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In der Empfangshalle
des REGINA ELENA lärmten angetrunkene Hochzeitsgäste und drängten
dem Nachtportier, der seinen Ärger unter einem säuerlichen Lächeln
zu verbergen suchte, ein Glas Champagner auf. Ihn konnte er unter
diesen Umständen unmöglich bitten, nach einem Taxi zu telefonieren,
er war ja nicht einmal Hotelgast. Gettoni hatte er keine,
Telefonzellen nützten ihm also nichts. Er ging hinüber zum MIRAMARE
und lehnte sich am Fuß der Freitreppe gegen die Wand. Rasch
hineinhuschen, Giovanni die paar Worte sagen und dann sofort wieder
hierher, um ungesehen auf das Taxi zu warten. Es würde drinnen
keine zehn Sekunden dauern. Daß er just dann jemandem von den
anderen begegnete, war unwahrscheinlich, es war bereits halb eins.
Aber ausgeschlossen war es nicht. Laura Sand zum Beispiel machte um
diese Zeit manchmal noch einen Spaziergang.
Perlmann ging die
ersten Stufen hinauf, bis er über die Kante der Terrasse hinweg den
Eingang sehen konnte. Er hatte Herzklopfen und atmete unwillkürlich
ganz flach. Giovanni hielt einen Ellbogen auf die Theke gestützt
und las Zeitung. Noch einmal überlegen.
Erneut lehnte er sich gegen die Wand. Sonst mußte er in der Stadt
nach einem Taxistand suchen. Er konnte sich hinauf bis zum Bahnhof
schleppen. Aber hier hielt mitten in der Nacht kaum noch ein Zug,
was sollten dort jetzt Taxis. Und an einen anderen Stand konnte er
sich nicht erinnern. Er würde mit bleiernen Gliedern durch die
stillen Gassen irren, jeder Schritt eine Tortur. Wieder warf er
einen Blick hinüber zum Empfang. Giovanni lehnte jetzt mit
gestreckten Armen gegen die Theke und las unten auf der Seite. In
der Bar bewegten sich Schatten, und einen Moment später ging ein
grauhaariger Mann durch die Halle zum Aufzug. Es war zu gefährlich.
Er müßte noch ein, zwei Stunden warten. Er schloß die Augen. Eine
lähmende Unentschlossenheit ergriff Besitz von ihm.
«Buona sera, Dottore», sagte Signora Morelli, die
mit energischem Schritt und wehendem Mantel die Treppe
herunterkam.«Ist... ist etwas nicht in Ordnung? Warten Sie auf
jemanden?»
«Nein, nein...
nichts», erwiderte Perlmann aufgeschreckt und gab sich Mühe mit der
Aussprache. Und weil es unmöglich schien, sonst gar nichts zu
sagen, fügte er hinzu:«Sie noch hier?»
«Ja, leider», sagte
sie und schnitt eine Grimasse.«Die Steuer, man hat nichts als Ärger
mit der Steuer. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Ich habe bis
eben daran gesessen.»Sie lächelte.«Na ja, ist ja auch verrückt, ein
solches Hotel ohne mehr leitendes Personal zu führen, fast wie
einen Familienbetrieb. »
Es war das erste
Mal, daß er etwas so Persönliches von ihr hörte, und hätte er noch
ihrer Welt, und überhaupt der Welt, angehört, so wäre er, statt nur
stumm zu nicken, sehr gern darauf eingegangen.
«Ach, übrigens»,
sagte sie, schon zum Gehen gewandt,«ich habe Ihnen das Original
Ihres Texts ins Fach gelegt. Ich habe es am Samstag in der Eile
neben dem Kopierer liegenlassen. Ich hoffe, Sie haben es nicht
vermißt. »
Perlmann verstand
nicht. Und er wollte auch nicht verstehen. Er wollte nie mehr einen
Satz verstehen müssen, in dem Wörter wie Text,
Original und Kopie vorkamen. Nie mehr.
