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Millar sah auf die
Uhr und erhob sich, freilich ohne ihm entgegenzugehen. Er trug zu
der grauen Hose einen dunkelblauen Zweireiher und über dem fein
gestreiften Hemd eine matrosenblaue Krawatte, auf die mit
goldgelbem Faden ein stilisierter Anker gestickt war. Sein Aussehen
und seine straffe Körperhaltung erinnerten an einen Marineoffizier,
ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, daß sein kantiges
Gesicht mit dem energischen Kinn gebräunt war, als sei er
wochenlang auf See gewesen. Wie er da mit seinen breiten Schultern
am Tisch stand, während die Kollegen sitzengeblieben waren, wirkte
er wie der Chef des Ganzen, der zur Begrüßung eines Nachzüglers
aufgestanden war.
«Good to see you, Phil», sagte er mit einem
Lächeln, das seine großen, weißen Zähne sichtbar werden ließ. Sein
Händedruck war so kurz und kräftig, daß in Perlmann die Empfindung
vollständiger Passivität entstand.
«Yes», murmelte er
und ärgerte sich über seine alberne Reaktion. Wie damals in Boston
waren es die stahlblauen Augen hinter der blitzenden Brille, die
ihn innerlich zum Schüler schrumpfen ließen, zum kleinen Pimpf, der
sich beklommen bewußt war, daß er sich vor dem Lehrer erst noch
bewähren mußte. Da hatte Millar einen Nachtflug hinter sich und
eine Arbeitssitzung mit dem italienischen Kollegen, und trotzdem
blickten diese Augen so ausgeschlafen, wach und ruhig, als sei er
gerade eben aufgestanden. Fit, dachte Perlmann und sah das lachende
Gesicht von Agnes, wenn er seinem unbegründeten Haß auf dieses Wort
wieder einmal freien Lauf gelassen hatte.
Während die anderen
schon vor den leeren Tellern saßen, löffelte Perlmann hastig seine
Suppe. Er war froh, daß zwischen ihm und Millar ein Platz für
Giorgio Silvestri freigeblieben war. Irgend etwas Unangenehmes war
da noch mit Millar, das spürte er plötzlich ganz deutlich; ein
Versäumnis, das ihm aber nicht einfallen wollte. Erst als er hörte,
wie von Levetzov sich bei Millar für einen übersandten Text
bedankte, erinnerte er sich an das Päckchen mit den vier
Sonderdrukken, das im August aus New York angekommen war, versehen
mit dem Stempel FIRST CLASS MAIL, der Perlmann stets an
Diplomatenpost denken ließ, die sich zu ihm verirrt
hatte.
Das Päckchen hatte
auf dem Schreibtisch gelegen, als er nachmittags, nach Frau
Hartwigs Dienstschluß, ins Büro gegangen war, ohne Ziel, nur um
sich zu vergewissern, daß er noch zur Universität gehörte. Zu Hause
hatte er die Sachen sofort in den Schrank gestopft, aus dem ihm
jedesmal ein Berg von Sonderdrucken entgegenkam, von denen
regelmäßig einige zu Boden fielen. Am Anfang, als Assistent und
Privatdozent, hatte er auf jeden Sonderdruck mit einem Brief
reagiert, der oft die Länge einer Rezension hatte. Es war eine
umfängliche Korrespondenz entstanden, denn er hatte nie gewußt,
wann ein solcher Briefwechsel zu Ende war, und hatte es nicht
fertig gebracht, den Brief des anderen den letzten sein zu lassen.
Die anderen fühlten sich ernst genommen, auch geschmeichelt, es war
für sie ein Anlaß, ihre Arbeit weiter zu kommentieren, und nicht
selten fand Perlmann in einem späteren Sonderdruck den Hinweis, daß
diese neue Arbeit auf eine besonders anregende Korrespondenz mit
ihm zurückgehe. Darüber war jeweils viel Zeit vergangen, er war
sich wie der selbsternannte und zugleich zwangsverpflichtete
Trainingspartner der anderen vorgekommen, der selbst nicht
vorankam. Dann, mit den Verpflichtungen als Professor, waren diese
weitläufigen Briefwechsel zeitlich unmöglich geworden. Er hatte
keinen Mittelweg gefunden und war von einem Tag zum anderen dazu
übergegangen, einfach nicht mehr zu reagieren.
