26
Ich muß verrückt gewesen sein,
komplett verrückt. Mit einem Schlag wurde Perlmann von einer
schmerzhaften Wachheit überfallen, einer Wachheit hinter
geschlossenen Augen, umspült von körperlicher Benommenheit. Es war
Viertel vor acht. Hastig und noch unsicher in den Bewegungen zog er
die Hose und den Pullover über den Schlafanzug und schlüpfte ohne
Socken in die Schuhe. Vielleicht sind die
Kopien noch gar nicht fertig, sonst sammle ich sie einfach wieder
ein, noch ist nichts geschehen.
In eckigen
Bewegungen, die seine Benommenheit verrieten, rannte er die Treppe
hinunter, und einmal wäre er fast gestürzt. Kurz vor dem letzten
Treppenabsatz kam er zum Stehen, indem er sich mit beiden Händen
ans Geländer klammerte. Unten an der Theke standen Millar und von
Levetzov und nahmen die Texte entgegen, die Signora Morelli ihnen
reichte.
«Das Papier ist noch
warm», sagte Millar grinsend und ließ den Blätterstoß den Daumen
entlanggleiten wie ein Kartenspiel.
Die anderen Kopien
steckten noch in den Fächern. Minuten, ich bin
nur um Minuten zu spät gekommen, aber jetzt kann ich nicht mehr
hingehen und den Text zurückfordern, damit würde ich mich unmöglich
machen, das kann man nicht erklären. Wäre die Signora nur weniger
tüchtig gewesen, nur dieses eine Mal.
Perlmann hastete
zurück ins Zimmer, dabei stockte ihm auf jedem Absatz der Atem bei
der Vorstellung, jetzt einem der anderen Kollegen in die Arme zu
laufen. Im Badezimmer spülte er den Mund aus und setzte sich dann
mit einer Zigarette in den roten Sessel. Es war ihm schwindlig. Er
hatte eine Schwelle überschritten, hinter die er nie wieder würde
zurückgehen können. Mit diesem Betrug, dessen Folgen sich nun
unaufhaltsam entfalteten, würde er leben müssen, für immer.
Übermorgen und am Tag danach würde er in der Veranda Marconi sitzen
und einen Text verteidigen, den er gestohlen hatte. Die Stunden,
die Minuten, die er dort als unerkannter Betrüger vor den anderen
saß, würden endlos dauern, und wenn der Aufenthalt hier vorbei war,
würde er die Wohnung in Frankfurt als Betrüger betreten. Er würde
das Bild von Agnes betrachten und mit Kirsten sprechen, stets im
Bewußtsein dieses Betrugs. Nichts würde mehr sein wie vorher. Das
Plagiat stand nun für immer zwischen ihm und der Welt wie eine
dünne Wand aus Glas, sichtbar nur für ihn. Er würde die Dinge und
Menschen berühren, ohne sie jemals erreichen zu
können.
Er konnte nicht in
diesem Gebäude bleiben, in dem Menschen saßen, die in den nächsten
Stunden Leskovs Gedankengängen in der Annahme folgten, es seien
seine. Und er hielt es in diesem Hotelzimmer nicht mehr aus, für
das seit vier Wochen pro Tag fast dreihundert Mark bezahlt wurden,
ohne daß er darin das geringste geleistet hatte. Außer einer
Übersetzung, die jetzt zu einer betrügerischen Übersetzung geworden
war.
Er duschte nicht, es
stand ihm von nun an nicht mehr zu, das luxuriöse Badezimmer länger
als unbedingt nötig zu benutzen. Nachdem er sich richtig angezogen
hatte, hätte er gerne noch Kaffee bestellt, um die Nachwirkung der
Tablette zu bekämpfen, die ihn vor nichts mehr zu schützen
vermochte und nur noch als ein fortwährender Druck über den Augen
lag, so daß er ständig das Bedürfnis hatte, sie zu schließen. Aber
nicht einmal dem Kellner mochte er unter die Augen treten, und auch
Zimmerservice gehörte zu den Dingen, auf die er in Zukunft kein
Anrecht mehr hatte.
Er verließ das Hotel
durch den Hinterausgang und trat hinaus in einen wolkenlosen,
strahlenden Herbsttag. So schnell er konnte ging er auf den
Felsvorsprung zu, hinter dem die Straße nach Portofino verschwand,
die letzten Meter, bevor er außer Sichtweite des Hotels war, rannte
er fast. Aber sie wissen es doch gar nicht.