«Venga», sagte die Signora, als sie sein leeres
Gesicht sah, und ging wieder die Treppe hinauf. Es war unmöglich,
ihr nicht zu folgen. Sie schob Giovanni, der überrascht von der
Zeitung aufsah und grüßte, beiseite und nahm einen Text aus
Perlmanns Fach.«Eccolo», sagte sie.«Aber jetzt muß ich wirklich
gehen. Buona notte!»
Giovanni sah ihn
fragend an, als sie draußen war.
«Ein Taxi», sagte
er,«ich brauche ein Taxi.»Giovanni griff zum Hörer.
Daß er verwirrt war,
merkte Perlmann nur daran, daß er entgegen seinem Vorsatz
stehenblieb, während Giovanni telefonierte. Den Text hielt er in
der herunterhängenden Hand, und er hielt ihn so, wie man etwas
hält, das man bei nächster Gelegenheit in den Rinnstein fallen
läßt. Er wollte nie mehr einen Text in der Hand halten. Nie
mehr.
Die Taxizentrale
ließ sich Zeit, und es entstand ein unangenehmes, wortloses Warten.
Es war einzig und allein, um gegen dieses Warten etwas zu tun, daß
Perlmann auf seine Hand mit dem Text hinuntersah. Und es dauerte
einen Moment, bis er das längliche Kärtchen bemerkte, das unter der
Heftklammer steckte, die den Blätterstoß zusammenhielt. Noch bevor
er wußte, was darauf stand, fing etwas in ihm an zu vibrieren.
Ruckartig winkelte er den Arm an, brachte das Kärtchen vor die
Augen und las: 6 copie. Per il gruppo di
Perlmann. Distribuire, come sempre. Er verstand nicht,
die Kopiervorlage habe ich doch vorhin
weggeworfen, aber sein Atem ging schneller, er las noch
einmal, hob das Kärtchen an, und da sah er den Titel: MESTRE NON È
BRUTTA. Darunter sein Name.
Mehrere Sekunden
lang blieb er reglos stehen, blind und taub für die Umgebung,
eingehüllt in das Pochen seines Bluts. Maria. Der Anruf aus Genua.
Sie hat meine Aufzeichnungen doch noch fertig geschrieben. Trotz
der Leute von Fiat.
Es dauerte, bis der
Gedanke den Weg zum Körper gefunden hatte. Dann rannte Perlmann
los, er stieß sich an der Tür, knickte auf der Treppe mit dem Fuß
ein und verlor einen Schuh, aber er rannte trotz der Schmerzen und
trotz des kalten Pflasters wie noch nie in seinem gesamten Leben,
den eingerollten Text in der Faust wie einen Staffettenstab, er
bekam Seitenstechen und mußte husten, gütiger
Gott, hoffentlich denke ich das Richtige, jetzt sah er die
Gestalt von Signora Morelli, wie sie am Jachthafen entlangging, er
rannte mit einer Lunge, die zu zerbersten drohte, fürs Rufen blieb
kein Atem, und endlich, als die weichen Knie ihn schon nicht mehr
tragen wollten und er zu stolpern begann, hatte er sie eingeholt.
Er brachte kein Wort heraus, bückte sich nur atemlos und hustete,
die Hände wegen der Stiche an die Rippen gepreßt.
«Diese Notiz hier»,
stieß er schließlich stockend hervor, und jetzt war es ihm
gleichgültig, daß ihm der Mund nicht recht gehorchte,«heißt das,
daß Sie den Text sechsmal kopiert haben?»
«Si, Dottore», sagte sie, und auf ihrem Gesicht
machte die anfängliche Überraschung einem Ausdruck der Abwehr und
Verteidigungsbereitschaft Platz.
«Und das waren die
Kopien, die Sie am Samstag morgen in die Fächer meiner Kollegen
getan haben?»
«Si.»
«Und Sie haben
keinen anderen Text kopiert und verteilt?»«No, Signor Perlmann», sagte sie, jetzt sichtlich
verärgert über das atemlose Verhör,«das ist der Text, den mir Maria
hingelegt hatte. Einen anderen habe ich nicht bekommen.
»
Er hielt Signora
Morelli die Blätter so dicht vors Gesicht, als sei sie
halbblind.
«Diesen Text hier?
Diesen hier? Keinen anderen?»