Er selbst hatte nie
eigene Sonderdrucke verschickt; nur auf Anfrage hin hatte die
Sekretärin einen vom Stapel genommen. Er hatte nie glauben können –
wirklich glauben -, daß andere lesen wollten, was er schrieb. Der
Gedanke, daß sich jemand mit ihm beschäftigen könnte, war ihm
peinlich. Und diese Empfindung war, paradoxerweise, durchsetzt mit
einer Gleichgültigkeit, die einem Sakrileg gleichkam, weil sie die
gesamte akademische Welt in Frage stellte. Dabei war es nicht
Arroganz, da war er sich ganz sicher. Und die Tatsache, daß die
anderen seine Sachen ganz offensichtlich lasen und sein Ansehen
größer wurde, änderte an dieser Empfindung nicht das geringste.
Jedesmal, wenn er den Schrank öffnete, kam ihm der Berg von
Ungelesenem, der ihm da entgegenstürzte, wie eine Zeitbombe vor,
auch wenn er nicht hätte sagen können, worin die Explosion bestehen
würde.
«Ich hatte noch gar
keine Gelegenheit, Sie zu dem Preis zu beglückwünschen», sagte von
Levetzov zu Perlmann, als der Kellner die Suppenteller abgeräumt
hatte. Es klang, dachte Perlmann, als habe er einen sehr langen
Anlauf für diese Äußerung gebraucht, einen Anlauf, der schon oben
in seinem Zimmer begonnen hatte, oder sogar schon auf der Reise.
Von Levetzov fächelte den Rauch weg, der von Laura Sand her auf ihn
zutrieb, und wandte sich dann an Evelyn Mistral.
«Sie müssen nämlich
wissen, daß unser Freund hier kürzlich einen Preis gewonnen hat,
der die höchste Anerkennung für wissenschaftliche Leistungen
darstellt, die es in unserem Lande gibt; es ist fast schon ein
kleiner Nobelpreis. »
«Weil...», warf Millar ein.
«Doch, doch», fuhr
von Levetzov fort, und nachdem er in Ruges Gesicht vergeblich nach
einer Bestätigung gesucht hatte, fügte er mit süffisantem Lächeln
hinzu:«Man wundert sich zwar manchmal ein bißchen, wer den Preis
bekommt, aber ich bin sicher, daß die Entscheidung in diesem Fall
gerechtfertigt war. »
Perlmann umfaßte
sein Glas mit beiden Händen und betrachtete das Kreisen des
Mineralwassers so konzentriert, als beobachte er im Labor den
Ausgang eines Experiments. Dasselbe hatte er getan, während damals,
bei der Preisverleihung, seine Leistungen in einer Rede gewürdigt
worden waren. Zwei Wochen nach Agnes’ Tod hatte er dort auch unter
Kronleuchtern gesessen, gefühllos und taub für alles, froh, daß von
seiner Seite keine Rede erwartet wurde.
Bestimmt sind auch Sie bald dran. Der Satz hatte
sich in Perlmann bereits geformt; doch dann gelang es ihm zu seiner
Überraschung, ihn nicht auszusprechen. Ein kleiner, ein winziger
Schritt in Richtung auf das Ideal der Unbeflissenheit. Plötzlich
ging es ihm gut, und seine Stimme klang fast aufgeräumt, als er zu
Evelyn Mistral sagte:
«Solche
Entscheidungen haben stets auch etwas Zufälliges an sich. Das ist
in Spanien gewiß nicht anders, oder?»
Da sei es genauso,
sagte sie. Milde ausgedrückt. Was sie am meisten ärgere, sei, daß
oft Professoren ausgezeichnet würden, die im Grunde längst
aufgehört hätten zu arbeiten, nur noch von ihren vergangenen
Meriten zehrten und im Schutze einer vor Jahren entstandenen
Reputation faulenzten.
«Du wärst entsetzt,
Philipp, wenn du das sähest. Das sind Leute, die überhaupt nichts
mehr leisten!»»
Auf ihrer Stirn,
direkt über der Nase, hatte sich ein schwacher rötlicher Streifen
gebildet. Perlmann hatte ihr you als du gehört, und die Spannung
zwischen dieser Vertraulichkeit und ihrer Empörung, die in ihn
hineinschnitt wie ein großes, scharfes Messer, war kaum
auszuhalten. Warum habe ich bloß gedacht, sie
sei anders. Wegen des roten Elefanten?