Trotzdem, ich muβ aus ihrem Blickfeld verschwinden. Er wagte
nicht, sich hinter der Biegung auf das Geländer zu lehnen. Er hätte
unweigerlich ausgesehen wie ein Urlauber, ein Kurgast, der einen
phantastischen italienischen Herbstmorgen genoß. So rauchte er die
Zigarette aufrecht und steif, die eine Hand in der Hosentasche. Er
mußte gehen, immer weiter, im Gehen ließ es sich noch am ehesten
ertragen. Der Magen tat ihm weh, seit den wenigen Bissen Pizza
gestern in Genua hatte er nichts mehr gegessen, und jetzt die
Zigaretten.
Es fiel ihm schwer,
sich zu vergegenwärtigen, wie genau das gestern nacht gewesen war.
Am meisten Schwierigkeiten bereitete der Versuch, die innere
Gestalt jenes Moments zurückzurufen, in dem er Leskovs Text aus dem
Koffer genommen hatte und zur Tür gegangen war. Während dieser
Sekunden war es geschehen, da war etwas in Gang gesetzt worden, das
nicht mehr abgebrochen werden konnte, eine Bewegungsfolge, die ihn
bis zum Ende mit sich riß, bis zu der fatalen Armbewegung, mit der
er Giovanni den Text übergeben hatte, und bis zu der mühsamen
Bewegung des Mundes, mit der er die verhängnisvolle Anweisung zum
Kopieren und Verteilen gegeben hatte. Als er jetzt mit
geschlossenen Augen daran zurückdachte, kam ihm jenes Geschehen wie
etwas vor, was gar keine Handlung gewesen, sondern über ihn
gekommen, ihm einfach zugestoßen war; oder wenn es eine Handlung
war, dann eine wie die eines Schlafwandlers. Einen Augenblick lang
verschaffte ihm dieser Gedanke Erleichterung, und sein Schritt
wurde ein bißchen leichter.
Aber das hielt nicht
lange an. Es war, darüber konnte man nicht hinwegsehen, etwas im
Gefüge seines eigenen Denkens und Fühlens gewesen, das diese eine,
ganz bestimmte Bewegungsfolge in Gang gesetzt hatte, und nicht eine
andere. Auf dem Schiff gestern hatte es nach einem Gleichgewicht
der Gründe ausgesehen. Die drei Möglichkeiten des Handelns hatten
sich genau die Waage gehalten, sie schienen alle drei in gleichem
Maße unausdenkbar, und darin hatte die Qual bestanden. In seinem
unruhigen Schlaf dann mußte es in ihm gearbeitet haben, ein
Kräftespiel mußte stattgefunden haben, und am Ende hatte etwas,
vielleicht nur ein winziges Übergewicht einer Empfindung, den
Ausschlag gegeben.
Obgleich die Sonne
direkt auf ihn herunterschien, knöpfte Perlmann die Jacke zu. Bei
dem Gedanken, daß er einer war, in dem, ohne daß er es merkte und
ohne daß er einzugreifen vermochte, der Betrug die Oberhand
gewinnen konnte, fror er. Das einzige, was er dieser Tatsache
entgegenzusetzen hatte, so daß sie ihn nicht vollständig erdrückte,
war eine Erklärung für das innere Geschehen. Seine Angst vor der
persönlichen Entblößung, davor, ohne jede Möglichkeit der
Abgrenzung gegen die anderen dazustehen, mußte noch viel größer
sein, als er bisher angenommen hatte, größer sogar als seine
bewußten Empfindungen. Offenbar war sie so mächtig, daß die beiden
anderen Möglichkeiten irgendwo in der Tiefe, ohne sein Zutun,
ausgeschieden worden waren und nichts anderes übrig blieb, als sich
hinter Leskovs Text zu verstecken, der ihn gegen die anderen
schützen sollte. Auf diese Weise war, ohne daß er es bemerkt hätte,
der paradoxe Wille in ihm entstanden, seine Abgrenzung, die
Verteidigung des Eigenen gegen das Fremde, durch ein Instrument zu
erreichen, das gar nicht ihm selbst gehörte, nichts Eigenes
war.
Diese Erklärung
vermochte nichts zu mildern und zu beschönigen. Aber sie stellte
eine Einsicht dar, die ihm einen kleinen Rest von innerer Freiheit
zurückgab, die Freiheit des Erkennenden.