Signora Morellis Ton
änderte sich, als Perlmann die Blätter sinken ließ und sie in
seinem Gesicht die Vorboten der Tränen erkannte.
«Aber ja, Dottore»,
sagte sie sanft,«es war dieser Text hier, genau dieser, und nur
dieser. Was habe ich damit bloß angerichtet?»
«Angerichtet?
Nichts, nichts», stammelte er zwischen den Tränen, die nicht mehr
aufzuhalten waren,«im Gegenteil, das ist... das ist meine Rettung.
»
Er wandte sich ab
und suchte vergeblich nach einem Taschentuch. Dann fuhr er sich mit
dem Jackenärmel über die Augen und sah sie wieder an.
«Entschuldigen Sie
vielmals», sagte er leise und wehrte sich vergeblich gegen die
erneuten Tränen,«ich kann Ihnen das unmöglich erklären, aber ich
habe noch nie eine derartige Erleichterung empfunden. Sie ist...
unbeschreiblich groß. Einfach unbeschreiblich.»
Als er die Hand
wieder von den Augen nahm, sah sie ihn mit einem Blick an, als
nähme sie ihn zum erstenmal richtig wahr. Sie lächelte und berührte
ihn am Arm.«Dann sollten Sie jetzt schlafen gehen», sagte sie,«Sie
sehen vollkommen erledigt aus. »
Er sah ihr nach, bis
sie, ohne sich umzudrehen, in eine Gasse einbog. Es war ein
Augenblick der Gegenwart. Die Gegenwart einer nicht mehr für
möglich gehaltenen, wie ein Wunder erscheinenden
Erlösung.
Als er dann, um die
kostbare Gegenwart auszukosten, ganz langsam zurückging, stach es
jedesmal wie mit Nadeln, wenn er mit dem eiskalten Fuß auftrat, und
auch in der Lunge durchfuhr ihn von Zeit zu Zeit ein stechender
Schmerz. Aber das spielte keine Rolle. Nichts spielte mehr eine
Rolle außer der überwältigenden Erleichterung. Kein Plagiat. Ich habe kein Plagiat begangen. Kein
Plagiat. Es war wie ein langsames, ungläubiges Auftauchen
aus einer sehr großen, sehr dunklen Tiefe, begleitet von einer
Schreckhaftigkeit, die er in jeder Faser des Körpers zu spüren
meinte. Wieder las er Marias Anweisung auf dem Kärtchen. Und dann
noch zwei weitere Male. Es war dieser Text, den Signora Morelli
kopiert hatte, genau dieser, und nur dieser. Das hatte sie gesagt.
Hat sie es gesagt?
Als er um die Ecke
bog und die schrägen Pinien sah, die um diese Zeit nicht mehr
beleuchtet waren, sondern sich nur noch durch ihr milchiges
Graugrün gegen den Nachthimmel abhoben, zersprang seine
Erleichterung, und es kam ihm vor, als würde er durch eine
zentnerschwere Last erneut in die Tiefe hinuntergedrückt. Giovanni
muß die Kopien selbst gemacht und verteilt
haben, deshalb weiß sie nichts von Leskovs Text. Eine
eiserne Kralle packte ihn an der Brust, und jeder einzelne Stich
aus dem Fuß war eine wahre Folter, als er hastig zurückhumpelte,
auf der Treppe in den verlorenen Schuh schlüpfte und schwer atmend
an die Empfangstheke trat.
«Freitag nacht»,
stieß er hervor,«als das Fußballspiel im Fernsehen lief, da habe
ich Ihnen doch einen Text gebracht. Was haben Sie damit
gemacht?»
Giovanni schlug den
Blick nieder.«Eh... nichts», sagte er und zog lange an der
Zigarette. Dann, als er den Rauch ganz ausgestoßen hatte, sah er
Perlmann mit unsicherem Blick an.«Es war nämlich so... ich war
nicht recht bei der Sache, sozusagen, weil... Sehen Sie, da war
halt dieses Ausgleichstor in der neunzigsten Minute, und dann das
Elfmeterschießen... und nachher wußte ich nicht mehr, was genau Sie
mir gesagt hatten, und da habe ich den Text einfach in Ihr Fach
gelegt. Es tut mit leid, wenn deshalb etwas schiefgegangen ist,
aber es war derart aufregend, daß... »
Perlmann schloß
einen Moment die Augen und atmete im Zeitlupentempo aus. Dann legte
er seine Hand auf diejenige von Giovanni.«Sie haben das Richtige
getan», sagte er,«genau das Richtige. Ich bin sehr froh.