Er war froh über das
Getue, das von Levetzov jetzt wegen des Essens machte, um zu
zeigen, daß er ein Gourmet sei. Die Stille, die danach eintrat und
in der man nur noch die Geräusche des Bestecks und die Stimmen von
den Nebentischen hörte, nahm er als ein Zeichen, daß er von nun an
nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.
«Übrigens, Phil»,
sagte Millar in die Stille hinein,«die Sache mit dem Preis wundert
mich nicht. Am Tag vor der Abreise war ich noch bei Bill in
Princeton – Sie kennen ja Bill Saunders -, und der erzählte mir,
daß demnächst eine Einladung für ein Gastsemester an Sie ergehen
wird. Die wissen dort schon, was sie tun», fügte er mit einem
Lächeln hinzu, in dem sich, wie Perlmann schien, die übliche
Hochachtung für Princeton mit einem mühsam ferngehaltenen und
dennoch genossenen Zweifel an der Weisheit dieser ganz besonderen
Entscheidung mischte.
Obwohl er das
Fischmesser aus lauter Verzweiflung so verkrampft hielt, als müsse
er damit ein Stück zähes, sehniges Fleisch schneiden, war Perlmann
stolz, daß es ihm gelang, Millar nicht anzusehen. Nichts sagen. Die Stille aushalten.
«Bill war übrigens
ein bißchen sauer, daß Sie ihn nicht ebenfalls eingeladen haben»,
sagte Millar schließlich, und dadurch, daß in seiner Stimme eine
Irritation über Perlmanns ausgebliebene Reaktion mitschwang, klang
es fast, als sei er selbst Bill Saunders, der sich
beklagte.
«Ach,
wirklich?»sagte Perlmann und sah Millar einen Moment lang an. Er
war glücklich über den Ton milder Ironie, der ihm gelungen war, und
jetzt blickte er Millar ein zweites Mal an, länger und ganz ruhig.
Nicht stahlblau sind die Augen, sondern
porzellanblau. Auf Millars Grinsen, dachte er, lag ein
Schatten der Unsicherheit, und daß er jetzt forsch und geschwätzig
über Princeton im allgemeinen zu reden begann, schien ihm diesen
Eindruck zu bestätigen. Aber statt eines Triumphgefühls entstand in
Perlmann plötzlich ein Vakuum, und dann stürzten die Empfindungen
eines Verfolgten auf ihn ein. Warum lassen sie
mich nicht in Ruhe. Während er im Zeitlupentempo Gräten
entfernte, rang er den Impuls nieder aufzustehen und wegzulaufen.
Erleichtert griff er zu, als er spürte, wie ihn Millars Sprache
auch jetzt wieder wütend zu machen begann. Gierig stürzte er sich
hinein in seine Wut.
Millar ließ sich in
seine Sätze, vor allem in die idiomatischen, kolloquialen
Wendungen, mit einem Genuß hineinfallen, der Perlmann abstieß.
Suhlen. Er suhlt sich regelrecht in seiner
Sprache. Perlmann haßte Dialekte, und er haßte sie, weil sie
oft genau so gesprochen wurden, mit derselben stampfenden Anmaßung,
mit der Millar sein Yankee-Amerikanisch sprach. Am allerschlimmsten
fand er das bei dem Platt, mit dem er aufgewachsen war. Daß ihm
seine Eltern zum Schluß sehr fremd geworden waren, hatte viel damit
zu tun gehabt. Je älter sie wurden, desto trotziger hatten sie
darauf bestanden, mit ihm Platt zu sprechen, und je deutlicher er
diesen Trotz gespürt hatte, desto entschiedener hatte er mit ihnen
Hochdeutsch gesprochen. Es war ein stummer Kampf mit Worten
gewesen. Darüber reden konnte man nicht. Was hätte es genützt,
ihnen zu sagen, daß ihre Ansichten immer starrer und dogmatischer
wurden, und daß das viel damit zu tun hatte, daß sie sich immer
mehr einfach von den Wendungen und Metaphern des Dialekts leiten
ließen, und von den Vorurteilen, die sich darin
kristallisierten.