Über dem
spiegelglatten, blendenden Wasser lag eine Schicht von feinstem
Nebel, genau wie gestern, als er vorne im Schiff gestanden und
versucht hatte, seine Sinne für diese leuchtende Gegenwart zu
öffnen. Aber zwischen gestern und heute lagen Äonen. Gestern war
der Blick auf die Flächen von reinstem Glanz noch ein Blick in eine
offene Zukunft gewesen. Ihre Offenheit hatte ihn gequält, denn
jeder der möglichen Wege, auf denen er in sie hineingehen konnte,
war bedrohlich erschienen. Aber es war trotz allem eine offene
Zukunft gewesen, es hatte noch Verzweigungen des Handelns gegeben
und damit noch Hoffnung, oder doch wenigstens die Freiheit der
Ungewißheit. Jetzt war alles, die Ungewißheit und die Hoffnung,
vernichtet, die Zukunft war kein Spielraum von Möglichkeiten mehr,
sondern nur noch eine enge, verzweigungslose Strecke Zeit, auf der
er die unabänderlichen Konsequenzen seines Betrugs zu durchleben
hatte. In jenem alles entscheidenden Augenblick, als er Leskovs
Text über die Theke reichte und die unheilvollen Worte
herauspreßte, hatte er sich für immer einer offenen Zukunft beraubt
und damit auch jedweder Hoffnung, irgendwann vielleicht doch noch
zu seiner Gegenwart zu finden.
Die gleißende
Wasserfläche, die weiße Tiefe des Horizonts, das Gewölbe aus
durchsichtigem Azur, durchschnitten vom silbernen Schweif eines
steigenden Flugzeugs – all das war in unerreichbare Ferne gerückt,
unerreichbar für sein Erleben. Wenn man so etwas getan hatte wie
er, durfte man nicht mehr nach draußen sehen. Freude über
Schönheit, ein Augenblick des Glücks gar, das stand einem nicht
mehr zu. Der Preis für Betrug war Blindheit. Was blieb, war, sich
innerlich zusammenzukauern und den Strudel von Schuld und
Gegenwartslosigkeit über sich ergehen zu lassen. Die Welt draußen
war nur noch Kulisse, eine in ihrer Schönheit quälende Kulisse,
eine Marter.
Perlmann war froh,
daß man bis Portofino lange ging. Er hatte einen Rhythmus des
Gehens gefunden, durch den sich der Schmerz und die Verzweiflung in
der Schwebe halten ließen. Es war ein labiles Gleichgewicht, und
als er einmal anhalten und eine Gruppe Pfadfinder im Gänsemarsch
vorbeilassen mußte, stürzten die Empfindungen auf ihn ein, er war
ihnen schutzlos ausgeliefert, und erst nach einigen Minuten
erneuten Gehens hatte er wieder eine kleine Distanz zu ihnen
aufgebaut. Die rhythmische Bewegung und die Nachwirkung der
Schlaftablette verschmolzen zu einem Zustand, in dem es ihm bei
halb geschlossenen, auf den Asphalt gerichteten Augen zeitweilig
gelang, nichts zu denken.
In eine solche Phase
der inneren Leere hinein fiel der plötzliche Verdacht, daß die
frühere Erklärung für sein nächtliches Handeln ganz und gar nicht
stimmte. Die Wahrheit ist, daβ ich es
möglichst schnell hinter mich bringen wollte, was immer es sei, um
dann weiterschlafen zu können. Überhaupt nichts abzugeben
und vor den anderen mit leeren Händen dazustehen, diese Möglichkeit
hatte er nach dem Aufwachen um zehn mit keinem Gedanken gestreift,
und das war natürlich kein Zufall. Soweit stimmte die Erklärung,
die ein Entscheidungsgeschehen annahm, wenn auch ein unbewußtes.
Aber von einer Entscheidung zwischen seinen eigenen Aufzeichnungen
und Leskovs Text konnte keine Rede sein. Geschehen war etwas viel
Einfacheres, Banales: Er hatte zu Leskovs Text gegriffen, weil der
zur Hand war, weil er nichts weiter zu tun brauchte, als den Koffer
zu öffnen. Sich zu erkundigen, ob Maria wider Erwarten doch noch
mit dem Abschreiben seines eigenen Texts fertig geworden war, das
war ihm in diesem Moment zuviel gewesen. Er hatte nichts anderes
gewollt, als sich möglichst bald wieder hinzulegen und sich der
noch anhaltenden Wirkung der Tablette zu überlassen. Hinzu mochte
gekommen sein, dachte er und biß sich dabei auf die Lippen, daß er
einer Frage, die Maria betraf, ausgewichen war, weil seine
kindische Gekränktheit wegen ihrer geschäftsmäßigen Bemerkung am
Telefon immer noch anhielt. Auf jeden Fall, sagte er sich mit
erbitterter, selbstzerstörerischer Heftigkeit, war er im Grunde
ganz froh darüber gewesen, daß das Eintreffen der Leute von Fiat
diese Möglichkeit praktisch ausgeschlossen hatte.
