55
 
Gegenüber der Anlegestelle für die Schiffe stand Leskov am Straßenrand und beobachtete angestrengt den Verkehr. Mit dem einen Bein war er auf der Straße, das andere berührte, seltsam abgeknickt, nur noch leicht den Gehsteig. Sein Oberkörper war erwartungsvoll nach vorne geneigt, und den Kopf mit der großen Brille, die er mit der einen Hand festhielt, versuchte er senkrecht zu halten. Als das Taxi, das mit einigem Abstand vor Perlmann herfuhr, auf ihn zukam, bückte er sich, um den Fahrgast besser sehen zu können. In dieser Haltung verharrte er, als er dann Perlmanns Taxi kommen sah. In seinem Rücken gab es einen Ruck, er kippte die Brille ein wenig, um sich seiner Wahrnehmung zu vergewissern, und trat dann mit schwingenden Armen, die sich über dem Kopf kreuzten, mitten auf die Fahrbahn, als müsse er nachts auf einer einsamen Strecke das einzige Auto anhalten.
Mit einem verwunderten Ausruf hielt der Fahrer an. Von dem Moment an, in dem er Leskov erblickte, hatte Perlmann nichts mehr zu denken vermocht. Nur den Griff des Handkoffers hatte er noch fester umklammert. Jetzt gab er dem Fahrer einen großen Schein und stieg aus.
«Ich habe gedacht, du kommst überhaupt nicht mehr», sagte Leskov und bemühte sich, den vorwurfsvollen Ton sofort wieder aus der Stimme zu nehmen.«Das Schiff ist schon da! »
Während der ersten halben Stunde der Fahrt fiel es nicht auf, daß Perlmann kaum etwas sagte. Leskov genoß es, vorne auf dem fast leeren Schiff zu stehen und auf das stille, blendend helle Wasser hinauszublicken. Nach einer Weile dann holte er eine Landkarte aus der Jacke. Signora Morelli habe sie ihm geliehen. Perlmann erkannte die Schmutzspuren sofort: Es war dieselbe Karte, die er bei der Planung seiner Tat benutzt hatte und die beim Aufsammeln der gelben Blätter als Unterlage für die mürbe Seite mit der Zwischenüberschrift gedient hatte. Nein, sagte er, als Leskov auf Portofino deutete, dort sei er noch nie gewesen. Und auch den Hafen von Genua kenne er nicht.
Als Leskov später von der Toilette zurückkam, setzte er sich neben Perlmann auf die Bank, und während er die Pfeife anzündete, betrachtete er den Handkoffer. Immer wenn er in den letzten Tagen einen Handkoffer gesehen habe, sagte er, habe er an seinen vermißten Text denken müssen. Und an das Stückchen Gummiband im Reißverschluß des Außenfachs.
«Du hältst es doch auch für das Wahrscheinlichste, daß ich ihn zu Hause habe liegen lassen, oder? Ich meine, nach allem, was ich dir erzählt habe?»
Perlmann nickte und griff nach den Zigaretten.«Auf jeden Fall glaube ich nicht, daß der Text einfach verloren ist», sagte er und war erleichtert über die Festigkeit in seiner Stimme.«Die Lufthansa ist berühmt für ihre Sorgfalt mit vergessenen Dingen. »
«Du meinst also wirklich, sie würden mir den Text zuschicken?»
Perlmann nickte.
«Aber die Adresse ist russisch geschrieben, und dazu ist es noch Handschrift», sagte Leskov. Hinter den dicken Brillengläsern waren seine Augen unnatürlich groß, und dadurch erschien auch die Angst, die in ihnen lag, vergrößert.
Perlmann sah rasch weg.«Die Lufthansa ist eine der größten internationalen Fluggesellschaften, und sie fliegt auch Rußland an. Da gibt es bestimmt Leute, die Russisch können. »
Leskov seufzte.«Vielleicht hast du recht. Wenn ich nur sicher wäre, daß ich die Adresse wirklich draufgeschrieben habe. Vorgestern nacht habe ich plötzlich Zweifel bekommen. »
Perlmann schloß die Augen. Sein Herz hämmerte. Er nahm Anlauf.«Welche Adresse schreibst du gewöhnlich unter einen solchen Text?»
