40
 
In der Empfangshalle des REGINA ELENA lärmten angetrunkene Hochzeitsgäste und drängten dem Nachtportier, der seinen Ärger unter einem säuerlichen Lächeln zu verbergen suchte, ein Glas Champagner auf. Ihn konnte er unter diesen Umständen unmöglich bitten, nach einem Taxi zu telefonieren, er war ja nicht einmal Hotelgast. Gettoni hatte er keine, Telefonzellen nützten ihm also nichts. Er ging hinüber zum MIRAMARE und lehnte sich am Fuß der Freitreppe gegen die Wand. Rasch hineinhuschen, Giovanni die paar Worte sagen und dann sofort wieder hierher, um ungesehen auf das Taxi zu warten. Es würde drinnen keine zehn Sekunden dauern. Daß er just dann jemandem von den anderen begegnete, war unwahrscheinlich, es war bereits halb eins. Aber ausgeschlossen war es nicht. Laura Sand zum Beispiel machte um diese Zeit manchmal noch einen Spaziergang.
Perlmann ging die ersten Stufen hinauf, bis er über die Kante der Terrasse hinweg den Eingang sehen konnte. Er hatte Herzklopfen und atmete unwillkürlich ganz flach. Giovanni hielt einen Ellbogen auf die Theke gestützt und las Zeitung. Noch einmal überlegen. Erneut lehnte er sich gegen die Wand. Sonst mußte er in der Stadt nach einem Taxistand suchen. Er konnte sich hinauf bis zum Bahnhof schleppen. Aber hier hielt mitten in der Nacht kaum noch ein Zug, was sollten dort jetzt Taxis. Und an einen anderen Stand konnte er sich nicht erinnern. Er würde mit bleiernen Gliedern durch die stillen Gassen irren, jeder Schritt eine Tortur. Wieder warf er einen Blick hinüber zum Empfang. Giovanni lehnte jetzt mit gestreckten Armen gegen die Theke und las unten auf der Seite. In der Bar bewegten sich Schatten, und einen Moment später ging ein grauhaariger Mann durch die Halle zum Aufzug. Es war zu gefährlich. Er müßte noch ein, zwei Stunden warten. Er schloß die Augen. Eine lähmende Unentschlossenheit ergriff Besitz von ihm.
«Buona sera, Dottore», sagte Signora Morelli, die mit energischem Schritt und wehendem Mantel die Treppe herunterkam.«Ist... ist etwas nicht in Ordnung? Warten Sie auf jemanden?»
«Nein, nein... nichts», erwiderte Perlmann aufgeschreckt und gab sich Mühe mit der Aussprache. Und weil es unmöglich schien, sonst gar nichts zu sagen, fügte er hinzu:«Sie noch hier?»
«Ja, leider», sagte sie und schnitt eine Grimasse.«Die Steuer, man hat nichts als Ärger mit der Steuer. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Ich habe bis eben daran gesessen.»Sie lächelte.«Na ja, ist ja auch verrückt, ein solches Hotel ohne mehr leitendes Personal zu führen, fast wie einen Familienbetrieb. »
Es war das erste Mal, daß er etwas so Persönliches von ihr hörte, und hätte er noch ihrer Welt, und überhaupt der Welt, angehört, so wäre er, statt nur stumm zu nicken, sehr gern darauf eingegangen.
«Ach, übrigens», sagte sie, schon zum Gehen gewandt,«ich habe Ihnen das Original Ihres Texts ins Fach gelegt. Ich habe es am Samstag in der Eile neben dem Kopierer liegenlassen. Ich hoffe, Sie haben es nicht vermißt. »
Perlmann verstand nicht. Und er wollte auch nicht verstehen. Er wollte nie mehr einen Satz verstehen müssen, in dem Wörter wie Text, Original und Kopie vorkamen. Nie mehr.
«Venga», sagte die Signora, als sie sein leeres Gesicht sah, und ging wieder die Treppe hinauf. Es war unmöglich, ihr nicht zu folgen. Sie schob Giovanni, der überrascht von der Zeitung aufsah und grüßte, beiseite und nahm einen Text aus Perlmanns Fach.«Eccolo», sagte sie.«Aber jetzt muß ich wirklich gehen. Buona notte!»