Perlmann erschrak
über die Banalität dieser Erklärung, darüber, daß er sich in einer
Frage, bei der es um alles ging, von etwas so Primitivem wie einem
Schlafbedürfnis hatte bestimmen lassen, dazu noch von einem, das er
selbst hervorgerufen hatte. Die Tabletten, sie haben es
entschieden. Er war nicht sicher, ob das nicht am Ende noch
schlimmer war, als wenn es sich um eine unbewußte, aber immerhin
echte Entscheidung für den Betrug gehandelt hätte. Denn das, was
ihm jetzt, in seinem blinden Gehen, als die Wahrheit vorkam,
bedeutete nichts weniger, als daß er sich in jenem unseligen Moment
als Entscheidender, als Subjekt seines Tuns, abhanden gekommen
war.
Daß er in Portofino
angekommen war, kam Perlmann erst zu Bewußtsein, als er sich auf
dem Platz befand, wo die Busse für die Rückfahrt wendeten. Es
machte ihn ratlos, daß er jetzt hier war, er hatte in diesem
Portofino, wo es wie in einer Sackgasse nicht mehr weiterging,
nicht das geringste verloren. Er wollte vor allem in Bewegung
bleiben, um die innere Not in Schach zu halten, er fürchtete sich
davor, zum Stillstand zu kommen und den quälenden Empfindungen ohne
Gegenwehr ausgeliefert zu sein. Er nahm die Gasse, durch welche die
Touristen in der Saison hinunter zum Wasser strömen würden. Zu
dieser Jahreszeit waren die meisten Geschäfte geschlossen. Das
strahlende Wetter und der tote Eindruck, den der Ort machte, paßten
nicht zueinander. Auch die meisten Lokale um den kleinen Jachthafen
herum waren geschlossen. Beim letzten Cafe vorne auf dem Kai setzte
er sich an einen Bistrotisch und bestellte bei einem alten,
mürrischen Kellner, der ihn nicht anblickte, Kaffee und
Zigaretten.
Es war der erste
Kaffee an diesem Morgen, und er schüttete gierig zwei Tassen in
sich hinein. Wieder spürte er den Magen und würgte zwei
vertrocknete Brötchen hinunter, die er drinnen an der Theke geholt
hatte. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem leisen Geräusch der
Boote, wenn sie sanft aneinanderstießen. Für ein paar Minuten, in
einem Zustand zwischen Halbschlaf und willkürlicher Tätigkeit der
Einbildungskraft, gelang ihm die Illusion, im Urlaub zu sein: ein
Mann, der es sich leisten konnte, an einem schönen Novembermorgen
im berühmten Portofino Kaffee zu trinken, ungebunden, ein freier
Mann, der verreisen konnte, während die anderen arbeiten mußten,
einer, der es sich aussuchen konnte und niemandem Rechenschaft
schuldig war. Doch dann überfiel ihn wieder das Bewußtsein seiner
wirklichen Lage. Er war ein Betrüger, unentdeckt zwar, aber ein
Betrüger. Und nun kam ihm dieses Portofino wie eine Falle
vor.
Er hielt es nicht
mehr aus, rief nach dem Kellner, suchte ihn vergeblich in der
leeren Bar, legte dann, weil er nichts Kleineres fand, einen viel
zu großen Geldschein neben die Tasse und ging rasch zurück zur
Hauptgasse. Beim Fahrer des wartenden Busses, der draußen stand und
rauchte, löste er eine Fahrkarte und stieg hinten ein. Er blieb der
einzige Fahrgast. Als der Fahrer die Zigarette austrat und sich ans
Steuer setzte, sprang Perlmann im letzten Moment hinaus. Der Fahrer
blickte ihm im Rückspiegel verwundert nach und fuhr
ab.
Er wollte nicht
zurück, und er wollte schlafen. Er war versucht, sich einfach auf
die Bank bei der Haltestelle zu legen, aber das war zu öffentlich.