«Wie? Ach so, die dienstliche.»Er sah Perlmann an.«Du meinst, weil ich dich gebeten habe, nur die private zu benützen? Nein, weißt du, in einem solchen Fall ist das was anderes. »
Perlmann entschuldigte sich und ging nach innen, wo er sich neben der Toilette an die Wand lehnte. Das Hämmern in der Brust nahm nur langsam ab. Nein, es war zu gefährlich, ihn nach der Adresse zu fragen. Einmal abgesehen davon, daß er keinen überzeugenden Grund vorzubringen wüßte: Er müßte ihn bitten, sie aufzuschreiben, und das Ganze würde dadurch zu einer Aktion, die als etwas Auffälliges in seinem Gedächtnis haftenbliebe. Langsam ging er zurück, wich unter der Tür einem Matrosen aus und betrat das Deck.
Sein Herzschlag setzte aus. Leskov hatte den Handkoffer auf den Knien und ließ gerade die beiden Schlösser zuschnappen. Jetzt stellte er den Koffer wieder auf den Boden. Perlmann tat ein paar Schritte zur Seite. Nein, er hatte den Umschlag nicht in der Hand, sondern stand jetzt auf und stopfte sich an der Reling eine Pfeife. Perlmann ging langsam auf ihn zu und berührte dabei die Lehne jeder einzelnen Bank, als wolle er sich versichern, daß sie ihm als Stütze zur Verfügung stünde.
«Ihr im Westen habt schon schöne Sachen», sagte Leskov und deutete mit dem Pfeifenstiel auf den Handkoffer.«Dieses Leder. Und diese raffinierten, eleganten Schlösser. Man kann wirklich neidisch werden. »
Perlmann hielt sich an der Reling fest, bis ihm die Knie wieder gehorchten.
 
Als sie in Genua an Land gingen, blieb Leskov plötzlich stehen.«Nehmen wir an, ich habe ihn im Flugzeug liegenlassen. Weißt du, was ich dann am meisten fürchte? Die Putzkolonne. Woher sollen diese Leute, wenn sie so etwas finden, wissen, daß es wertvoll ist?»
Es ging nicht mehr anders. Perlmann mußte es erfahren, und das war die Chance.
«Bei einem derart dicken Papierstoß wird jeder stutzig. Da tippt man nicht mehr auf unwichtige Papiere. Das ist ja doch ein halbes Buch. Oder?»
Leskov nickte.«Du könntest recht haben. Es sind immerhin siebenundachtzig Seiten. »
Dann sind es also siebzehn Seiten, die er neu schreiben muβ. Die Länge eines ganzen Vortrags. Aber er hat es ja noch im Kopf. So etwas hat man noch lange danach im Kopf.
Perlmann mied die Hafenkneipe, von der aus er vor acht Tagen Maria angerufen hatte. Aber es war schwierig, in der Nähe etwas anderes zu finden, und schließlich setzten sie sich an den einzigen Tisch vor einem Schnellimbiß, wo es nach Fisch und verbranntem Öl roch. Perlmann war froh über den Straßenlärm und die Kinder, die mit ihren Skateboards haarscharf an ihnen vorbeiglitten. Diese Dinge würden der Frage, die er nicht mehr länger zurückzuhalten vermochte, einen beiläufigen Klang geben.
«Bis wann mußt du den Text eigentlich eingereicht haben? Wegen der Stelle, meine ich. »
«Bis in zwei Wochen. »
Perlmann vermochte sich nicht mehr zu bremsen.«Dann hast du noch genau vierzehn Tage?»
Leskov sah ihn mit zerstreutem Erstaunen an.«Dreizehn», sagte er dann lächelnd,«der Samstag zählt nicht.»
«Was würde geschehen, wenn du mit dem Text erst am Montag danach kämst?»
Die Verwunderung in Leskovs Gesicht war jetzt wacher als vorhin.
«Es interessiert mich nur, wie pingelig man da bei euch ist», sagte Perlmann schnell.
«Sie würden ihn vermutlich auch dann noch anerkennen», sagte er nachdenklich.«Aber man weiß nie. Es sind Bürokraten. Es ist besser, man liefert ihnen keinen formalen Vorwand. Und der Termin ist ja auch kein Problem», fügte er ruhig hinzu, während der Kellner das Essen vor ihn hinstellte,«ich muß den Text ja eigentlich nur noch abtippen, und darin bin ich schnell. Für die Anmerkungen brauche ich höchstens einen halben Tag.»
