21
 
Als Kirsten, von Giovanni angekündigt, am nächsten Morgen um sechs vor seiner Tür stand, mußte Perlmann sich beherrschen, um ihr nicht um den Hals zu fallen.
«Hallo, Papa», sagte sie mit einem Lächeln, in dem sich Verlegenheit und Spott mischten und in dem darüber hinaus ein Selbstbewußtsein lag, wie er es an seiner Tochter noch niemals zuvor wahrgenommen hatte.«Du hast vorgestern am Telefon so seltsam geklungen, da dachte ich, ich sollte besser mal nach dem Rechten sehen. »
Sie trug einen langen, schwarzen Mantel und helle Turnschuhe, und ihr widerspenstiges Haar wurde von einem zitronengelben Band zusammengehalten. Neben ihr auf dem Boden stand die Reisetasche aus rotem, abgegriffenem Leder, die Agnes auf allen Reisen mitgeschleppt hatte wie einen Talisman.
«Komm, setz dich», sagte er und verfluchte seinen schweren Kopf und die pelzige Zunge.«Wie bist du überhaupt hergekommen?»
Fünfzehn Stunden war sie von Konstanz bis hierher unterwegs gewesen, alles per Anhalter. Sechsmal hatte sie an der Straße gestanden, und einmal, an einer Tankstelle am Mailänder Ring, weit nach Mitternacht, hatte es über eine Stunde gedauert, bis jemand sie mitnahm. Perlmann schauderte, sagte aber kein Wort. Am besten war es am Anfang gegangen, in der Schweiz. Da hatte ein Mann sie sogar zum Essen eingeladen, bevor sie dann die Leventina-Schlucht hinunterfuhren.«Ein ganz biederer Schweizer mit Hosenträgern!»lachte sie, als sie seinen Blick sah.
Nein, Angst hatte sie eigentlich keine gehabt. Na ja, vielleicht ein bißchen, als der Typ, mit dem sie von Mailand nach Genua fuhr, immer wieder von ihrem Aussehen anfing. Da hatte sie sich geärgert, daß sie nicht genug Italienisch konnte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Aber er hatte sie dann nach hinten gelassen, wo sie etwas schlafen konnte. Und als er beim Abschied auf einem Küßchen bestand – na ja, außer daß es ziemlich kratzte und sie seinen Geruch nicht mochte, war es ganz lustig gewesen. Den Rest der Strecke war sie mit einer aufgedonnerten Frau in einem Mercedes-Coupé gefahren, die pausenlos von ihrem Streit mit einem Mann redete und ihr, Kirsten, weiter keine Beachtung schenkte. Hier, in der schlafenden Stadt, hatte es dann noch eine ganze Weile gedauert, bis sie jemanden fand, der ihr den Weg zum Hotel wies.
«Aber jetzt bin ich hier und finde es super, daß ich es gemacht habe! Weißt du, Martin war ganz schön sauer, als ich dann plötzlich doch loszog. Er hatte es mir nämlich schon ausgeredet gehabt. Doch dann, als ich aus der Mensa kam, traf ich Lasker, und als der extra stehenblieb und mir sagte, wie scharfsinnig er mein Referat gefunden habe, war ich so high, daß ich unbedingt etwas Verrücktes tun mußte. Meinst du, ich könnte Martin eben mal schnell anrufen und ihm sagen, daß ich heil angekommen bin?»
Perlmann zeigte ihr, wie man eine Außenleitung bekam, nahm seine Kleider und ging ins Bad. Er duschte abwechselnd heiß und kalt, um die Nachwirkung der Tablette zu vertreiben, und zwischendurch hielt er die Zunge unter den Wasserstrahl.