Der Mann mit den
aufgekrempelten Jackenärmeln, dem offenen Hemd und dem bleichen,
unrasierten Gesicht, der sich jetzt an der Tür umsah und dann auf
sie zukam, mußte Giorgio Silvestri sein. Als Perlmann ihm die Hand
gab und die gelassene, ironische Wachheit in seinen dunklen Augen
sah, die so ganz anders war als Millars sprungbereite Wachheit, war
er sofort von ihm eingenommen. Es kam ihm vor, als sei mit diesem
mageren, zerbrechlich erscheinenden Italiener, der abgerissen
wirkte, bis man seine Kleider aus der Nähe sah, jemand angekommen,
der ihm helfen konnte. Und als er dann als erstes eine Gauloise
ansteckte und Millar den Rauch ins Gesicht blies, war Perlmann sich
seiner Sache ganz sicher. Einzig daß er auf Evelyn Mistrals
Begrüßungsworte mit fließendem, akzentfreiem Spanisch reagierte und
sich damit ihr strahlendes Lachen verdiente, war ein bißchen
störend.
Sein Englisch war
nicht weniger fließend, wenn auch nicht akzentfrei. Von Laura Sand,
die ihn unverwandt ansah, darauf angesprochen, erzählte er von den
zwei Jahren, die er auf einer psychiatrischen Station in Oakland
bei San Francisco gearbeitet hatte.
«East Oakland»,
sagte er zu Millar gewandt, und fuhr, als er dessen säuerliches,
von Stirnrunzeln begleitetes Lächeln sah, fort:«Danach hatte ich
genug. Nicht von den Patienten, die schreiben mir heute noch.
Sondern von dem gnadenlosen, eigentlich muß man sagen: barbarischen
amerikanischen Gesundheitssystem. »
Millar wich der
erneuten Rauchwolke aus, als bestehe sie aus Giftgas.
«Well», sagte er
schließlich, unterdrückte, was er auf der Zunge hatte, und widmete
sich seinem Nachtisch.
Silvestri bestellte
beim Kellner, den er wie einen alten Bekannten behandelte, sobald
er seinen Florentiner Akzent hörte, ein besonderes Dessert und
einen dreifachen Espresso. Perlmann machte darüber einen Scherz,
und dabei passierte es: Er erlag wieder einmal seinem
Berührungstick.
Seit Jahren kämpfte
er gegen diese Angewohnheit, Leute, besonders solche, die er gerade
erst kennengelernt hatte, zu berühren, wenn er sich mit einem
vereinnahmenden Scherz oder einer persönlichen Bemerkung an sie
wandte. Wie jetzt bei Silvestri legte er ihnen am Tisch die Hand
auf den Unterarm, und im Stehen geschah es ihm oft genug, daß er
plötzlich seinen Arm um ihre Schulter gelegt fand. Es gab Leute,
die darin einfach ein kontaktfreudiges, liebenswertes Naturell
sahen, und andere, die sein Verhalten unangenehm berührte. Seine
Berührungssucht machte keinen Unterschied zwischen Mann und Frau,
und bei Frauen kam es nicht selten zu Mißverständnissen. Die
Gegenwart von Agnes hatte geholfen, aber nicht immer, und wenn sie
Zeuge geworden war, hatte man an ihrem Gesicht ablesen können, wie
rätselhaft und auch unheimlich sie es fand, daß gerade er, der am
liebsten am Rande großer, leerer Plätze saß, diesen Tick hatte. Ihm
selbst war es nicht weniger rätselhaft, und er empfand den Zwang
jedesmal als einen Riß, der mitten durch ihn
hindurchging.
Es war von Levetzovs
Idee, nach dem Essen gemeinsam in den Salon hinüberzugehen, wo die
ockerfarbenen Sessel standen. Brian Millar, der als letzter kam,
weil er den kleinen Raum inspiziert hatte, in dem die runden
Spieltische mit dem grünen Filz standen, blieb stehen und ging dann
auf den Flügel zu.
«Ein Grotrian Steinweg», sagte er,«den ziehe ich jedem
Steinway vor. »Er schlug ein paar Töne
an und klappte dann den Deckel wieder zu.«Ein anderes Mal»,
lächelte er, als von Levetzov ihn aufforderte, etwas zu
spielen.
Perlmann spürte, wie
sein Atem plötzlich schwerer ging. Jetzt kann er auch das
noch. Er bat den Kellner, der die Getränke brachte, ein Fenster zu
öffnen.