Perlmann würgte seinen Schafskäse hinunter und spürte, wie sich der Magen verkrampfte. Vor Freitag hat er den Text nicht. Dann bleibt ihm eine Woche. Das könnte reichen. Was aber ist, wenn er ihn erst am Montag drauf erhält, oder sogar erst Dienstag?
«Wie lange war mein Brief damals eigentlich unterwegs?»fragte er.
Im ersten Moment verstand Leskov nicht.«Ach so», sagte er dann,«Du denkst an die eventuelle Sendung der Lufthansa. Ich weiß nicht mehr genau; ungefähr eine Woche, glaube ich.»Abwesend stocherte er im Salat.«Gut, daß du fragst. Das bedeutet nämlich, daß der Text noch unterwegs sein kann, wenn ich ihn morgen abend nicht vorfinde. Es können ja leicht ein, zwei Tage vergehen, bis die Sache mit der russischen Adresse geklärt ist. Ich darf dann also nicht gleich verzweifeln. Zumal am Montag selten Post kommt. Wenn dann allerdings bis Mittwoch oder gar Donnerstag immer noch nichts da ist... Ach, Unsinn», sagte er mit einem forcierten Lächeln und nahm eine Gabel voll,«der Text liegt dort auf dem Schreibtisch, mitten in der Unordnung, ich sehe die gelben Blätter direkt vor mir.»
Seit vorgestern war es mit den Hafenrundfahrten für dieses Jahr vorbei. Der Betrieb würde erst Anfang März wieder aufgenommen. Leskov las den englischen Text des Anschlags dreimal halblaut vor. Plötzlich fiel seine Begeisterung über die Umgebung und das südliche Licht in sich zusammen, und alle Zuversicht war verschwunden.
«Jetzt habe ich mir meine einzige Hoffnung auf eine sichere Stelle und ein bißchen Ruhe selbst zunichte gemacht», sagte er, als sie im Taxi an den oberen Rand der Stadt fuhren, um, wie Perlmann gesagt hatte, wenigstens diesen schönen Blick zu haben. Und dann, auf einer Terrasse mit traumhafter Aussicht, erzählte er von den Machtkämpfen und Intrigen im Institut und von seiner unsicheren Position. Es war nicht so, daß die anderen nichts von ihm hielten. Eigentlich sogar das Gegenteil: Sie fürchteten seinen selbständigen Kopf und beneideten ihn darum. Ferner gab ihm die Zeit im Gefängnis, sagte er mit bitterem Spott, eine gewisse moralische Autorität, die ihm gar nicht lieb war, denn sie schuf einen Ring aus widerwilligem und beklommenem Respekt um ihn herum, so daß bestimmte Gespräche regelmäßig abbrachen, wenn er hereinkam.
Und nun war kürzlich diese Stelle frei geworden.
«Ich bin der logische Kandidat. Aber du kannst dir denken, daß sie mich aus all diesen Gründen nicht wollen. »Und es gab ein Argument: Er hatte nur wenig veröffentlicht. Leskov stützte ein Bein auf den Geländersims, umfaßte das Knie mit beiden Händen und sah hinunter aufs Meer, wo das Licht bereits etwas von seiner Glut verloren hatte. In seinem Gesicht zuckte und zitterte es.«Du wirst ins Gefängnis gesteckt, und anschließend wird dir vorgehalten, du hättest zu wenig veröffentlicht. Siehst du, deshalb ist der Text so wichtig. Wäre er so wichtig gewesen. Ihr vorgeschobenes Argument hätte an Gewicht verloren. Wenn es von Ihnen wenigstens einen längeren Text aus jüngster Zeit gäbe! Das habe ich oft gehört. Und nun liegt der Text auf irgendeiner Müllkippe. Futsch. Wenn ich doch nur eine Kopie hätte machen können! Aber nach der Warterei im Reisebüro und auf dem Telegrafenamt war es zu spät: Fotokopien machen zu lassen ist bei uns nämlich immer noch schrecklich umständlich. »
Perlmann drehte sich seitwärts und berührte dabei mit dem Fuß den Handkoffer. Er bedeckte das Gesicht mit der Hand. Ich brauche ihn nur herauszunehmen. Aber nein, es ist unmöglich. Es gibt schlechterdings keine harmlose Erklärung. Irgendwann stieße er auf die Wahrheit. Müßte er auf sie stoßen.
