hatte die Einsicht geholfen. Doch beim nächstenmal war er von neuem in die Falle gelaufen.
Er richtete sich auf und machte Licht. Morgen früh bei der ersten Arbeitssitzung in der Veranda würde er Regie führen müssen. Er mußte das mit Geschick und Übersicht tun, um zu erreichen, daß er mit seinem Beitrag möglichst spät drankam. Dazu brauchte er einen klaren, ausgeschlafenen Kopf. Doch mit dem Dunkel würden auch die Sätze wiederkommen.
Er ging ins Bad und sah dabei den langen Blick vor sich, den ihm der Arzt zugeworfen hatte, bevor er das Rezept für die zwanzig starken Schlaftabletten ausschrieb. Er ist ein patenter Mann und ein guter Arzt; aber dafür, daβ einer nicht einschlafen kann, hat er kein Verständnis, das kennt er nicht. Perlmann nahm eine halbe Tablette, mehr auf keinen Fall. Dann stellte er den Wecker auf sieben. Die Sitzung sollte um neun beginnen. Ruge, Millar und von Levetzov hatten sich in dem scherzhaften Geplänkel, das es zu dieser Frage gegeben hatte, gegen die anderen durchgesetzt, obwohl diese Stunde für Millars biologische Uhr noch mitten in der Nacht war.
Perlmann löschte das Licht und wartete auf die Wirkung der Tablette. Unten auf der Uferstraße fuhr ein Motorrad mit Vollgas vorbei. Sonst war es still. Plötzlich schneuzte sich Ruge im Nebenzimmer, drei Trompetenstöße. Es war, als gäbe es überhaupt keine Wand zwischen ihnen, Ruge schien mit seiner körperlichen Gegenwart auch Perlmanns Zimmer ganz auszufüllen. Schlagartig stand Perlmann wieder alles vor Augen: der spiegelbildliche Schreibtisch, dahinter Ruge mit seinem Bauernschädel und den wäßrig grauen Augen hinter der geflickten Brille, und auf der anderen Seite Millar mit seinem Bach.
Er stand auf und lauschte mit dem Ohr an der Wand. Nichts. Wieder im Bett, ging er noch einmal die möglichen Begründungen für einen Zimmerwechsel durch. Mitten im zweiten Durchgang hatte er es plötzlich: Das Bett, der Rücken; das können sie nicht überprüfen, das müssen sie mir einfach glauben. Er entspannte sich und spürte einen ersten Anflug von Taubheit in den Lippen und Fingerspitzen.
Jetzt konnten ihm die Sätze nichts mehr anhaben. Und Ruge mochte an seinem Schreibtisch soviel Klavier spielen, wie er wollte, auf dieser Seite war ab morgen niemand mehr. Ruge schüttelte sich vor Lachen, gluckste, rülpste und mußte Luft holen. Sein Flügel kam unaufhaltsam näher, er dehnte sich aus, während Perlmanns Klavier schrumpfte wie schmelzendes Zellophan. Jetzt war es Millar, der spielte, Das Wohltemperierte Klavier, ich sage euch, es ist langweilig, auch wenn ihr das schockierend findet, Millar stand neben dem ockerfarbenen Flügel, und während Evelyn Mistral vor Vergnügen quietschte, verbeugte er sich ununterbrochen, bis er schließlich vom Klingeln des Telefons unterbrochen wurde.
«Ich wollte nur schnell fragen, ob du gut angekommen bist», sagte Kirsten. Eine dünne Schicht von Taubheit lag auf Perlmanns Gesicht, und die Zunge hatte eine pelzige Schwere.
«Warte einen Moment», murmelte er und ging mit unsicheren Schritten ins Bad, wo er kaltes Wasser übers Gesicht laufen ließ. In der Hand, mit der er dann den Hörer wieder aufnahm, kribbelte es.
«Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe», sagte Kirsten,«ich bin einfach so daran gewöhnt, daß wir um diese Zeit telefonieren. »
«Schon gut», sagte er und war froh, daß es nicht zu verwaschen klang.
Die Sache mit der Wohngemeinschaft habe sich gut angelassen, erzählte sie; nur die eine Frau sei etwas schwierig.«Und stell dir vor: Heute habe ich mich für mein erstes Referat gemeldet. Über Faulkners The Wild Palms, den Doppelroman. Und dann stellte sich heraus, daß ich schon heute in vierzehn Tagen dran bin! Es wird mir ganz anders, wenn ich daran denke. Hoffentlich muß man da nicht auch noch vorne sitzen! »
Perlmann war einsilbig und sammelte immer wieder Speichel gegen die trockene Zunge. Ja, sagte er am Schluß, es sei alles in Ordnung; auch das Hotel und das Wetter.
«Und hast du auch die Russisch-Sachen mitgenommen?»fragte sie noch.
Eine halbe Stunde nach der anderen verrann, ohne daß Perlmann in den Schlaf zurückfand. Inmitten einer vergifteten Müdigkeit blieb eine Insel von trockener, nie erlöschender Wachheit. Um halb zwei telefonierte er hinunter zum Empfang und bat zur Sicherheit darum, um sieben geweckt zu werden. Dann nahm er die zweite Hälfte der Schlaftablette.
Perlmanns Schweigen: Roman
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