La ringrazio. Mille grazie.
Grazie.»
Giovanni fiel ein
Stein vom Herzen.«Wirklich? Ich... Wissen Sie, ich hatte ein
ziemlich schlechtes Gewissen deswegen... Kann ich vielleicht jetzt
noch etwas für Sie tun?»
«Nein, nichts»,
sagte Perlmann lächelnd,«und nochmals vielen Dank!»
Giovanni machte eine
linkische, unterwegs abgebrochene Bewegung mit dem Arm, die besser
als jedes Wort und jede Miene seiner Verwunderung Ausdruck
verlieh.
Perlmann ging zum
Aufzug, wartete ihn jedoch nicht ab, sondern begann, die Treppe
hinaufzuhumpeln. Er ließ sich Zeit. Er war zu aufgewühlt, als daß
er daraus schon einen Satz hätte machen können. Aber die Empfindung
war da: Er konnte sich im Hotel wieder frei bewegen. Er war kein
Betrüger.
Als es in der
Leitung zu rauschen begann, legte er auf. Was hatte er ihr
eigentlich sagen wollen? Dazu noch in einem alarmierenden Anruf
nachts um Viertel vor zwei. Und mit seiner schweren Zunge. Seine
Hand umschloß das rote Feuerzeug. Nun brauchte er ihr nichts zu
erklären, sich für nichts zu entschuldigen. Er konnte seiner
Tochter genau wie früher begegnen. Er war zurück aus dem
Niemandsland. Kein Plagiat. Kein Plagiat, und
kein Mord. Er wiederholte die Worte immer wieder, laut und
in Gedanken, wer weiß wie viele Male, bis sie, ausgehöhlt von
Müdigkeit, nicht mehr Ausdruck eines Gefühls waren, sondern nur
noch ein mechanisches inneres Echo, das immer schleppender
wurde.
Hätte ich nicht durch das Schreiben in der Hafenkneipe
Selbstvertrauen gewonnen und den Mut, zu meinen eigenen
Aufzeichnungen zu stehen, so hätte ich Maria nicht angerufen, und
der Text wäre nicht rechtzeitig fertig geworden. Hätte ich die
Hafenrundfahrt nicht gemacht und mich nicht ins Dolmetschen
hineingesteigert, so wäre es nicht zum Schreiben in der Hafenkneipe
gekommen. Also hatte genau diejenige Neigung, die ihn in
höchste Gefahr gebracht hatte, nämlich sein Sprachfimmel, ihn
zugleich auch gerettet. Perlmann atmete auf. Dieser Zusammenhang
gab ihm das Gefühl, daß er die erlösende Wendung der Dinge nicht
nur einer Verkettung von Zufällen zu verdanken hatte, sondern daß
sie ihren Ursprung in ihm selbst hatte, in seiner Art zu denken und
zu fühlen.
Er ging unter die
Dusche und wusch sich die Haare. Die vielen aufgekratzten Stellen
brannten. Aber es war ein heilsames Brennen, denn es trug dazu bei,
daß der Nebel aus Alkohol und Tabletten sich zu lichten begann. Er
duschte heiß und kalt und dann dasselbe noch einmal, neues Leben
durchströmte ihn, und jetzt fühlte er sich wieder ganz nüchtern und
klar.