Leskov berührte ihn am Arm.«Laß uns nach unten ein Stück zu Fuß gehen. Und jetzt wollen wir nicht mehr von mir reden!»
Das Meer hatte die Farbe von Kupfer, als sie auf der Rückfahrt nebeneinander an der Reling standen. Sie hatten eine Weile nicht gesprochen, und es kam Perlmann vor, als ließe jeder weitere Moment des Schweigens, wie damals im Tunnel, eine ungewollte Intimität entstehen. Gleich würde Leskov von Agnes anfangen.
«Am Ende der Sitzung», sagte er, als Leskov sich ihm zuwandte,«hast du doch die überraschende Behauptung aufgestellt, es gebe keine wahre Geschichte über unsere erlebte Vergangenheit. »
Leskov grinste.«Die Behauptung, die Achim einen Bleistift gekostet hat. »
«Und dann hast du zwei Wörter angefügt, russische wohl, die ich nicht verstanden habe. Was war damit?»
«Also hat es doch einer bemerkt», lachte Leskov.«Ich dachte schon, jeder hätte das einfach für unverständliches russisches Gebrabbel gehalten. Aber dir ist es natürlich aufgefallen. »
Perlmann kam sich vor, als werde er einer Klasse als Musterschüler vorgeführt.
«Klim Samgin waren die beiden Wörter. So heißt die Hauptfigur in Maksim Gorkijs letztem Roman, einem vierbändigen Werk von über zweitausend Seiten, das den Titel trägt: izn’ Klima Samgina. Das Leben des Klim Samgin. Mit dieser Figur schafft sich Gorkij eine Erzählperspektive, um vierzig Jahre russischer Geschichte zu schildern. Ein wichtiges Motiv dabei ist, daß Samgin ein reflektiertes, man könnte auch sagen: gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit hat, in das sich immer wieder radikale Zweifel an den Erzählungen der anderen wie auch an den eigenen Wahrnehmungen einschleichen. So läßt Gorkij schon den kleinen Jungen Klim die Entdeckung machen, daß das Erdichten von Dingen ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist, etwas, ohne das man nicht bestehen kann. Es gibt da wunderbare Sätze wie etwa... warte mal... ja: I vsegda nužno čto-nibud’ vydumyvat’, inače nikto iz vzroslych ne budet zamečat’ tebja i budeš’ žit’ tak, kak budto tebja net ili kak budto ty ne Klim. Hast du verstanden?»
Perlmann schüttelte den Kopf.
«Moment», sagte Leskov, schloß die Augen und murmelte den russischen Satz noch einmal vor sich hin.«Auf deutsch würde es etwa so heißen: Man muβ ständig etwas erdichten, sonst beachten dich die Erwachsenen nicht, und du würdest leben, als seist du gar nicht da oder als seist du nicht Klim. Oder ein anderer Satz... »Leskov bewegte, während er sich die Worte innerlich vorsagte, stumm die Lippen.«Etwa so: Klim entsann sich nicht, wann er eigentlich gemerkt hatte, daβ man ihn erdichtete, und er daraufhin selbst angefangen hatte, sich zu erdichten.» Gorkij verwendet immer dasselbe Wort: vydumyvat’; also erdichten, erfinden. Und in dem Zwischentitel meines neuen Texts, den ich in der Sitzung erwähnt habe, übernehme ich dieses Wort in der besonderen Bedeutung, die es bei Gorkij bekommt. »
Perlmann sah das mit braunem Straßendreck überzogene Blatt vor sich, wie es auf der Landkarte gelegen hatte, die jetzt aus Leskovs Jackentasche hervorguckte.
«Ein Hauch von Plagiat», lächelte Leskov,«aber wirklich nur ein Hauch. »
Perlmann löste die Hand mit der Zigarette probeweise von der Reling: Nein, äußerlich zitterte sie nicht; das Zittern war nur in der Empfindung. Er inhalierte tief, und aus dem Brennen in der Lunge heraus wünschte er sich die Macht, dieses entsetzlichste aller Wörter, PLAGIAT, mit einem Schlag aus den Köpfen aller Menschen auslöschen zu können, so daß er es nie, niemals wieder, hören müßte. Dafür, dachte er, wäre er zu jedem, wirklich jedem Pakt mit dem Teufel bereit.