Von Levetzov hob
sein Glas.«Da es sonst niemand tut, möchte ich hiermit alle
begrüßen und auf gute Zusammenarbeit anstoßen», sagte er mit einem
Seitenblick auf Perlmann, der spürte, wie sich der Schweiß seiner
Hände mit dem Kondenswasser am Glas vermischte.«Und dort oben
werden wir also arbeiten», fuhr er fort und zeigte auf die Tür der
Veranda, zu der drei Stufen hinaufführten.«Ein perfekter Raum für
unsere Zwecke, ich habe mir vorhin ein Bild gemacht. Veranda Marconi wird er genannt; nach Guglielmo
Marconi, einem Pionier der Radiotechnik, wie die Tafel draußen
sagt. »
Perlmann, der die
Tafel nicht bemerkt hatte, blickte auf seine neuen Schuhe hinunter,
die ihm weh taten. Das schmerzhafte Drükken, das für immer mit
Konfirmation und harten Kirchenbänken verknüpft bleiben würde,
verschmolz mit der heißen Empfindung der Scham über die vergessene
Begrüßungsrede und mit einem sich auftürmenden, hilflosen Ärger
über von Levetzovs Gebaren als Reiseführer.
«Jetzt fehlt nur
noch Vasilij Leskov», sagte Laura Sand, und es kam Perlmann vor,
als habe sie seine Gedanken gelesen und versuche mit diesem
Themenwechsel zu verhindern, daß die anderen sich erhoben, um die
Veranda in Augenschein zu nehmen.«Wann kommt er? Und überhaupt: Wer
ist er?»
Er sei ein
Sprachpsychologe ohne feste Anstellung an der Universität, sagte
Perlmann. Nur hin und wieder ein Lehrauftrag. Womit er sich
finanziell über Wasser halte, könne er nicht sagen. Beeindruckend
sei, wie gut Leskov beschreiben könne, viel besser als die meisten
anderen, die im Fach arbeiteten. Er bringe einem zu Bewußtsein, wie
sehr es vor aller Theorie darauf ankomme, unsere Erfahrungen mit
Sprache ganz genau zu beschreiben. Zwar betriebe er eine Art
altmodischer introspektiver Psychologie, mit der man ja heutzutage
keinen Blumentopf mehr gewinnen könne. Aber gerade das habe er,
Perlmann, in dem Gespräch damals in St. Petersburg interessant
gefunden.
«Sprechen Sie denn
auch Russisch?»fragte von Levetzov irritiert. Auf diese Frage war
Perlmann nicht gefaßt gewesen, aber er zögerte keinen
Moment.
«Nein, nein», sagte
er und brachte sogar ein bedauerndes Lächeln zustande,«kein Wort.
Er aber kann perfekt Deutsch. Seine Großmutter war eine Deutsche
und redete mit ihm nur in ihrer Muttersprache, als er nach dem Tod
des Vaters einige Jahre bei ihr wohnte. Sein Englisch sei ziemlich
holprig, sagte er mir; aber er wäre hier sicher
zurechtgekommen.»
Perlmann hatte keine
Ahnung, warum er gelogen hatte, und es war ihm unheimlich, mit
welcher Zielsicherheit es geschehen war. Evelyn Mistral, zu der er
nur zögernd hinüberblickte, betrachtete ihn mit einem Gesicht, in
dem Nachdenklichkeit und Schalkhaftigkeit abwechselten.
Jetzt sind wir Komplizen, dachte er und
wußte nicht, ob er sich darüber freute oder ob das Gefühl der
soeben entstandenen Verwundbarkeit überwog.
«Leider ist ihm die
Ausreisegenehmigung verweigert worden», schloß er und griff mit
einer Erleichterung, die ihn erstaunte, zu den
Zigaretten.
«Jetzt wollen wir
doch noch einen Blick in die Veranda werfen», sagte Achim Ruge, als
das Gespräch über die Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion
versandete und Millar gähnend auf die Uhr sah.
Perlmann ging die
drei Stufen als letzter hinauf. Wie wird es
sein, wenn ich sie an jenem Tag herunterkomme.
Ruge hatte sich vorn
in den Sessel mit der hohen Lehne gesetzt, dessen gestickte Polster
an Gobelins erinnerten.«Wenn einer, der hier sitzt, nichts zu sagen
hat, ist er selbst schuld», sagte er mit einem glucksenden Lachen
und löste damit ein allgemeines Gelächter aus. Perlmann gab vor,
die Wappen mit den Zotteln zu betrachten, welche die Wand
entlangliefen.