Ein Hotel. Er zählte sein Geld. Es würde, wenn überhaupt, nur für
ein ganz billiges Zimmer reichen. Er war erleichtert, für den
Augenblick ein Ziel zu haben, und ging durch die engen Gassen des
Orts. Viele Hotels hatten für den Winter geschlossen, und von den
offenen hatten selbst Klitschen von schäbigstem Aussehen Preise,
für die sein Geld nicht reichte.
Schließlich fand er
in einem Albergo, das auf eine enge Gasse mit lauter Mülltonnen
hinausging, ein Zimmer. Der Wirt, ein untersetzter, dicker Mann mit
Schnurrbart und Hosenträgern, musterte ihn mit mißtrauischem und
verächtlichem Blick, einen Mann ohne Gepäck und mit wenig Geld, der
morgens um halb zwölf ein Zimmer wollte. Perlmann mußte feilschen,
er wolle das Zimmer ja nur für ein paar Stunden, gut, bis fünf Uhr,
dafür Preisnachlaß, Barzahlung im voraus.
Er entfernte die
schmuddelige Tagesdecke und legte sich aufs Bett, die Hände unter
dem Kopf verschränkt. Die Decke, deren Putz bröckelte, war voll von
gelben und braunen Wasserflecken, in den Ecken hatten sich
Spinnweben gebildet, und in der Mitte hing eine häßliche Lampe aus
gelblichem Kunststoff, der Bernstein vortäuschen
sollte.
Notwehr, dachte er:
Konnte man das, was er getan hatte, nicht als eine Art Notwehr
auffassen? Ihm war, ohne daß er etwas dafür konnte, seine
Wissenschaft abhanden gekommen, mit der er sich Achtung und eine
soziale Position erworben hatte, und nun war er von den Erwartungen
der anderen, die immer neue Leistungen einklagten und mit dem
Entzug der Achtung drohten, an die Wand gedrängt worden und hatte
sich verteidigen müssen. Und da hatte er sich nicht mehr anders zu
helfen gewußt als durch Leskovs Text. Man konnte das durchaus als
eine Verteidigung des eigenen Lebens auffassen. Es war nicht
leichtfertig geschehen oder um eines billigen Vorteils willen,
sondern einzig und allein, um etwas abzuwenden, was seiner
beruflichen und letztlich auch persönlichen Vernichtung
gleichgekommen wäre. Notwehr eben.
Gut, dem Buchstaben
nach mußte man den Sachverhalt vielleicht wirklich als Plagiat
bezeichnen. Die anderen hielten in diesem Augenblick einen Text in
der Hand, den sie, auch wenn sein Name nicht draufstand, für seinen
eigenen Text halten mußten, obwohl er ihn nur übersetzt und nicht
selbst verfaßt hatte. Aber diese Betrachtungsweise war im Grunde
oberflächlich und wurde dem wirklichen Vorgang nicht gerecht. Denn
er hatte den Text ja nicht einfach so übersetzt, ohne innere
Beteiligung und intellektuelle Auseinandersetzung, wie ein
professioneller Übersetzer in einer Agentur das gemacht hätte.
Stück für Stück hatte er sich Leskovs Gedankengang durch den Kopf
gehen lassen, er hatte ihn immer von neuem an Beispielen aus dem
eigenen Erinnern gemessen, und schließlich hatte er, um nur dies zu
nennen, viele Stunden, eigentlich sogar ganze Tage auf den Versuch
verwendet, Leskovs lückenhafte Überlegungen zu einer stimmigen
Theorie der Aneignung zusammenzufügen. Man konnte also wirklich
nicht sagen, daß der verteilte Text überhaupt nichts enthielt, was
seinen eigenen Gedanken entsprungen wäre.