«Das Thema, das mit diesem Wort verbunden ist», fuhr Leskov fort,«nimmt bei Gorkij dann eine besonders dramatische Form an, indem es mit der Idee eines Traumas verbunden wird. »Er sah, wie Perlmann den Kopf wegdrehte.«Langweile ich dich?»
Perlmann sah ihn kurz an und schüttelte den Kopf.
«Klim Samgin nämlich sieht eines Tages, wie ein anderer, von ihm gehaßter Junge beim Schlittschuhlaufen auf dem Fluß einbricht und zusammen mit seiner Begleiterin in einem Eisloch verschwindet, wobei das Mädchen sich an ihn klammert und ihn hinunterzieht. Er sieht die roten Hände des Jungen, die sich an den Rand des Eises klammern, und seinen glänzenden Kopf mit dem blutigen Gesicht, der ab und zu aus dem schwarzen Wasser auftaucht und um Hilfe schreit. Klim, der auf dem Eis liegt, wirft ihm das eine Ende seines Gürtels zu. Doch wie er spürt, daß er immer näher ans Wasser gezogen wird, läßt er den Gürtel aus der Hand rutschen und weicht kriechend vor den roten Händen zurück, die, indem sie immer mehr Eis abbrechen, auf ihn zukommen. Und mit einemmal ist da nur noch die Mütze des Jungen, die auf dem Wasser schwimmt. »
Leskov machte eine Pause und suchte Perlmanns Blick. Die roten Hände, die immer näher kämen: Ob er nicht auch finde, das sei ein Bild, das einen verfolgen könne?
Perlmann nickte. Er war froh, daß die Dämmerung jetzt rasch hereinbrach.
«Gorkij nennt die Hände nicht nur rot. Er gebraucht einen Ausdruck, der stärker ist, eindringlicher. Aber ich komme jetzt nicht drauf», sagte Leskov.«Jedenfalls: Am Schluß dieser Szene läßt er jemanden sagen: Da - bylli mal’čik-to, možet, mal’čika-to i ne bylo?»
Perlmann, der sofort verstanden hatte, beantwortete seinen fragenden Blick mit einem Kopfschütteln.
«Ja – ist denn überhaupt ein Junge dagewesen, vielleicht war gar kein Junge da? So müßte man wohl übersetzen», sagte Leskov.«Und du siehst: Diese Frage, die an späteren Stellen wie ein Leitmotiv wiederkehrt, nimmt das Thema des Erdichtens auf. »
Es kamen bereits die Lichter von Portofino in Sicht, als Leskov vom Gefängnis zu erzählen begann. Knapp drei Jahre hatten sie ihn eingesperrt. Nein, keine Folter, und auch keine Einzelhaft. Ganz gewöhnliche Haft, zu Beginn zu viert in einer Zelle, später allein. Nichts lesen zu können, das war in den ersten Monaten das Schlimmste gewesen. Nach einem halben Jahr dann hatten sie, es war wie ein Wunder, seiner Mutter erlaubt, ihm Gorkijs Roman zu bringen. Sie hatte keine Ahnung vom Inhalt, sie war in einem Ramschladen darauf gestoßen und hatte ihn vor allem seines Umfangs wegen erstanden. Zweitausend Seiten für so wenig Geld!
«Was es damals für mich bedeutet hat, diese Bände in den Händen zu halten und ihr Gewicht zu spüren – es ist unmöglich, das in Worte zu fassen», sagte Leskov leise. Er hatte den Roman im Laufe der verbleibenden Gefängniszeit vierzehnmal gelesen. Hunderte von Szenen kannte er auswendig.