Giovanni sah ihn fragend an, als sie draußen war.
«Ein Taxi», sagte er,«ich brauche ein Taxi.»Giovanni griff zum Hörer.
Daß er verwirrt war, merkte Perlmann nur daran, daß er entgegen seinem Vorsatz stehenblieb, während Giovanni telefonierte. Den Text hielt er in der herunterhängenden Hand, und er hielt ihn so, wie man etwas hält, das man bei nächster Gelegenheit in den Rinnstein fallen läßt. Er wollte nie mehr einen Text in der Hand halten. Nie mehr.
Die Taxizentrale ließ sich Zeit, und es entstand ein unangenehmes, wortloses Warten. Es war einzig und allein, um gegen dieses Warten etwas zu tun, daß Perlmann auf seine Hand mit dem Text hinuntersah. Und es dauerte einen Moment, bis er das längliche Kärtchen bemerkte, das unter der Heftklammer steckte, die den Blätterstoß zusammenhielt. Noch bevor er wußte, was darauf stand, fing etwas in ihm an zu vibrieren. Ruckartig winkelte er den Arm an, brachte das Kärtchen vor die Augen und las: 6 copie. Per il gruppo di Perlmann. Distribuire, come sempre. Er verstand nicht, die Kopiervorlage habe ich doch vorhin weggeworfen, aber sein Atem ging schneller, er las noch einmal, hob das Kärtchen an, und da sah er den Titel: MESTRE NON È BRUTTA. Darunter sein Name.
Mehrere Sekunden lang blieb er reglos stehen, blind und taub für die Umgebung, eingehüllt in das Pochen seines Bluts. Maria. Der Anruf aus Genua. Sie hat meine Aufzeichnungen doch noch fertig geschrieben. Trotz der Leute von Fiat.
Es dauerte, bis der Gedanke den Weg zum Körper gefunden hatte. Dann rannte Perlmann los, er stieß sich an der Tür, knickte auf der Treppe mit dem Fuß ein und verlor einen Schuh, aber er rannte trotz der Schmerzen und trotz des kalten Pflasters wie noch nie in seinem gesamten Leben, den eingerollten Text in der Faust wie einen Staffettenstab, er bekam Seitenstechen und mußte husten, gütiger Gott, hoffentlich denke ich das Richtige, jetzt sah er die Gestalt von Signora Morelli, wie sie am Jachthafen entlangging, er rannte mit einer Lunge, die zu zerbersten drohte, fürs Rufen blieb kein Atem, und endlich, als die weichen Knie ihn schon nicht mehr tragen wollten und er zu stolpern begann, hatte er sie eingeholt. Er brachte kein Wort heraus, bückte sich nur atemlos und hustete, die Hände wegen der Stiche an die Rippen gepreßt.
«Diese Notiz hier», stieß er schließlich stockend hervor, und jetzt war es ihm gleichgültig, daß ihm der Mund nicht recht gehorchte,«heißt das, daß Sie den Text sechsmal kopiert haben?»
«Si, Dottore», sagte sie, und auf ihrem Gesicht machte die anfängliche Überraschung einem Ausdruck der Abwehr und Verteidigungsbereitschaft Platz.
«Und das waren die Kopien, die Sie am Samstag morgen in die Fächer meiner Kollegen getan haben?»
«Si.»
«Und Sie haben keinen anderen Text kopiert und verteilt?»«No, Signor Perlmann», sagte sie, jetzt sichtlich verärgert über das atemlose Verhör,«das ist der Text, den mir Maria hingelegt hatte. Einen anderen habe ich nicht bekommen. »
Er hielt Signora Morelli die Blätter so dicht vors Gesicht, als sei sie halbblind.
«Diesen Text hier? Diesen hier? Keinen anderen?»
Signora Morellis Ton änderte sich, als Perlmann die Blätter sinken ließ und sie in seinem Gesicht die Vorboten der Tränen erkannte.
«Aber ja, Dottore», sagte sie sanft,«es war dieser Text hier, genau dieser, und nur dieser. Was habe ich damit bloß angerichtet?»