Also war sie am Ende doch nicht seinetwegen gekommen, sondern weil sie ihren Erfolg feiern wollte. Er versuchte, die Enttäuschung durch heftiges Frottieren zu bekämpfen. Mit violetten Lippen hatte er sie vorher noch nie gesehen. Es war dasselbe Violett wie damals bei Sheila. Es betonte das Aufgeworfene ihrer Lippen, mit dem sie doch schon als kleines Mädchen gehadert hatte. Die Farbe stand ihr nicht. Überhaupt nicht. Und dann all die Ringe, an jedem Finger mindestens einer. Sie waren gegeneinander versetzt, und dennoch sah es für ihn aus, als hielte sie in jeder Hand einen Schlagring.
Erst jetzt merkte er, daß ihm das Kinn weh tat, weil er den Rasierapparat ganz verkrampft hielt. Noch einmal wusch er sich die Augen aus, die verschwollen und ungesund aussahen. Dann schlüpfte er in die Kleider, lehnte sich einen Moment mit geschlossenen Augen gegen die Tür und ging dann zurück ins Zimmer.
Kirsten telefonierte immer noch und drehte schuldbewußt den Kopf, als sie Perlmann hörte.«Also dann bis Dienstag!»sagte sie rasch.«Ja, mach’ ich. Bis dann. Tschüs.»Sie legte auf.«Zu Laskers Seminar will ich nämlich wieder zurück sein. Ich dachte, vielleicht gibt es Montag abend einen Nachtzug ab Genua. In der nächsten Sitzung kann ich ja ruhig müde sein! Allerdings... äh...»Sie sah zu Boden.
«Die Fahrkarte schenke ich dir natürlich», sagte Perlmann,«schließlich bist du ja meinetwegen gekommen. »
Sie kam auf ihn zu, und er legte ihr die Hände auf die Schultern.
«Du siehst müde aus. Und bleich», sagte sie.«Ist etwas passiert? Was du da am Telefon wegen Mama gefragt hast: Ich hab’ kein Wort verstanden. »
«Ach so, das. »Die Zunge war wieder schwer.«Ich weiß nicht... Ich war da etwas durcheinander. Hat weiter nichts zu bedeuten. Und passiert: Nein, nein, es ist nichts Besonderes passiert.»
Sie sah ihn mit dem konzentrierten, skeptischen Blick an, den sie von Agnes hatte.«Aber besonders gut geht’s dir hier auch nicht, oder?»
«Ach, ich weiß nicht. Es ist irgendwie ziemlich anstrengend. Mit all den Kollegen.»
«Und dann ist es ja noch kein Jahr her. Mir kommt es manchmal vor, als seien es höchstens ein paar Wochen. Dir auch?»
Er spürte das Brennen hinter den Augen und zog sie einen Moment an sich. Dann schob er sie mit angestrengtem Elan von sich weg.«So, und jetzt besorgen wir dir erst einmal ein Zimmer in diesem Schuppen! »
Es war noch keine halbe Stunde vergangen, seit sie ihr Zimmer bezogen hatte, da war sie bereits wieder bei ihm, umgezogen und mit noch feuchten Haaren.
«Sag mal, der Preis für so ein Zimmer-das ist ja Wahnsinn!»
Schlafen wollte sie jetzt nicht, sondern das Meer in der Morgendämmerung sehen, die Terrasse, überhaupt das ganze fantastische Hotel.
«Auch den Konferenzraum mußt du mir zeigen! Habt ihr am Montag eine Sitzung? Meinst du, ich könnte da zuhören?»
Es war Perlmann, als fülle sich sein Brustkorb mit Blei. Erst frühstücken, schlug er schließlich vor. Als sie zum Lift gingen, drehte sie sich um und blickte durch den langen Korridor zurück.
«Wohnt ihr alle hier oben?»
«Wie? Ach so, nein. Eigentlich nur ich. »Er drückte noch einmal auf den Knopf für den Aufzug.
«Und warum das?»