Und das war nicht
alles, es war nicht einmal das Entscheidende, dachte er. Es gab
noch etwas anderes, was es als ungerecht und geradewegs falsch
erscheinen ließ, von Gedankendiebstahl zu sprechen. Es war die
Tatsache, daß er jeweils sofort, nachdem die sprachlichen Probleme
aus dem Weg geräumt waren, Leskovs Gedanken als seine eigenen
wiedererkannt hatte. Perlmann sah Millars Gesicht mit der
blitzenden Brille vor sich, als er dies dachte, und er hörte seine
höhnische Stimme; keine Worte, nur den höhnischen Tonfall. Das
Gesicht und die Stimme kamen immer näher, bedrängten ihn, drohten
ihn zu erdrücken, er mußte sich wehren, richtete sich auf, setzte
sich auf die Bettkante und zündete eine Zigarette an. So etwas
konnte man niemandem beweisen, und man würde es deshalb niemandem
gegenüber je äußern können, ohne sich lächerlich zu machen. Aber es
war trotzdem so: Leskov beschrieb Erfahrungen mit Sprache und
Erinnerung, die er alle selbst auch schon gemacht hatte, und die
gedankliche Übersicht, die ihm gelang, war so, daß Perlmann bei
jedem einzelnen Schritt erneut den Eindruck gehabt hatte:
Genau das habe ich auch schon oft gedacht,
wirklich genau dasselbe. Zugegeben, er hatte sich nicht
hingesetzt und es aufgeschrieben, die entsprechenden Sätze aus
seiner Feder gab es nicht. Aber er hätte es durchaus tun können. Er
sah sich an seinem Frankfurter Schreibtisch, wie er, Wort für Wort,
den Text schrieb, mit dem ihm Leskov, gewissermaßen durch Zufall,
zuvorgekommen war. Es konnte wirklich überhaupt keine Rede davon
sein, daß er Gedanken als die seinen ausgegeben hatte, die ihm
fremd waren.
Er trat an das
schmale Fenster und fuhr zusammen. Auf der anderen Seite der engen
Gasse, seinem Fenster genau gegenüber und nicht mehr als zwei, drei
Armlängen entfernt, lehnte eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch
und zahnlosem Mund aus dem Fenster und grinste ihn aus einem
verrunzelten Gesicht mit vorgeschobenem Kinn an. Neben ihr auf der
Fensterbank kauerte eine magere Katze, bei der die Trennlinie
zwischen rötlichem und weißem Fell schräg über das ganze Gesicht
verlief, was ihr einen häßlichen und bösartigen Ausdruck verlieh.
Perlmann zog rasch die schweren, speckigen Vorhänge zu und legte
sich erneut aufs Bett. Der Hauch von Selbstachtung, den er durch
den inneren Monolog von vorhin hatte zurückgewinnen können, war
durch den Anblick der alten Frau und der Katze, die ihm jetzt wie
lauernde, bedrohliche Fratzen vorkamen, wieder zerstört worden. Er
kam sich erneut wie ein billiger Betrüger vor, der in einem
schäbigen, dunklen Hotelzimmer in einem verkitschten, verlassenen
Touristenkaff lag.
Erst nach und nach
fand er wieder in die beiden Gedankengänge zurück, die er gestern
auf dem Schiff angesponnen hatte, damals noch entsetzt und voller
Scham darüber, daß er sich überhaupt darauf einließ, so etwas zu
denken. Erstens war es so gut wie ausgeschlossen, daß jemals eine
Verbindung zwischen einem der Kollegen hier und dem unbekannten
Leskov im fernen St. Petersburg zustande kam, die eine Bedrohung
darstellen könnte. Und zweitens würden die sieben Exemplare der
Übersetzung, die sieben Manifestationen und materiellen Beweise
seines Betrugs, die existierten, irgendwann in Vergessenheit
geraten und schließlich vernichtet werden. Und mit dem Verschwinden
des Papiers aus der Welt würde auch der Betrug getilgt und aus der
Welt geschafft sein – es würde genau so sein, als hätte es ihn nie
gegeben.
Perlmann spürte, daß
es irgendwo in diesem Gedanken einen gewagten Sprung gab, einen
Übergang, der nicht einwandfrei war. Aber er wollte nicht genauer
hinsehen, er wollte nach vorne blicken auf den Punkt in der
Zukunft, an dem die Welt, was seine Integrität anlangte, wieder
genau so sein würde wie vor dem Betrug. Erneut setzte er sich auf
die Bettkante und rauchte hastig, mit angespanntem Körper, so, als
könne er die Zeit dadurch antreiben, jenen fernen Punkt der
wiedergewonnenen Unschuld schneller zu erreichen.