«Angerichtet? Nichts, nichts», stammelte er zwischen den Tränen, die nicht mehr aufzuhalten waren,«im Gegenteil, das ist... das ist meine Rettung. »
Er wandte sich ab und suchte vergeblich nach einem Taschentuch. Dann fuhr er sich mit dem Jackenärmel über die Augen und sah sie wieder an.
«Entschuldigen Sie vielmals», sagte er leise und wehrte sich vergeblich gegen die erneuten Tränen,«ich kann Ihnen das unmöglich erklären, aber ich habe noch nie eine derartige Erleichterung empfunden. Sie ist... unbeschreiblich groß. Einfach unbeschreiblich.»
Als er die Hand wieder von den Augen nahm, sah sie ihn mit einem Blick an, als nähme sie ihn zum erstenmal richtig wahr. Sie lächelte und berührte ihn am Arm.«Dann sollten Sie jetzt schlafen gehen», sagte sie,«Sie sehen vollkommen erledigt aus. »
Er sah ihr nach, bis sie, ohne sich umzudrehen, in eine Gasse einbog. Es war ein Augenblick der Gegenwart. Die Gegenwart einer nicht mehr für möglich gehaltenen, wie ein Wunder erscheinenden Erlösung.
Als er dann, um die kostbare Gegenwart auszukosten, ganz langsam zurückging, stach es jedesmal wie mit Nadeln, wenn er mit dem eiskalten Fuß auftrat, und auch in der Lunge durchfuhr ihn von Zeit zu Zeit ein stechender Schmerz. Aber das spielte keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle außer der überwältigenden Erleichterung. Kein Plagiat. Ich habe kein Plagiat begangen. Kein Plagiat. Es war wie ein langsames, ungläubiges Auftauchen aus einer sehr großen, sehr dunklen Tiefe, begleitet von einer Schreckhaftigkeit, die er in jeder Faser des Körpers zu spüren meinte. Wieder las er Marias Anweisung auf dem Kärtchen. Und dann noch zwei weitere Male. Es war dieser Text, den Signora Morelli kopiert hatte, genau dieser, und nur dieser. Das hatte sie gesagt. Hat sie es gesagt?
Als er um die Ecke bog und die schrägen Pinien sah, die um diese Zeit nicht mehr beleuchtet waren, sondern sich nur noch durch ihr milchiges Graugrün gegen den Nachthimmel abhoben, zersprang seine Erleichterung, und es kam ihm vor, als würde er durch eine zentnerschwere Last erneut in die Tiefe hinuntergedrückt. Giovanni muß die Kopien selbst gemacht und verteilt haben, deshalb weiß sie nichts von Leskovs Text. Eine eiserne Kralle packte ihn an der Brust, und jeder einzelne Stich aus dem Fuß war eine wahre Folter, als er hastig zurückhumpelte, auf der Treppe in den verlorenen Schuh schlüpfte und schwer atmend an die Empfangstheke trat.
«Freitag nacht», stieß er hervor,«als das Fußballspiel im Fernsehen lief, da habe ich Ihnen doch einen Text gebracht. Was haben Sie damit gemacht?»
Giovanni schlug den Blick nieder.«Eh... nichts», sagte er und zog lange an der Zigarette. Dann, als er den Rauch ganz ausgestoßen hatte, sah er Perlmann mit unsicherem Blick an.«Es war nämlich so... ich war nicht recht bei der Sache, sozusagen, weil... Sehen Sie, da war halt dieses Ausgleichstor in der neunzigsten Minute, und dann das Elfmeterschießen... und nachher wußte ich nicht mehr, was genau Sie mir gesagt hatten, und da habe ich den Text einfach in Ihr Fach gelegt. Es tut mit leid, wenn deshalb etwas schiefgegangen ist, aber es war derart aufregend, daß... »
Perlmann schloß einen Moment die Augen und atmete im Zeitlupentempo aus. Dann legte er seine Hand auf diejenige von Giovanni.«Sie haben das Richtige getan», sagte er,«genau das Richtige. Ich bin sehr froh. La ringrazio. Mille grazie. Grazie.»
Giovanni fiel ein Stein vom Herzen.«Wirklich? Ich... Wissen Sie, ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen deswegen... Kann ich vielleicht jetzt noch etwas für Sie tun?»
«Nein, nichts», sagte Perlmann lächelnd,«und nochmals vielen Dank!»