«Warum? Ach... äh... das ist mehr oder weniger Zufall. Viele der unteren Zimmer werden während des Winters renoviert, und dann war da auch noch etwas mit dem Bett. Ich bin ganz zufrieden. Es ist schön still hier oben. »
Die Tür des Aufzugs öffnete sich.«Aha», sagte sie und zupfte an ihrem gelben Sweatshirt mit dem aufgedruckten Emblem der Rockefeller University. Auf der Fahrt nach unten sah Perlmann konzentriert auf die springenden Leuchtziffern.
Es war erst Viertel nach sieben, und im Speisesaal, wo man noch Licht brauchte, war niemand. Dem Kellner gelang es nur mit Mühe, sein Erstaunen zu verbergen. «Benvenuta!» sagte er mit einer leichten Verbeugung, als Perlmann erklärt hatte, wer Kirsten war.
Sie aß für zwei, bewunderte das silberne Besteck und die Kronleuchter und zeigte immer wieder begeistert hinaus aufs Meer, wo es nun Tag wurde und die Dämmerung dem durchsichtigen Blau eines wolkenlosen Himmels wich.
Perlmann trank nur Kaffee. Er hätte gerne geraucht, wagte es aber nicht. Vorhin, als Giovanni ihm meldete, er habe gerade eine Signorina hinaufgeschickt, die behaupte, seine Tochter zu sein, hatte er als erstes nachgesehen, ob er gestern wie üblich den Aschenbecher geleert und ausgespült hatte. Daß er wieder rauchte, das mochte er ihr jetzt noch nicht erklären. Er hatte eine Ahnung, daß diese halbe Stunde, in der sie ganz allein in dem großen, schneeweißen Saal saßen, in den jetzt immer mehr Tageslicht drängte, so daß vorhin wie von Geisterhand plötzlich die Kronleuchter erloschen waren – daß diese halbe Stunde der schönste Augenblick ihres Besuches sein würde, und er wollte ihn so lange wie möglich festhalten.
Als sie fertig war, holte sie eine Packung Zigaretten aus der indianisch aussehenden Umhängetasche. Verlegen steckte sie eine zwischen die Lippen.«Nur hin und wieder eine. Nicht so wie Mama und du früher.»Dann kramte sie ein rotes Feuerzeug mit feinem Goldrand hervor und zündete die Zigarette an. Perlmann registrierte, daß sie nur halbherzig inhalierte. Es ging auf acht. Gleich würde er zu Ende sein, dieser Moment der schweigenden Intimität im leeren Speisesaal.
Millar, Ruge und von Levetzov kamen gleichzeitig herein und blieben einen Augenblick verblüfft stehen. Dann traten sie an den Tisch, und Perlmann stellte Kirsten vor. Sie wußte zunächst gar nicht, wie ihr geschah, als von Levetzov ihre Hand zu einem angedeuteten Handkuß hochhob. Es war immer noch ein verwirrtes Lächeln auf ihrem Gesicht, als Millar ihr die Hand gab und eine sportliche Verbeugung machte.
«Good girl!» sagte er und deutete auf das Sweatshirt.«Das ist meine Universität!»
«Und er hält sie natürlich für die beste», sagte Ruge auf deutsch zu ihr.«Und das nur, weil er Bochum nicht kennt!»fügte er glucksend hinzu. Er gab ihr die Hand.«Guten Tag. Wann sind Sie angekommen? »
Perlmann war froh, daß die Frauen noch nicht kamen. Als Kirsten aufgeraucht hatte, entschuldigte er sich, und sie gingen hinaus auf die Terrasse. Vor der Veranda blieb Kirsten plötzlich stehen und reckte den Hals.
«Das sieht aus... Ist das der Konferenzraum?»
Perlmann nickte.