«Das Thema des Erdichtens hat mich sofort gepackt. Aber es hat lange gedauert, bis es die Gestalt annahm, die es jetzt in meinem Text hat. Bei Gorkij geht es zunächst um das Erdichten von Dingen und Ereignissen draußen in der Welt, oder, wenn Klim Samgin vom Erdichten seiner selbst spricht, um Episoden der äußeren Biographie. Und an dem Roman ist ein bißchen enttäuschend, daß Gorkij einem das Thema gleichsam vor die Füße wirft, ohne es dann wirklich zu entwickeln. Obwohl sich gerade die Geschichte mit dem Eisloch dafür ausgezeichnet eignet. Es gibt nämlich einen Augenblick, wie Gorkij sagt, wo Klim es genießt, seinen Feind, der sich sonst so überlegen gebärdet, in dieser verzweifelten Lage zu sehen. Und so entsteht die Frage, ob er den Gürtel aus purer Angst losläßt, oder ob auch der Haß die Hand im Spiel hat. Weil es eine traumatische Erfahrung ist, wird Klim auch dazu etwas erdichten müssen, und dieses Mal ist es ein Erdichten der Innenwelt. Er wird sich seine innere Vergangenheit erzählen. Und es gibt nichts, rein gar nichts, an dem er sich festhalten könnte, wenn er sich fragt, welche der verschiedenen Geschichten die wahre ist. »
Leskov hielt das Feuer an die erloschene Pfeife. Er stand jetzt mit dem Rücken zum Wasser, fixierte, wie es schien, die Ziffern an der Außenwand eines Rettungsbootes, und als er fortfuhr, klang es wie aus weiter Ferne.
«Es ist mir dann merkwürdig ergangen. Als Woche um Woche in dieser entsetzlichen, grauen Eintönigkeit verstrich, die schlimmer ist als alle Schikanen, verlor ich allmählich das Gefühl für meine eigene innere Vergangenheit. Du weißt nach einiger Zeit einfach nicht mehr, wie dein Erleben war, bevor du hierherkamst. Es muß für einen Außenstehenden verrückt klingen, aber es geht dir eine Sicherheit verloren, die vorher so selbstverständlich war, daß du gar nichts von ihr wußtest. Es ist ein lautloser, schleichender, unaufhaltsamer Verlust der inneren Identität. Dagegen kämpfst du, wie du noch nie gekämpft hast. Du erzählst dir deine innere Vergangenheit immer aufs neue, um sie am Entgleiten zu hindern. Aber je öfter du es tust, desto aufdringlicher wird der Zweifel: Stimmt das wirklich, oder erdichte ich mir dieses vergangene Erleben bloß? Und du kannst dir sicher vorstellen, wie Gorkijs Thema und die eigene Erfahrung immer mehr miteinander verschmolzen, so daß der Name Klim Samgin in mir zum Symbol für diesen Abgrund an Identitätsverlust geworden ist. »
Leskov verließ das Schiff wie in Trance und blieb nach wenigen Schritten wieder stehen.«Und trotzdem war ich damit noch nicht bei meiner verrückten These angekommen. Die ergibt sich erst, wenn man den Gedanken hinzunimmt, daß Erleben durch Erzählen nicht abgebildet, sondern in gewissem Sinne geschaffen wird-die Idee also, die du aus meinem früheren Text kennst. »
Perlmann merkte zu spät, daß er genickt hatte. Entsetzt wandte er den Kopf zu Leskov. Aber der hatte nichts gemerkt und redete weiter.
«Weißt du, es ist schwer zu beschreiben, aber das innere Formulieren und Verteidigen meiner These hat mir viel geholfen, die restliche Zeit im Gefängnis zu überstehen. Warum das so war, weiß ich bis heute nicht genau. Aber ich vermute, daß es weniger mit dem Inhalt der These zu tun hatte als mit dem Gefühl, eine aufregende Entdekkung gemacht zu haben. Das gab mir ein Stück innere Freiheit und machte mich für vieles unverwundbar. »
Auf der Freitreppe des Hotels blieb Leskov noch einmal stehen.«Als ich wieder draußen war und meine Arbeitsfähigkeit zurückgewonnen hatte, war mir der Mut zu meiner wichtigsten These verlorengegangen, und so begnügte ich mich in der ersten Fassung mit den Beobachtungen über die schöpferische Rolle der Sprache fürs Erleben. Nur hin und wieder streife ich dort den radikalen Gedanken. Ich glaube, ich hatte Angst zu entdecken, daß ich im Gefängnis vorübergehend den Verstand verloren hatte. Erst im Laufe dieses Sommers begann ich, mich innerlich wieder an die Sache heranzutasten. Und als ich das Ganze dann aufschrieb, war das ein Prozeß, in dem auch die Haft verarbeitet und hoffentlich bewältigt wurde. Eine Art Heilungsprozeß. »Vor dem Säulenvorbau nahm Leskov die Brille ab und fuhr sich über die Augen.«Deshalb muß ich den Text finden, wenn ich heimkomme. Ich muß einfach. Es ist nicht nur wegen der Stelle. Dieser Text – er ist ein Stück meiner Seele. »
«Hatten Sie einen guten Flug?»fragte Signora Morelli.