Giovanni machte eine linkische, unterwegs abgebrochene Bewegung mit dem Arm, die besser als jedes Wort und jede Miene seiner Verwunderung Ausdruck verlieh.
Perlmann ging zum Aufzug, wartete ihn jedoch nicht ab, sondern begann, die Treppe hinaufzuhumpeln. Er ließ sich Zeit. Er war zu aufgewühlt, als daß er daraus schon einen Satz hätte machen können. Aber die Empfindung war da: Er konnte sich im Hotel wieder frei bewegen. Er war kein Betrüger.
Als es in der Leitung zu rauschen begann, legte er auf. Was hatte er ihr eigentlich sagen wollen? Dazu noch in einem alarmierenden Anruf nachts um Viertel vor zwei. Und mit seiner schweren Zunge. Seine Hand umschloß das rote Feuerzeug. Nun brauchte er ihr nichts zu erklären, sich für nichts zu entschuldigen. Er konnte seiner Tochter genau wie früher begegnen. Er war zurück aus dem Niemandsland. Kein Plagiat. Kein Plagiat, und kein Mord. Er wiederholte die Worte immer wieder, laut und in Gedanken, wer weiß wie viele Male, bis sie, ausgehöhlt von Müdigkeit, nicht mehr Ausdruck eines Gefühls waren, sondern nur noch ein mechanisches inneres Echo, das immer schleppender wurde.
Hätte ich nicht durch das Schreiben in der Hafenkneipe Selbstvertrauen gewonnen und den Mut, zu meinen eigenen Aufzeichnungen zu stehen, so hätte ich Maria nicht angerufen, und der Text wäre nicht rechtzeitig fertig geworden. Hätte ich die Hafenrundfahrt nicht gemacht und mich nicht ins Dolmetschen hineingesteigert, so wäre es nicht zum Schreiben in der Hafenkneipe gekommen. Also hatte genau diejenige Neigung, die ihn in höchste Gefahr gebracht hatte, nämlich sein Sprachfimmel, ihn zugleich auch gerettet. Perlmann atmete auf. Dieser Zusammenhang gab ihm das Gefühl, daß er die erlösende Wendung der Dinge nicht nur einer Verkettung von Zufällen zu verdanken hatte, sondern daß sie ihren Ursprung in ihm selbst hatte, in seiner Art zu denken und zu fühlen.
Er ging unter die Dusche und wusch sich die Haare. Die vielen aufgekratzten Stellen brannten. Aber es war ein heilsames Brennen, denn es trug dazu bei, daß der Nebel aus Alkohol und Tabletten sich zu lichten begann. Er duschte heiß und kalt und dann dasselbe noch einmal, neues Leben durchströmte ihn, und jetzt fühlte er sich wieder ganz nüchtern und klar.
Es stimmte gar nicht, daß er sich selbst gerettet hatte. Das genaue Gegenteil war der Fall: Hätte ich Maria nicht angerufen, wären die Fächer Samstag morgen leer geblieben, ich hätte Leskovs Text wieder mitgenommen und hätte den ganzen Alptraum mit dem Tunnel nicht zu durchleben brauchen. Sein Fanatismus des Übersetzens hatte ihn nicht nur an den Rand eines Plagiats gebracht, sondern auch noch an den Rand eines Mordes und Selbstmordes. Die fanatische, verzweifelte Suche nach Gegenwart in der Vertrautheit der fremden Sprachen hatte ihm damals in Genua für einen Augenblick den Mut gegeben, auch vor den anderen zu sich selbst zu stehen, und genau durch diesen Mut war es dazu gekommen, daß er drei endlose Tage und Nächte lang in einer Welt der Phantasmen und des Schreckens gelebt hatte, der in der wirklichen Welt nicht das geringste entsprach.