«Was also hast du
über Sprache zu sagen, Achim?»hörte er Evelyn Mistral fragen, die
eine strenge Lehrerin zu imitieren suchte.«Oder hast du etwa
vergessen, die Hausaufgaben zu machen?»
Erneutes Gelächter.
Nur Laura Sand lachte nicht mit, sondern untersuchte die alte Truhe
in der Ecke. Jetzt überboten sich die anderen mit Karikaturen eines
Kreuzverhörs, und Ruge spielte mit wachsendem Genuß den
verschlagenen Idioten, der sich hinter einer Fassade von
Verschüchterung versteckt. Perlmann schlug das Herz bis zum Hals.
Als Silvestri eine trockene Bemerkung machte und dann die Zigarette
mit einer blitzartigen Bewegung der Zunge im Mund verschwinden
ließ, überschlug sich Evelyn Mistrals helle Stimme vor Lachen.
Perlmann wartete nicht mehr ab, was Millar, der gerade Luft holte,
sagen würde. Wie betäubt verließ er den Raum, ließ sich von
Giovanni den Zimmerschlüssel geben und hastete humpelnd und mit
schmerzenden Zehen die Treppe hinauf.
Er legte die Kette
vor, zog im Dunkeln die schmerzenden Schuhe aus und ließ sich aufs
Bett fallen. Sofort begannen die Sätze im Kopf zu kreisen, Sätze,
die beim Abendessen und vorhin in der Veranda gefallen waren, Sätze
über den Preis, über Princeton, über faule spanische Professoren,
über versäumte Hausaufgaben. Sie kehrten immer wieder, diese Sätze,
aufdringlich wie ein nicht enden wollendes, nie abflachendes
Echo.
Perlmann kannte es
nur zu gut, dieses quälende Kreisen von Sätzen, diese Sucht, sich
an einmal geäußerte Sätze zu klammern, und jedesmal, wenn er wieder
in diesen Sog geriet, kam es ihm vor, als habe er den größten Teil
seines Lebens damit zugebracht, auf diese Weise Sätzen
nachzuhorchen, die ihn verletzt oder geängstigt hatten. Agnes hatte
darunter gelitten, daß er manchmal nach Tagen, sogar Wochen,
plötzlich mit einem solchen Satz kam und ihm ein Gewicht, eine
Dramatik beimaß, die er nie gehabt hatte – einfach weil er nun so
lange an ihm gekaut hatte, auf Spaziergängen oder während
schlafloser Stunden. Oftmals konnte sie sich gar nicht mehr daran
erinnern, etwas Derartiges gesagt zu haben. Das wiederum kam ihm
vor wie Hohn und machte ihn auf hilflose Art wütend. Er war
verbittert, fühlte sich von allen allein gelassen und verkroch
sich. Agnes erklärte ihm, wie gefährlich dieses Satzgedächtnis sei,
wie gehemmt es einen machen konnte, so daß man sich gar nicht mehr
traue, spontane Dinge zu sagen, wenn das Gesagte dann auf die
Goldwaage gelegt und einem später vorgehalten werde wie ein
Verbrechen. Er hatte das eingesehen, für dieses Mal hatte die
Einsicht geholfen. Doch beim nächstenmal war er von neuem in die
Falle gelaufen.
Er richtete sich auf
und machte Licht. Morgen früh bei der ersten Arbeitssitzung in der
Veranda würde er Regie führen müssen. Er mußte das mit Geschick und
Übersicht tun, um zu erreichen, daß er mit seinem Beitrag möglichst
spät drankam. Dazu brauchte er einen klaren, ausgeschlafenen Kopf.
Doch mit dem Dunkel würden auch die Sätze
wiederkommen.
Er ging ins Bad und
sah dabei den langen Blick vor sich, den ihm der Arzt zugeworfen
hatte, bevor er das Rezept für die zwanzig starken Schlaftabletten
ausschrieb. Er ist ein patenter Mann und ein
guter Arzt; aber dafür, daβ einer nicht einschlafen kann, hat er
kein Verständnis, das kennt er nicht. Perlmann nahm eine
halbe Tablette, mehr auf keinen Fall.