Er stellte sich vor,
wie es bei der Vernichtung des Papiers und der Schrift zugehen
könnte; es schien ihm, sein Gedankengang werde in dem Maße
richtiger und zwingender, als es ihm gelang, sich den Vorgang bis
in jede Einzelheit auszumalen. Millars Exemplar beispielsweise
würde eines Tages in einem der schwarzen, glänzenden Müllsäcke auf
einer Straße in New York landen. Der Text würde vielleicht schon im
Sack zerstört werden, etwa durch eine auslaufende Flüssigkeit,
bestimmt aber durch Regen auf einer Müllhalde, Perlmann konnte das
Rauschen förmlich hören. Am liebsten war ihm die Vorstellung, die
Schrift sei aus Tinte, so daß die Buchstaben zerliefen und die
unheilvolle, schuldhafte Anordnung der Linien rückgängig gemacht
würde. Oder der Text würde in einer Müllverbrennungsanlage in
Flammen aufgehen. Eines Tages – in einigen Monaten, einem Jahr
vielleicht, oder zweien – würde es diesen unseligen Text, diese
Folge von Zeichen, dieses Muster von Molekülen in der Welt nicht
mehr geben. Geben würde es dann noch Erinnerungsspuren in den
Köpfen der Kollegen. Aber die würden immer vager werden, übrig
bleiben würde am Ende nur noch das ungefähre Thema. Gerade in den
Köpfen der gefährlichsten Gegner wie Millar und Ruge würde die
Erinnerung besonders schnell verblassen, denn sie hatten den Text
ohnehin als etwas Verblasenes wahrgenommen, als etwas, das gar
keine scharfen gedanklichen Umrisse hatte, da lohnte sich die
Anstrengung der genauen Erinnerung nicht.
Perlmann wurde
ruhiger und legte sich wieder hin. Jetzt gewannen auch die
Überlegungen von vorhin ihre Wirkung zurück, und er machte in
Gedanken eine kleine Liste, einen Spickzettel mit den Punkten, die
er sich immer wieder vor Augen führen konnte, um die Empfindungen
der Angst und der Schuld zu lindern: Es war pure Notwehr gewesen;
Leskovs Gedanken waren auch seine eigenen; nach einiger Zeit würde
alles wieder so sein wie vorher. Er ging diese Punkte immer wieder
durch, in wechselnder Reihenfolge, anfangs dachte er über die
Rangfolge nach, dann wurde die innere Aufzählung immer
mechanischer, sie wurde zum bloßen Ritual der
Selbstbeschwichtigung, und darüber schlief er schließlich
ein.
Es dauerte lange,
bis er die Faustschläge an der Tür und die unangenehme, bellende
Stimme des Wirts hörte, der rief, es sei Zeit. Er setzte die Brille
auf und sah auf die Uhr. Kurz nach vier. Seine Wut war heftig wie
eine Stichflamme. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und schrie
dem Wirt ins Gesicht, er habe bis fünf Uhr bezahlt. Später, in dem
engen Badezimmer, das nur durch eine trübe Funzel beleuchtet wurde
und in dem es nach Chlor und Kanalisation roch, war ihm der
hysterische Klang, den seine Stimme eben gehabt hatte, unangenehm,
und als er seine Hände unter dem Wasserhahn zittern sah, blickte er
weg.
Trotzdem war er froh
über seine Wut. Wütend zu sein, das hieß, sich als einen zu
erleben, der das Recht hatte, etwas übelzunehmen, einem anderen
etwas vorzuwerfen, und das wiederum bedeutete, sich selbst ein
Recht auf Dasein zuzugestehen, ein Recht, das ihm heute morgen, als
er auf den Felsvorsprung zugehastet war, wie durchgestrichen oder
ausgelöscht vorgekommen war. Er duschte. Hier in diesem Loch, wo
die Dusche nur aus wenigen dünnen Wasserstrahlen bestand, weil die
meisten Löcher der Brause verkalkt waren, stand ihm das zu, zumal
nur kaltes Wasser kam. Er frottierte sich lange mit einem
zerschlissenen, löcherigen Tuch und zog dann widerstrebend das im
Schlaf verschwitzte Hemd wieder an.
Das
gegenüberliegende Fenster war jetzt geschlossen, er zog die
Vorhänge auf und lüftete den verrauchten Raum. Der schmale Streifen
Himmel, den man von dieser Gasse aus sah, war jetzt dunkelgrau, und
es herrschte ein Licht, das an eine frühe Dämmerung im Dezember
denken ließ. Er blieb mit dem Rücken zum Fenster stehen, rauchte
und genoß es, sich in das Recht verbeißen zu können, bis fünf Uhr
in diesem Zimmer zu bleiben. Auf die Minute genau um fünf ging er
hinunter und warf, ohne den Wirt eines Blickes zu würdigen, den
Zimmerschlüssel so heftig auf die Theke, daß er auf der anderen
Seite hinunterfiel.