Sie nahm ihn bei der Hand.«Komm, den mußt du mir jetzt zeigen! »
Drinnen setzte sie sich sofort in den hohen Sessel mit der geschnitzten Lehne. Sie verglich die Eleganz des Raums mit der Schäbigkeit der Übungsräume an der Universität: hier die Tische aus Mahagoni, dort die gräulichen Resopaltische; die blitzblanken Keramikaschenbecher im Gegensatz zu den Zigarettenkippen, die in den Kaffeeresten von Pappbechern schwammen; die makellose, elektrisch bedienbare Tafel hinter ihr gegen die blinden und ständig klemmenden Tafeln zu Hause. Dann griff sie nach einem der Kristallgläser für das Mineralwasser:
«Weißt du, ich hatte einen schrecklich trockenen Mund, als ich vorne saß, vor allem am Anfang. Zum Glück fand ich noch ein Bonbon in der Jacke. Lasker brachte beinahe ein Lächeln zustande, als er sah, wie mich das Klebrige an den Fingern nachher störte. »
Auf dem Weg zur Tür zog sie an den Zotteln der Wappen und lachte über die Staubwolken. Unter der Tür drehte sie sich noch einmal um.
«Unheimlich elegant – geradezu verboten. Und dann der Blick hinaus zum Schwimmbecken... Aber die Position vorn, die ist hier dieselbe. Vom Gefühl her, meine ich. Ich hatte diese Angst, ich könnte im entscheidenden Moment alles vergessen haben. Völliger Unsinn natürlich, schließlich hatte ich ja einen ganzen Stoß von Notizen. Aber trotzdem.»Sie sah ihn an.«Du kannst das wahrscheinlich kaum mehr nachvollziehen, nach so vielen Jahren der Routine. Oder?»
Perlmann legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie sanft hinaus.
Nach einem Spaziergang am Meer entlang, auf dem sie von Martin erzählte und zwischendurch stehenblieb, um das Gesicht in die Morgensonne zu halten, wurde sie müde und wollte versuchen, etwas zu schlafen. Vor der Tür ihres Zimmers gab sie ihm einen Kuß auf die Wange und lachte über den violetten Abdruck.
«Bis später! Mußt du was arbeiten?»
Er hob die Hand und wandte sich rasch um.
 
Stunde um Stunde stand er am Fenster, bis ihm der Rücken weh tat. Hin und wieder warf er einen Blick auf den Schreibtisch. Wie ordentlich es auf dem Schreibtisch aussieht! hatte sie gesagt, bevor sie zum Frühstück gegangen waren. Als ob du gerade mit etwas fertig geworden seist.
Die Anwesenheit seiner schlafenden Tochter, sie ließ alles unwirklich erscheinen, oder besser: sie schuf eine doppelte Wirklichkeit, zwei Ebenen gewissermaßen, zwischen denen er in jedem Augenblick hinund herschwankte, ohne zu wissen, welcher er mehr angehörte und angehören wollte. Vor allem hatte sich mit Kirstens Ankunft die Zeit verdoppelt, es liefen nun zwei unverbundene zeitliche Stränge durch ihn hindurch, die beide beanspruchten, die eigentliche, wirkliche Zeit zu sein, die Zeit, die zählte. Die eine war die Zeit, die Kirsten mitgebracht hatte, die Zeit ihrer wöchentlichen Seminare, die Zeit auch, in der sich die Wochen und Monate ihrer Bekanntschaft mit Martin zählen ließen. Das war die Zeit, in die er sich vorhin auf dem Spaziergang eingefädelt hatte, um ihr nahe zu sein. Jetzt, am Fenster stehend, versuchte er noch einmal, in jene Zeit hineinzuschlüpfen, er suchte sie nach Gegenwart ab, einer Gegenwart, die alles außer seiner Tochter unwichtig machen und ihn von der Angst befreien könnte. Aber Kirstens Schlaf hatte diese Zeit, wenn auch nicht abreißen lassen, so doch für einige Stunden eingefroren, und die vorgestellte Gegenwart mit ihr zusammen würde sich erst in dem Moment wieder in eine wirkliche Gegenwart verwandeln können, wenn sie dort unten, im zweiten Stock des anderen Flügels, die Augen aufschlug. So lange war er wieder ganz in der anderen Zeit, der Zeit des Hotels, der Zeit der Angst, die mit tückischer Geräuschlosigkeit hinter dem Rücken von Kirstens Zeit weitergetickt hatte.