Dann stellte er den Wecker auf sieben. Die Sitzung sollte um neun
beginnen. Ruge, Millar und von Levetzov hatten sich in dem
scherzhaften Geplänkel, das es zu dieser Frage gegeben hatte, gegen
die anderen durchgesetzt, obwohl diese Stunde für Millars
biologische Uhr noch mitten in der Nacht war.
Perlmann löschte das
Licht und wartete auf die Wirkung der Tablette. Unten auf der
Uferstraße fuhr ein Motorrad mit Vollgas vorbei. Sonst war es
still. Plötzlich schneuzte sich Ruge im Nebenzimmer, drei
Trompetenstöße. Es war, als gäbe es überhaupt keine Wand zwischen
ihnen, Ruge schien mit seiner körperlichen Gegenwart auch Perlmanns
Zimmer ganz auszufüllen. Schlagartig stand Perlmann wieder alles
vor Augen: der spiegelbildliche Schreibtisch, dahinter Ruge mit
seinem Bauernschädel und den wäßrig grauen Augen hinter der
geflickten Brille, und auf der anderen Seite Millar mit seinem
Bach.
Er stand auf und
lauschte mit dem Ohr an der Wand. Nichts. Wieder im Bett, ging er
noch einmal die möglichen Begründungen für einen Zimmerwechsel
durch. Mitten im zweiten Durchgang hatte er es plötzlich:
Das Bett, der Rücken; das können sie nicht
überprüfen, das müssen sie mir einfach glauben. Er
entspannte sich und spürte einen ersten Anflug von Taubheit in den
Lippen und Fingerspitzen.
Jetzt konnten ihm
die Sätze nichts mehr anhaben. Und Ruge mochte an seinem
Schreibtisch soviel Klavier spielen, wie er wollte, auf dieser
Seite war ab morgen niemand mehr. Ruge schüttelte sich vor Lachen,
gluckste, rülpste und mußte Luft holen. Sein Flügel kam
unaufhaltsam näher, er dehnte sich aus, während Perlmanns Klavier
schrumpfte wie schmelzendes Zellophan. Jetzt war es Millar, der
spielte, Das Wohltemperierte Klavier, ich sage
euch, es ist langweilig, auch wenn ihr das schockierend
findet, Millar stand neben dem ockerfarbenen Flügel, und
während Evelyn Mistral vor Vergnügen quietschte, verbeugte er sich
ununterbrochen, bis er schließlich vom Klingeln des Telefons
unterbrochen wurde.
«Ich wollte nur
schnell fragen, ob du gut angekommen bist», sagte Kirsten. Eine
dünne Schicht von Taubheit lag auf Perlmanns Gesicht, und die Zunge
hatte eine pelzige Schwere.
«Warte einen
Moment», murmelte er und ging mit unsicheren Schritten ins Bad, wo
er kaltes Wasser übers Gesicht laufen ließ. In der Hand, mit der er
dann den Hörer wieder aufnahm, kribbelte es.
«Tut mir leid, wenn
ich dich geweckt habe», sagte Kirsten,«ich bin einfach so daran
gewöhnt, daß wir um diese Zeit telefonieren. »
«Schon gut», sagte
er und war froh, daß es nicht zu verwaschen klang.
Die Sache mit der
Wohngemeinschaft habe sich gut angelassen, erzählte sie; nur die
eine Frau sei etwas schwierig.«Und stell dir vor: Heute habe ich
mich für mein erstes Referat gemeldet. Über Faulkners The Wild Palms, den Doppelroman. Und dann stellte
sich heraus, daß ich schon heute in vierzehn Tagen dran bin! Es
wird mir ganz anders, wenn ich daran denke. Hoffentlich muß man da
nicht auch noch vorne sitzen! »
Perlmann war
einsilbig und sammelte immer wieder Speichel gegen die trockene
Zunge. Ja, sagte er am Schluß, es sei alles in Ordnung; auch das
Hotel und das Wetter.
«Und hast du auch
die Russisch-Sachen mitgenommen?»fragte sie noch.
Eine halbe Stunde
nach der anderen verrann, ohne daß Perlmann in den Schlaf
zurückfand. Inmitten einer vergifteten Müdigkeit blieb eine Insel
von trockener, nie erlöschender Wachheit. Um halb zwei telefonierte
er hinunter zum Empfang und bat zur Sicherheit darum, um sieben
geweckt zu werden. Dann nahm er die zweite Hälfte der
Schlaftablette.