Es stimmte gar
nicht, daß er sich selbst gerettet hatte. Das genaue Gegenteil war
der Fall: Hätte ich Maria nicht angerufen,
wären die Fächer Samstag morgen leer geblieben, ich hätte Leskovs
Text wieder mitgenommen und hätte den ganzen Alptraum mit dem
Tunnel nicht zu durchleben brauchen. Sein Fanatismus des
Übersetzens hatte ihn nicht nur an den Rand eines Plagiats
gebracht, sondern auch noch an den Rand eines Mordes und
Selbstmordes. Die fanatische, verzweifelte Suche nach Gegenwart in
der Vertrautheit der fremden Sprachen hatte ihm damals in Genua für
einen Augenblick den Mut gegeben, auch vor den anderen zu sich
selbst zu stehen, und genau durch diesen Mut war es dazu gekommen,
daß er drei endlose Tage und Nächte lang in einer Welt der
Phantasmen und des Schreckens gelebt hatte, der in der wirklichen
Welt nicht das geringste entsprach.
Gerettet haben mich einzig und allein Zufälle, banale
Zufälle und Unachtsamkeiten. In Perlmanns Kopf öffnete sich
eine Schleuse, und eine Kaskade von Wenn-dann-Gedanken überflutete ihn. Wäre nicht noch das Ausgleichstor geschossen worden, hätte
es kein Elfmeterschießen gegeben, Giovanni wäre bei der Sache
gewesen und hätte den Kopierauftrag für Leskovs Text
weitergeleitet. Dann wären Samstag morgen beide Texte in den
Fächern gewesen, und das hätte mir erlaubt, die Sache ohne
Gesichtsverlust richtigzustellen. Hätte Giovanni gemacht, was er
sollte, und wäre Maria wegen der Leute von Fiat nicht fertig
geworden, dann wäre nur der fatale Text in die Fächer gelangt, die
Katastrophe wäre, statt nur in meiner Vorstellung, in der
wirklichen Welt eingetreten. Hätte Giovanni Leskovs Text auf der
Ablage unter der Theke einfach vergessen, dann wäre mein Fach am
Samstag morgen als einziges leer
geblieben, ich hätte nachgefragt, den wahren Vorgang erfahren, und
dann wäre es zu keinem Mordplan
gekommen. Vielleicht hätte ich aber auch nicht nachgefragt, gelähmt
wie ich war. Hätte Giovanni den Text auf der Ablage vergessen, dann
wäre Signora Morelli beim Verteilen aufgefallen, daß mein Fach als
einziges leer blieb, und dann hätte sie beim Kopierer nach dem
Original gesucht. Hätte mein Fach in einer Reihe mit den Fächern
der anderen gelegen, hätte ich also das Zimmer nicht gewechselt, so
hätte die Signora beim Verteilen gestutzt, dann gesehen, daß der
Text in meinem Fach ein anderer war, sie hätte beim Kopierer das
Original gesucht, ich hätte, als ich aus Portofino zurückkam, zwei
Texte im Fach gehabt, und durch Marias Kärtchen hätte sich die
Sache schon da aufgeklärt. Hätte ich also nicht dieses übertriebene
Bedürfnis nach leerem Raum, so wäre mir der Tunnel erspart
geblieben. Hätte es am Samstag bei meiner Rückkehr aus Portofino
nicht dieses Geräusch im Nebenraum gegeben, so hätte ich Silvestris
Exemplar aus dem Fach genommen und den wahren Sachverhalt erkannt.
Und hätte ich bei der Ankunft mit Leskov einen Blick auf den
gefürchteten Text in meiner Hand geworfen, nur einen einzigen
kurzen Blick, so hätte ich nicht in Gedanken ins schwarze Wasser
hinauszuwaten brauchen.
Perlmann wußte, sie
war absurd, diese Orgie von irrealen Bedingungssätzen, und nicht
nur das, sie fraß auch die Erleichterung auf, so daß er sich jetzt
in die Tränen der ersten Erlösung zurücksehnte. Aber dieses Wissen
half nichts, die Suche nach immer weiteren Zusammenhängen war wie
eine Sucht wider Willen. Hätte Larissa nicht
ein schlechtes Gewissen geplagt, so hätte sie Leskov nicht zu einem
erneuten Antrag gedrängt, es hätte kein Telegramm gegeben und keine
Entlarvungsangst, und was sich heute nacht aufgelöst hätte, wäre
nicht eine Selbstmordabsicht gewesen, sondern nur eine nagende
Empfindung der Schuld. Hätte mir der Kellner das Telegramm nicht
genau in dem Moment gebracht, wo ich Evelyn auf Leskovs Text
ansprechen wollte, so hätte ich an ihren Äußerungen gemerkt, daß
etwas nicht stimmte, und auch dann wäre mir der Bulldozer erspart
geblieben. Hätte heute abend im REGINA ELENA keine Hochzeitsfeier
stattgefunden, dann hätte ich vielleicht dort nach einem Taxi
telefonieren lassen, und dann hätte ich Kirsten in Konstanz ein
Plagiat erklärt, das gar nicht stattgefunden hat. Perlmann
hörte auf.