Gerettet haben mich einzig und allein Zufälle, banale Zufälle und Unachtsamkeiten. In Perlmanns Kopf öffnete sich eine Schleuse, und eine Kaskade von Wenn-dann-Gedanken überflutete ihn. Wäre nicht noch das Ausgleichstor geschossen worden, hätte es kein Elfmeterschießen gegeben, Giovanni wäre bei der Sache gewesen und hätte den Kopierauftrag für Leskovs Text weitergeleitet. Dann wären Samstag morgen beide Texte in den Fächern gewesen, und das hätte mir erlaubt, die Sache ohne Gesichtsverlust richtigzustellen. Hätte Giovanni gemacht, was er sollte, und wäre Maria wegen der Leute von Fiat nicht fertig geworden, dann wäre nur der fatale Text in die Fächer gelangt, die Katastrophe wäre, statt nur in meiner Vorstellung, in der wirklichen Welt eingetreten. Hätte Giovanni Leskovs Text auf der Ablage unter der Theke einfach vergessen, dann wäre mein Fach am Samstag morgen als einziges leer geblieben, ich hätte nachgefragt, den wahren Vorgang erfahren, und dann wäre es zu keinem Mordplan gekommen. Vielleicht hätte ich aber auch nicht nachgefragt, gelähmt wie ich war. Hätte Giovanni den Text auf der Ablage vergessen, dann wäre Signora Morelli beim Verteilen aufgefallen, daß mein Fach als einziges leer blieb, und dann hätte sie beim Kopierer nach dem Original gesucht. Hätte mein Fach in einer Reihe mit den Fächern der anderen gelegen, hätte ich also das Zimmer nicht gewechselt, so hätte die Signora beim Verteilen gestutzt, dann gesehen, daß der Text in meinem Fach ein anderer war, sie hätte beim Kopierer das Original gesucht, ich hätte, als ich aus Portofino zurückkam, zwei Texte im Fach gehabt, und durch Marias Kärtchen hätte sich die Sache schon da aufgeklärt. Hätte ich also nicht dieses übertriebene Bedürfnis nach leerem Raum, so wäre mir der Tunnel erspart geblieben. Hätte es am Samstag bei meiner Rückkehr aus Portofino nicht dieses Geräusch im Nebenraum gegeben, so hätte ich Silvestris Exemplar aus dem Fach genommen und den wahren Sachverhalt erkannt. Und hätte ich bei der Ankunft mit Leskov einen Blick auf den gefürchteten Text in meiner Hand geworfen, nur einen einzigen kurzen Blick, so hätte ich nicht in Gedanken ins schwarze Wasser hinauszuwaten brauchen.
Perlmann wußte, sie war absurd, diese Orgie von irrealen Bedingungssätzen, und nicht nur das, sie fraß auch die Erleichterung auf, so daß er sich jetzt in die Tränen der ersten Erlösung zurücksehnte. Aber dieses Wissen half nichts, die Suche nach immer weiteren Zusammenhängen war wie eine Sucht wider Willen. Hätte Larissa nicht ein schlechtes Gewissen geplagt, so hätte sie Leskov nicht zu einem erneuten Antrag gedrängt, es hätte kein Telegramm gegeben und keine Entlarvungsangst, und was sich heute nacht aufgelöst hätte, wäre nicht eine Selbstmordabsicht gewesen, sondern nur eine nagende Empfindung der Schuld. Hätte mir der Kellner das Telegramm nicht genau in dem Moment gebracht, wo ich Evelyn auf Leskovs Text ansprechen wollte, so hätte ich an ihren Äußerungen gemerkt, daß etwas nicht stimmte, und auch dann wäre mir der Bulldozer erspart geblieben. Hätte heute abend im REGINA ELENA keine Hochzeitsfeier stattgefunden, dann hätte ich vielleicht dort nach einem Taxi telefonieren lassen, und dann hätte ich Kirsten in Konstanz ein Plagiat erklärt, das gar nicht stattgefunden hat. Perlmann hörte auf.
Nun hatten sie also seit Tagen seine Aufzeichnungen in der Hand, überschrieben mit einem italienischen Satz, der ihnen manieriert und angeberisch vorkommen mußte. Er nahm den Computerausdruck in die Hand. Zweiundfünfzig Seiten waren es geworden. Ich hätte es am Umfang, an der Dicke der Blätterstöße merken können. Dreiundsiebzig Seiten in meinem Fach gegenüber zweiundfünfzig in den Fächern der anderen, das ist ein Unterschied, den man schon von weitem hätte erkennen können. Und heute abend, bei der Ankunft, hätte ich es in der Hand spüren können, daß es nicht Leskovs Text sein konnte; daß der Stoß zu dünn war.