«Ja, danke», sagte Perlmann wie jemand, den man gerade geweckt hat.
«Sie hat wegen des Zettels von gestern morgen gefragt, nicht wahr?»fragte Leskov im Lift.
Perlmann nickte.«Ein Mißverständnis. »
 
Oben im Zimmer ließ er sich aufs Bett fallen. Er tat es, ohne den Handkoffer vorher abzusetzen – so, als wäre er mit ihm verwachsen. Als er ihn schließlich doch losließ, sah er, daß der lederne Griff vom Schweiß der Hand schwarz war.
Zu überlegen gab es nichts mehr. Jetzt war es nur noch eine Frage der Willenskraft. Zitternd wartete er darauf, daß die Empfindungen der Schuld und der eigenen Schäbigkeit, mit denen er sich zu verbünden suchte, den Sieg über die Angst davontragen würden. Erst dann konnte die Zeit wieder weiterfließen und ihn vorwärtstragen, wohin auch immer.
Es waren keine fünf Minuten vergangen, da richtete er sich auf. Langsam holte er den Umschlag aus dem Handkoffer, entfernte die Klammern und nahm die Plastikhülle heraus. Auf die beschädigten Zähnchen des Reißverschlusses brauchte er jetzt keine Rücksicht mehr zu nehmen. Mit einem einzigen Ruck, in den er seine ganze Verzweiflung legte, riß er den Verschluß auf. Eines der lockeren Zähnchen wurde dabei abgerissen und fiel zwischen die Blätter. Er zwang sich zu ein paar langsamen Atemzügen und zog den Text behutsam heraus. Mit dem Handrücken fuhr er mehrmals über das oberste, gewellte Blatt. Das Loch mit den ausgefransten, bräunlichen Rändern, wo der Zweig durchgestochen hatte, war größer, als er es in Erinnerung hatte.
Er wusch sich das Gesicht und kämmte einen lächerlich aufstehenden Haarbüschel weg. Ein frisches Hemd. Ja, auch das Jackett. Viel würde das warme Wasser gegen die kalten Hände nicht nützen, aber er ging trotzdem noch einmal ins Bad. Die Tür seines Zimmers zog er so sachte hinter sich zu, als schliefe drinnen jemand.
Als er in den Korridor mit Leskovs Zimmer einbog, wurden seine Schritte langsamer. Zwei Türen vorher drehte er um, ging zum Lift und setzte sich in den großen Korbstuhl. Es gab nichts mehr zu bedenken. Er gab ihm den Text – dann mußte er alles gestehen. Er gab ihm den Text nicht-dann bekam Leskov seinetwegen die Stelle nicht. Es war alles ganz klar. Glasklar. Es gab keinen Grund, hier im Korbstuhl zu sitzen. Kein Warten konnte jetzt noch zur Klärung von irgend etwas beitragen.
Perlmann wartete. Er hätte gerne geraucht. John Smith aus Carson City, Nevada, der im Trainingsanzug aus dem Lift kam, zeigte ihm die Schlagzeile seiner Zeitung und schüttelte mißbilligend den Kopf. Zwei französische Geschäftsleute mit Aktenkoffern kamen aus dem Korridor und gingen palavernd zur Treppe. Ein Zimmermädchen mit Bettbezügen über dem Arm schlurfte vorbei.
Perlmann ging erneut den Korridor entlang. Der blaue Läufer aus synthetischem Material war übertrieben dick, er hatte den Eindruck zu waten. Neben Leskovs Tür lehnte er sich an die Wand. Dann hielt er das Ohr an die Tür und hörte, wie Leskov hustete. Er rollte den Text ein und verbarg ihn mit der linken Hand hinter dem Rücken. Ein letztes Zögern, bevor der gekrümmte Finger, ein häßlicher, abstoßender Finger, das Holz berührte. Er klopfte zweimal. Leskov schien es nicht gehört zu haben. Perlmann begann die Nase zu laufen. Er ging einige Schritte zurück, klemmte die Rolle unter den Arm und schneuzte sich. Nach dem erneuten Klopfen hörte er Leskov zur Tür kommen. Ein kurzes Husten, bevor die Tür aufging.