Nun hatten sie also
seit Tagen seine Aufzeichnungen in der Hand, überschrieben mit
einem italienischen Satz, der ihnen manieriert und angeberisch
vorkommen mußte. Er nahm den Computerausdruck in die Hand.
Zweiundfünfzig Seiten waren es geworden. Ich
hätte es am Umfang, an der Dicke der Blätterstöße merken können.
Dreiundsiebzig Seiten in meinem Fach gegenüber zweiundfünfzig in
den Fächern der anderen, das ist ein Unterschied, den man schon von
weitem hätte erkennen können. Und heute abend, bei der Ankunft,
hätte ich es in der Hand spüren können, daß es nicht Leskovs Text
sein konnte; daß der Stoß zu dünn war.
Er ließ die Blätter
durch die Finger gleiten und wog den Stoß in der Hand. Richtig zu
blättern und probeweise zu lesen, das wagte er nicht, und er
achtete darauf, daß sich der Blick auch im obersten Blatt nicht
verfing. Er wollte jetzt, wo er sich wie der Überlebende einer
Katastrophe fühlte, nicht auch noch in dieser Form über sich selbst
erschrecken müssen – etwa über kitschige Metaphern oder einen
larmoyanten Ton. Und auch seinem schriftlichen Englisch wollte er
jetzt nicht begegnen – einem Englisch, das selten regelrecht falsch
war und doch nie die anstrengungslose Genauigkeit besaß, die er
sich gewünscht hätte. Er ließ die Blätter in die Schublade des
Schreibtischs gleiten
Angelinis Bemerkung
am Sonntag abend, dachte er, erschien jetzt in einem neuen Licht.
Un lavoro insolito, hatte er den Text
genannt. Auch war es kein Wunder, daß sonst niemand über den Text
ein Wort verloren hatte. Daß sie ihn sozusagen totgeschwiegen
hatten.
In sechseinhalb
Stunden mußte er die drei Stufen zur Veranda hinaufgehen und sich
vorne hinsetzen. Alle, die da saßen und ihn ansahen, hatten seinen
Text vor sich liegen, und sie hatten ihn gegenwärtig von der ersten
bis zur letzten Seite. Nur ich, ich allein,
weiß nicht, was drinsteht. Das war ein offensichtlich
falscher, widersinniger Gedanke, Perlmann wußte es. Noch am Freitag
auf dem Schiff war er die Aufzeichnungen in Gedanken durchgegangen.
Aber der Gedanke ließ sich nicht vertreiben, eher noch schwoll er
an. Sie wußten mehr über ihn als er selbst. Sie warteten, und er
wußte nichts zu sagen. Sie fragten, und er wußte nichts zu
antworten. Sie kritisierten, und er wußte nichts zu
erwidern.
Es konnte doch nicht
sein, daß die unerhörte Erleichterung, die ihn noch vor einer
Stunde ganz ausgefüllt hatte, bereits wieder durch eine neue Angst
erstickt wurde. Es durfte nicht sein. Ich bin nicht zum Betrüger und nicht zum Mörder geworden. Was kann es
jetzt noch für einen Grund zur Angst geben. Perlmann nahm
einen langen Anlauf in diesem Gedanken und versuchte dann, in einem
einzigen Ruck die innere Freiheit zu erhaschen oder auch zu
erzwingen, die ihn unverwundbar machen würde gegenüber allem, was
die anderen sagten oder nicht sagten, gegenüber ihren Mienen und
Blicken, und auch gegenüber den Blicken, die in der peinlichen
Stille auf die glänzende Tischplatte fielen.