Er ließ die Blätter durch die Finger gleiten und wog den Stoß in der Hand. Richtig zu blättern und probeweise zu lesen, das wagte er nicht, und er achtete darauf, daß sich der Blick auch im obersten Blatt nicht verfing. Er wollte jetzt, wo er sich wie der Überlebende einer Katastrophe fühlte, nicht auch noch in dieser Form über sich selbst erschrecken müssen – etwa über kitschige Metaphern oder einen larmoyanten Ton. Und auch seinem schriftlichen Englisch wollte er jetzt nicht begegnen – einem Englisch, das selten regelrecht falsch war und doch nie die anstrengungslose Genauigkeit besaß, die er sich gewünscht hätte. Er ließ die Blätter in die Schublade des Schreibtischs gleiten
Angelinis Bemerkung am Sonntag abend, dachte er, erschien jetzt in einem neuen Licht. Un lavoro insolito, hatte er den Text genannt. Auch war es kein Wunder, daß sonst niemand über den Text ein Wort verloren hatte. Daß sie ihn sozusagen totgeschwiegen hatten.
In sechseinhalb Stunden mußte er die drei Stufen zur Veranda hinaufgehen und sich vorne hinsetzen. Alle, die da saßen und ihn ansahen, hatten seinen Text vor sich liegen, und sie hatten ihn gegenwärtig von der ersten bis zur letzten Seite. Nur ich, ich allein, weiß nicht, was drinsteht. Das war ein offensichtlich falscher, widersinniger Gedanke, Perlmann wußte es. Noch am Freitag auf dem Schiff war er die Aufzeichnungen in Gedanken durchgegangen. Aber der Gedanke ließ sich nicht vertreiben, eher noch schwoll er an. Sie wußten mehr über ihn als er selbst. Sie warteten, und er wußte nichts zu sagen. Sie fragten, und er wußte nichts zu antworten. Sie kritisierten, und er wußte nichts zu erwidern.
Es konnte doch nicht sein, daß die unerhörte Erleichterung, die ihn noch vor einer Stunde ganz ausgefüllt hatte, bereits wieder durch eine neue Angst erstickt wurde. Es durfte nicht sein. Ich bin nicht zum Betrüger und nicht zum Mörder geworden. Was kann es jetzt noch für einen Grund zur Angst geben. Perlmann nahm einen langen Anlauf in diesem Gedanken und versuchte dann, in einem einzigen Ruck die innere Freiheit zu erhaschen oder auch zu erzwingen, die ihn unverwundbar machen würde gegenüber allem, was die anderen sagten oder nicht sagten, gegenüber ihren Mienen und Blicken, und auch gegenüber den Blicken, die in der peinlichen Stille auf die glänzende Tischplatte fielen.
Er rief Giovanni an. Er könne nun doch etwas für ihn tun und ihm zwei Kannen starken Kaffee besorgen. Es blieben ihm noch sechs Stunden. Für einen vollständigen Vortrag reichte das nicht. Aber er konnte ein Expose schreiben, das sich mündlich weiterentwickeln ließ. Worauf es ankam, war, etwas im Abstrakten zu entwickeln und die Umrisse einer Konzeption zu zeichnen. Darauf würde sich die Diskussion dann konzentrieren. Der verteilte Text, konnte er leichthin sagen, sei im Grunde nebensächlich, er habe damit nur einen kleinen Einblick in die Beobachtungen geben wollen, von denen er ursprünglich ausgegangen sei.