«Ach, Philipp, du bist es», sagte Leskov.«Komm rein.»
Es war unmöglich, es zu tun. Unmöglich. Das war keine Einsicht, kein Wissen, keine Entscheidung. Nicht einmal ein Gedanke war es. Auch mit dem Willen hatte es eigentlich nichts zu tun. Es war überhaupt nichts, was Perlmann gegenwärtig war; nichts, worüber er verfügte. Nachher kam es ihm vor, als sei er gar nicht dabeigewesen. Der Körper konnte das Geplante einfach nicht ausführen. Der Absicht standen mächtige, unverrückbare Kräfte entgegen, die nicht wichen. An diesen Kräften glitt der Vorsatz als etwas lächerlich Kraftloses ab. Das System streikte. Eine weiße, vollständig gefühllose Panik setzte alles außer Kraft.
«Komm doch rein», wiederholte Leskov mit einem herzlichen, aber eine Spur verwunderten Lächeln.
«Nein, nein», hörte Perlmann sich sagen,«ich wollte mich nur vergewissern, wann dein Flug morgen geht. Damit ich Angelini genauer Bescheid sagen kann. »
«Ach so. Warte, ich seh’ mal schnell nach. Aber bitte, komm doch wenigstens so lange herein. »
Während Leskov den Flugschein aus dem Handkoffer holte, blieb Perlmann mit dem Rücken zur angelehnten Tür stehen. Wo die Hand die Blätter umschloß, waren sie naß.
«Um neun Uhr fünf», sagte Leskov. Er deutete auf einen Sessel.«Auf eine Zigarettenlänge?»
«Nein, wirklich nicht. Ich habe Angelini versprochen, ihn gleich zurückzurufen. Er wartet.»
Perlmann machte einen Schritt zur Seite, zog die Tür mit der rechten Hand auf und ging rückwärts hinaus. Leskov blieb unter der Tür stehen und sah ihm nach. Perlmann ging ein paar Schritte rückwärts weiter. Dann drehte er sich in einer schnellen Bewegung nach links um die eigene Achse und zog den eingerollten Text in einer gegenläufigen Bewegung vor die Brust. Mit wenigen raschen Schritten war er auf der Treppe.
In seinem Zimmer saß er minutenlang reglos auf dem Bett und stierte ins Leere. Dann holte er den großen Koffer. Darin lagen, teilweise ineinandergeschoben, ein ungeöffneter Umschlag mit Post von Frau Hartwig, die Einladung nach Princeton, das schwarze Wachstuchheft, das Bändchen von Robert Walser, die Urkunde und die Medaille. Perlmann wußte nicht mehr, wann er all diese Dinge hineingeworfen hatte. Er starrte auf das unordentliche Häufchen. Es kam ihm vor wie eine Ablagerung von Versagen, Schuld und Versäumnis. Er wußte nicht, was er damit machen sollte. Müde legte er die zerrissene und die blutbefleckte Hose darüber, danach die verdreckte, helle Jacke. Es würde idiotisch aussehen, wenn er die Olivetti-Zentrale im Blazer über der viel zu hellen Hose betrat.
Im anderen Fach verstaute er die Chronik. Dann packte er die Bücher, von denen er in den ganzen fünf Wochen kein einziges aufgeschlagen hatte, in den Handkoffer. Der Reißverschluß der Plastikhülle ließ sich nur noch zur Hälfte zuziehen. Er hatte nicht mehr die Kraft, darüber nachzudenken, tat Leskovs Text zurück in den Umschlag und steckte ihn zwischen die Bücher. Im Bad machte er den Toilettenbeutel fertig und nahm eine ganze Schlaftablette. Aus der Schublade des Schreibtischs holte er den Ausdruck der Aufzeichnungen. Paarweise riß er die Blätter durch und warf sie in den Papierkorb.
Bevor er das Licht löschte, rief er Leskov an und entschuldigte sich wegen des Abendessens. Als er den Wecker stellte, spürte er die erste Wirkung der Tablette in den Fingerspitzen.
Perlmanns Schweigen: Roman
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