Er rief Giovanni an.
Er könne nun doch etwas für ihn tun und ihm zwei Kannen starken
Kaffee besorgen. Es blieben ihm noch sechs Stunden. Für einen
vollständigen Vortrag reichte das nicht. Aber er konnte ein Expose
schreiben, das sich mündlich weiterentwickeln ließ. Worauf es
ankam, war, etwas im Abstrakten zu entwickeln und die Umrisse einer
Konzeption zu zeichnen. Darauf würde sich die Diskussion dann
konzentrieren. Der verteilte Text, konnte er leichthin sagen, sei
im Grunde nebensächlich, er habe damit nur einen kleinen Einblick
in die Beobachtungen geben wollen, von denen er ursprünglich
ausgegangen sei.
Perlmann hatte
Herzklopfen, als er sich an den Schreibtisch setzte. Hier zu
sitzen, das hatte bisher geheißen, Leskovs Text zu übersetzen.
Stunde um Stunde, Tag für Tag hatte er sich immer weiter von der
Wirklichkeit entfernt. Jeder übersetzte Satz hatte ihn der
tödlichen Stille des Tunnels ein Stück näher gebracht. Ein leiser
Schwindel erfaßte ihn, als er nun den Stuhl sorgfältig
zurechtrückte, eine Zigarette anzündete und zum Kugelschreiber
griff. Vier Wochen lang war er diesem Augenblick ausgewichen. Seine
Hände waren klebrig, und das Klebrige übertrug sich auf den
Kugelschreiber. Er stand auf, wusch sich im Bad die Hände und
wischte den Stift ab. Giovanni brachte den Kaffee. Perlmann stellte
ihn erst rechts auf den Schreibtisch, dann links. Den Zettel mit
Kirstens Adresse warf er in den Papierkorb. Er legte eine
Ersatzpackung Zigaretten bereit und holte das rote Feuerzeug vom
Nachttisch. Im Bademantel würde er bald zu frieren beginnen. Er zog
sich vollständig an. Die helle Hose war indessen zu kühl. Der Riß
an der anderen aber störte. Dann eben die dunkle Flanellhose mit
den Blutflecken. Und es war doch besser, den leichteren Pullover
überzuziehen. Lieber dafür die Heizung etwas höher stellen. Wieder
rückte er den Stuhl zurecht. Er mußte dicht am Schreibtisch sein.
Aber nicht zu dicht.
Warum hatte er es
nicht schon viel früher versucht. Die Sätze kamen doch. Sie kamen
tatsächlich, einer nach dem anderen. Anfänglich hatte er Angst vor
jedem Punkt, denn danach konnte alles versiegen. Doch als das erste
Blatt voll war, wich die Angst, das Fühlen insgesamt trat in den
Hintergrund, und die ruhige Logik der Sätze selbst übernahm die
Regie. Seit Monaten, Jahren fast, hatte er sich jeden einzelnen
Satz mühsam abringen müssen, es hatte geschienen, als könne er für
alle Zukunft nur noch in ganz kleinen Einheiten denken. Und nun auf
einmal ergaben sich die Sätze wie von selbst auseinander, es baute
sich etwas auf, er schrieb einen Text, einen wirklichen Text.
Ich kann es doch noch. Jetzt ist alles wieder
in Ordnung.
Der Kugelschreiber
flog nun förmlich über die Seiten, und Perlmann schaffte es kaum,
die Gedanken, die sich jagten, auf dem Papier festzuhalten. Endlich
war der Knoten geplatzt. Er hatte wieder etwas zu sagen. Er nahm
den Stift nur vom Papier, um eine weitere Zigarette anzuzünden oder
sich die nächste Tasse Kaffee einzuschenken. Er rauchte mit der
linken Hand, und auch die Tasse führte er mit dieser Hand zum Mund,
ungewohnt, aber die rechte durfte beim Schreiben nicht unterbrochen
werden. Nicht ein Expose, es wird ein Vortrag,
ein vollständiger Vortrag. Durch die ungewohnte Art, die
Zigarette zu halten, geriet ihm öfter Rauch in die Augen, es
brannte, und die Augen tränten, aber die rechte Hand schrieb weiter
und weiter. Er war erstaunt und beglückt, wie gut, wie treffend die
Formulierungen waren, die da mit der größten Selbstverständlichkeit
aufs Papier flossen, einige von ihnen, fand er, hatten geradezu
poetische Kraft. Hoffentlich reichte das Papier, sonst mußte er
anfangen, die Blätter beidseitig zu beschreiben. Irgendwann würde
ihm der Kaffee ausgehen. Ein Glück, daß es im Schrank noch mehr
Zigaretten gab. Hoffentlich streikte nicht plötzlich das Feuerzeug.