Perlmann hatte Herzklopfen, als er sich an den Schreibtisch setzte. Hier zu sitzen, das hatte bisher geheißen, Leskovs Text zu übersetzen. Stunde um Stunde, Tag für Tag hatte er sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernt. Jeder übersetzte Satz hatte ihn der tödlichen Stille des Tunnels ein Stück näher gebracht. Ein leiser Schwindel erfaßte ihn, als er nun den Stuhl sorgfältig zurechtrückte, eine Zigarette anzündete und zum Kugelschreiber griff. Vier Wochen lang war er diesem Augenblick ausgewichen. Seine Hände waren klebrig, und das Klebrige übertrug sich auf den Kugelschreiber. Er stand auf, wusch sich im Bad die Hände und wischte den Stift ab. Giovanni brachte den Kaffee. Perlmann stellte ihn erst rechts auf den Schreibtisch, dann links. Den Zettel mit Kirstens Adresse warf er in den Papierkorb. Er legte eine Ersatzpackung Zigaretten bereit und holte das rote Feuerzeug vom Nachttisch. Im Bademantel würde er bald zu frieren beginnen. Er zog sich vollständig an. Die helle Hose war indessen zu kühl. Der Riß an der anderen aber störte. Dann eben die dunkle Flanellhose mit den Blutflecken. Und es war doch besser, den leichteren Pullover überzuziehen. Lieber dafür die Heizung etwas höher stellen. Wieder rückte er den Stuhl zurecht. Er mußte dicht am Schreibtisch sein. Aber nicht zu dicht.
 
Warum hatte er es nicht schon viel früher versucht. Die Sätze kamen doch. Sie kamen tatsächlich, einer nach dem anderen. Anfänglich hatte er Angst vor jedem Punkt, denn danach konnte alles versiegen. Doch als das erste Blatt voll war, wich die Angst, das Fühlen insgesamt trat in den Hintergrund, und die ruhige Logik der Sätze selbst übernahm die Regie. Seit Monaten, Jahren fast, hatte er sich jeden einzelnen Satz mühsam abringen müssen, es hatte geschienen, als könne er für alle Zukunft nur noch in ganz kleinen Einheiten denken. Und nun auf einmal ergaben sich die Sätze wie von selbst auseinander, es baute sich etwas auf, er schrieb einen Text, einen wirklichen Text. Ich kann es doch noch. Jetzt ist alles wieder in Ordnung.
Der Kugelschreiber flog nun förmlich über die Seiten, und Perlmann schaffte es kaum, die Gedanken, die sich jagten, auf dem Papier festzuhalten. Endlich war der Knoten geplatzt. Er hatte wieder etwas zu sagen. Er nahm den Stift nur vom Papier, um eine weitere Zigarette anzuzünden oder sich die nächste Tasse Kaffee einzuschenken. Er rauchte mit der linken Hand, und auch die Tasse führte er mit dieser Hand zum Mund, ungewohnt, aber die rechte durfte beim Schreiben nicht unterbrochen werden. Nicht ein Expose, es wird ein Vortrag, ein vollständiger Vortrag. Durch die ungewohnte Art, die Zigarette zu halten, geriet ihm öfter Rauch in die Augen, es brannte, und die Augen tränten, aber die rechte Hand schrieb weiter und weiter. Er war erstaunt und beglückt, wie gut, wie treffend die Formulierungen waren, die da mit der größten Selbstverständlichkeit aufs Papier flossen, einige von ihnen, fand er, hatten geradezu poetische Kraft. Hoffentlich reichte das Papier, sonst mußte er anfangen, die Blätter beidseitig zu beschreiben. Irgendwann würde ihm der Kaffee ausgehen. Ein Glück, daß es im Schrank noch mehr Zigaretten gab. Hoffentlich streikte nicht plötzlich das Feuerzeug. Einmal hielt er inne und schloß die Augen. Gegenwart. Das ist sie. Jetzt erlebe ich sie endlich. Es hat all dieser Erschütterungen bedurft, um zu ihr durchzustoßen.
Um fünf öffnete er das Fenster. Schwaden von Rauch trieben in die Nacht hinaus. Er atmete die kühle Luft tief ein. Es wurde ihm schwindlig, und er mußte sich am Fenstergriff festhalten. Er spürte, daß er sich in halsbrecherischer Fahrt über hauchdünnes Eis bewegte. Das Lichterband jenseits der Bucht war ganz regelmäßig, schmal und still. Als sein Blick die Strandmole beim REGINA ELENA streifte, schloß er rasch das Fenster. Er wollte glauben, es käme ihm vor, als seien jene Dinge vor sehr langer Zeit geschehen.