Er hatte Hunger,
seit einer Ewigkeit das erste Mal, wie ihm schien. Der nächste Bus
zurück ging erst um halb sieben. Für ein Taxi reichte das Geld
nicht mehr, er hatte nicht einmal genug für die Bude, in der man
stehend eine Pizza essen konnte. Nach einigem Suchen gelang es ihm,
ein halbes Brot und ein Stück Käse zu kaufen. An den
unbeleuchteten, verlassenen Souvenirgeschäften vorbei ging er
hinunter zum Hafen und setzte sich auf einen kalten Stein der Mole.
Das Grau des Wassers ging in der Ferne bruchlos über in das Grau
des Himmels. Das Cafe von heute morgen war beleuchtet, aber
leer.
Er zog all seine
Kräfte auf einen einzigen inneren Punkt zusammen und stellte sich
vor, wie er in gut zwei Stunden drüben im Hotel den Speisesaal
betreten, sich hinsetzen und im Verlauf des Essens auf die ersten
Kommentare zu Leskovs Text reagieren würde. Vorsichtshalber zwang
er sich sogleich, an die Liste der entlastenden Gesichtspunkte zu
denken, die er in dem düsteren Hotelzimmer erarbeitet hatte, und zu
seiner großen Erleichterung blieb die Panik aus. Statt dessen
breitete sich Beklommenheit in ihm aus, die Beklommenheit von
einem, der einen langen und unangenehmen Weg vor sich hatte, der
seine ganze Festigkeit erfordern würde und seine ganze Wachheit. Es
ließ sich überstehen, dachte er, wenn er vor allem anderen dieses
eine niemals aus den Augen verlor: Sie wußten
es nicht; sie würden es niemals erfahren.
Das Schlimmste waren
die Sitzungen in der Veranda, wo sein Text – Leskovs Text –
diskutiert würde. Aber diese Sitzungen bestanden aus einer
begrenzten Anzahl von Stunden und Minuten. Sie würden sich endlos
anfühlen. Aber sie würden vorbeigehen, und dann waren es nur noch
drei Tage, bis alles zu Ende war und die anderen
abreisten.
Das meiste von dem
Brot und dem Käse warf Perlmann in einen Abfallbehälter, als er
durch die Hauptgasse, die an eine Geisterstadt erinnerte, zum Bus
ging. Ein Glück, daß er die Namen von Lurijas Schülern
ausgestrichen hatte, dachte er, als der Bus losfuhr. Sie hätten
Verdacht erregen können. Mit Lurija selbst war das anders, den
kannte jeder.
Mitten auf der
Strecke, wo die Küstenstraße besonders eng war, kam ihnen der
andere Linienbus entgegen. Es gab ein leichtes Knirschen, der
Fahrer fluchte, und dann standen die beiden Busse minutenlang
nebeneinander, nur Zentimeter voneinander entfernt. Keiner der
beiden Fahrer schien die Verantwortung für das Weitere übernehmen
zu wollen.
Perlmann saß an
einem Fenster zur Mitte der Straße hin. Die Leute aus dem anderen
Bus gafften herüber, aus dem schummrigen Licht der Innenbeleuchtung
heraus schienen sie alle nur ihn anzustarren. Ihre Gesichter wurden
mit jedem Augenblick höhnischer, er fühlte sich an den Pranger
gestellt, ein Betrüger, der den anderen als abschreckendes Beispiel
vorgeführt wurde. Ein kleiner Junge zeigte auf ihn, der Zeigefinger
wurde an der Scheibe plattgedrückt, dazu lachte er und zeigte eine
große Zahnlücke, die Perlmann diabolisch anmutete. Aber ich bin doch kein Verbrecher. Er wußte nicht,
wie er die nächste Sekunde überstehen sollte, und fürchtete, gleich
einen hysterischen Anfall zu bekommen. Er schloß die Augen, aber
die Blicke der anderen, die gebündelt auf ihn gerichtet waren,
blieben spürbar. Er sah das Bild von Verhafteten vor sich, die die
Jacke über den Kopf zogen, wenn sie durch die Gasse der Fotografen
gehen mußten. Krampfhaft dachte er an seine Liste und stellte sie
sich als ein weißes Blatt vor, auf dem die drei Gesichtspunkte in
Druckschrift untereinander standen: Notwehr;
eigene Gedanken; Vernichtung. Er machte die Augen erst
wieder auf, als der Fahrer Gas gab.
Auf dem Rest der
Fahrt saß er ganz still, ganz regungslos, als sei das nötig, um zu
verhindern, daß eine Panik in ihm aufbrach.