Einmal hielt er inne und schloß die Augen. Gegenwart. Das ist sie. Jetzt erlebe ich sie endlich. Es
hat all dieser Erschütterungen bedurft, um zu ihr
durchzustoßen.
Um fünf öffnete er
das Fenster. Schwaden von Rauch trieben in die Nacht hinaus. Er
atmete die kühle Luft tief ein. Es wurde ihm schwindlig, und er
mußte sich am Fenstergriff festhalten. Er spürte, daß er sich in
halsbrecherischer Fahrt über hauchdünnes Eis bewegte. Das
Lichterband jenseits der Bucht war ganz regelmäßig, schmal und
still. Als sein Blick die Strandmole beim REGINA ELENA streifte,
schloß er rasch das Fenster. Er wollte glauben, es käme ihm vor,
als seien jene Dinge vor sehr langer Zeit geschehen.
Er wußte nicht
sofort, wie er den nächsten Absatz beginnen sollte, und geriet in
Panik. Doch dann las er die letzten drei Seiten, und darüber fand
er zurück in den Rausch des Schreibens. Nach einer Weile, als er
keinen Kaffee mehr hatte, wurde die Zunge pelzig. Ärgerlich über
die Unterbrechung ging er ins Bad und trank ein Glas Wasser. Er war
sein bleiches, von Angst gezeichnetes Gesicht gewohnt, er hatte es
in den letzten Tagen oft genug gesehen. Jetzt aber erschrak er
doch. Seine Züge waren eingefallen und verrutscht. Er dachte an
Bilder von Menschen, die einer vervielfachten Schwerkraft
ausgesetzt wurden. Aber das zählte jetzt nicht. Was zählte, waren
die Sätze, die hinter diesem Gesicht entstanden und in seine rechte
Hand flossen. Es war durch und durch rätselhaft, wie das vor sich
ging, es gab da einen Abgrund von Unverstandenem, und für einen
kurzen Augenblick erlebte Perlmann die Faszination des
Wissenschaftlers vor einem rätselhaften Phänomen, eine Faszination,
die ihm abhanden gekommen war. Es wird alles
wieder ins Lot kommen. Obwohl er keine Kopfschmerzen hatte,
entnahm er der Packung auf der Spiegelablage zwei Aspirin und
spülte sie hinunter. Dann ging er mit einem Glas Wasser zurück an
den Schreibtisch.
Kurz vor sieben
begann es zu dämmern. Ohne das Dunkel der Nacht fühlte er sich
schutzlos und geriet aus dem Gleichgewicht. Die Sätze begannen zu
mißlingen, er mußte einige durchstreichen, und bald kam es zum
ersten Blatt, das er zerknüllt in den Papierkorb warf. Die Mischung
aus Lampenlicht und aufkommendem Tageslicht machte ihn rasend. Als
er hinüberging und die Stehlampe löschte, gab es bei jedem Schritt
heftige Stiche aus dem Fußgelenk, in dem er zudem eine unangenehme
Kraftlosigkeit spürte. Ganz ohne elektrisches Licht ging es doch
noch nicht, und er knipste die Schreibtischlampe wieder an. Das
Gedächtnis fing an zu streiken, die einfachsten englischen Wörter
fielen ihm nicht mehr ein, und mit einemmal war er auch bei der
Rechtschreibung unsicher.
Eine kleine Pause.
Er konnte sich, bis es richtig hell war, ein bißchen hinlegen. Nur
ein paar Minuten. Danach blieben immer noch anderthalb Stunden, um
den Vortrag zu Ende zu schreiben.