Er wußte nicht sofort, wie er den nächsten Absatz beginnen sollte, und geriet in Panik. Doch dann las er die letzten drei Seiten, und darüber fand er zurück in den Rausch des Schreibens. Nach einer Weile, als er keinen Kaffee mehr hatte, wurde die Zunge pelzig. Ärgerlich über die Unterbrechung ging er ins Bad und trank ein Glas Wasser. Er war sein bleiches, von Angst gezeichnetes Gesicht gewohnt, er hatte es in den letzten Tagen oft genug gesehen. Jetzt aber erschrak er doch. Seine Züge waren eingefallen und verrutscht. Er dachte an Bilder von Menschen, die einer vervielfachten Schwerkraft ausgesetzt wurden. Aber das zählte jetzt nicht. Was zählte, waren die Sätze, die hinter diesem Gesicht entstanden und in seine rechte Hand flossen. Es war durch und durch rätselhaft, wie das vor sich ging, es gab da einen Abgrund von Unverstandenem, und für einen kurzen Augenblick erlebte Perlmann die Faszination des Wissenschaftlers vor einem rätselhaften Phänomen, eine Faszination, die ihm abhanden gekommen war. Es wird alles wieder ins Lot kommen. Obwohl er keine Kopfschmerzen hatte, entnahm er der Packung auf der Spiegelablage zwei Aspirin und spülte sie hinunter. Dann ging er mit einem Glas Wasser zurück an den Schreibtisch.
Kurz vor sieben begann es zu dämmern. Ohne das Dunkel der Nacht fühlte er sich schutzlos und geriet aus dem Gleichgewicht. Die Sätze begannen zu mißlingen, er mußte einige durchstreichen, und bald kam es zum ersten Blatt, das er zerknüllt in den Papierkorb warf. Die Mischung aus Lampenlicht und aufkommendem Tageslicht machte ihn rasend. Als er hinüberging und die Stehlampe löschte, gab es bei jedem Schritt heftige Stiche aus dem Fußgelenk, in dem er zudem eine unangenehme Kraftlosigkeit spürte. Ganz ohne elektrisches Licht ging es doch noch nicht, und er knipste die Schreibtischlampe wieder an. Das Gedächtnis fing an zu streiken, die einfachsten englischen Wörter fielen ihm nicht mehr ein, und mit einemmal war er auch bei der Rechtschreibung unsicher.
Eine kleine Pause. Er konnte sich, bis es richtig hell war, ein bißchen hinlegen. Nur ein paar Minuten. Danach blieben immer noch anderthalb Stunden, um den Vortrag zu Ende zu schreiben.
Perlmanns Schweigen: Roman
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
dummy_split_000.html
dummy_split_001.html
dummy_split_002.html
dummy_split_003.html
dummy_split_004.html
dummy_split_005.html
dummy_split_006.html
dummy_split_007.html
dummy_split_008.html
dummy_split_009.html
dummy_split_010.html
dummy_split_011.html
dummy_split_012.html
dummy_split_013.html
dummy_split_014.html
dummy_split_015.html
dummy_split_016.html
dummy_split_017.html
dummy_split_018.html
dummy_split_019.html
dummy_split_020.html
dummy_split_021.html
dummy_split_022.html
dummy_split_023.html
dummy_split_024.html
dummy_split_025.html
dummy_split_026.html
dummy_split_027.html
dummy_split_028.html
dummy_split_029.html
dummy_split_030.html
dummy_split_031.html
dummy_split_032.html
dummy_split_033.html
dummy_split_034.html
dummy_split_035.html
dummy_split_036.html
dummy_split_037.html
dummy_split_038.html
dummy_split_039.html
dummy_split_040.html
dummy_split_041.html
dummy_split_042.html
dummy_split_043.html
dummy_split_044.html
dummy_split_045.html
dummy_split_046.html
dummy_split_047.html
dummy_split_048.html
dummy_split_049.html
dummy_split_050.html
dummy_split_051.html
dummy_split_052.html
dummy_split_053.html
dummy_split_054.html
dummy_split_055.html
dummy_split_056.html
dummy_split_057.html
dummy_split_058.html
dummy_split_059.html
dummy_split_060.html
dummy_split_061.html
dummy_split_062.html
dummy_split_063.html
dummy_split_064.html
dummy_split_065.html
dummy_split_066.html
dummy_split_067.html
dummy_split_068.html
dummy_split_069.html
dummy_split_070.html
dummy_split_071.html