Perlmann zog den einen Vorhang zu und legte sich aufs Bett. Es gab, genaugenommen, nicht nur diese beiden zeitlichen Wirklichkeiten, dachte er und war dankbar für den weichen, samtenen Klang, den seine Gedanken jetzt annahmen. Da gab es nämlich auch noch die Zeit, die ihm und Kirsten ganz allein gehörte, die Zeit, die mit Agnes’ Tod begann, die Zeit der geteilten Verlassenheit und Trauer. Darin – Perlmanns Hände verkrallten sich unwillkürlich in die Tagesdekke – hatte dieser Martin nichts zu suchen, rein gar nichts. Und davor gab es noch einmal eine andere Zeit, in der Herr Wiedemann oder Wiedemeier oder wie immer dieses Jüngelchen hieß, nichts verloren hatte: die Zeit mit Agnes und Kirsten zusammen, die Zeit, in der sie alle drei aus Bergen von Bildern das Foto des Monats und am Ende das Foto des Jahres ausgesucht hatten; die Familienzeit sozusagen.
Perlmann wischte sich über die Augen. Das ernste Bild von Agnes auf dem Fenstersims tauchte auf, und jetzt sah er auch den Kaffee im hellen Teppich versickern. Es gab auch noch die Frankfurter Zeit, die verschneite Zeit, in der sich sein Briefkasten mit Werbung füllte und der Dekan auf seinen Bericht wartete. Irgend etwas hatte diese Zeit mit Kirstens Konstanzer Zeit zu tun, schien ihm; aber jetzt wurden die Gedanken so sanft und angenehm vage, daß es schade gewesen wäre, sie durch Konzentration zu stören.
 
Als Kirsten ihn mit ihrem Klopfen weckte, war es später Nachmittag.«Ich habe geschlafen wie ein Stein!»sagte sie und wirbelte durchs Zimmer.«Zeigst du mir jetzt die Stadt?»
Als er aus dem Bad kam, hatte sie das große russisch-englische Wörterbuch in der Hand, blätterte und rieb danach immer die Finger an den Jeans.
«Das ist ja ein tolles Ding», sagte sie.«Jede einzelne Wendung erläutert! Ich glaube nicht, daß Martin das kennt. Nur das Papier, das ist eklig anzufassen. Ausgesprochen widerlich. Wo hast du den Wälzer her?»
Es war Perlmann, als sähe er Santa Margherita zum erstenmal. Und als sei dies gar nicht der Ort, wo es die Veranda Marconi gab. Die vielen Plätze, Torbogen, Gäßchen – sie schienen vorher gar nicht dagewesen zu sein und unter Kirstens Blick neu zu entstehen. Hölzern wie er herumstand, wenn sie auf die Dinge zuging, um Einzelheiten zu betrachten, hätte man glauben können, er langweile sich. In Wirklichkeit ließ er sich, die Augen oft halb geschlossen, in die geborgte Gegenwart ihrer Begeisterung hineinfallen und fühlte sich dabei wie einer, der durch die vergitterten Fenster seiner Zelle aufs Meer hinausblickt.
Nachher im Cafe erlag er um ein Haar der übermächtigen Versuchung, Kirsten von seiner Not zu erzählen. Kurz bevor es soweit war, spürte er das Blut im ganzen Körper pulsieren. Enttäuscht und erleichtert zugleich hörte er sie dann den Kellner nach der Toilette fragen, und als sie mit ihrem federnden Gang und der schwingenden Tasche zurückkam, schien es ihm unmöglich, den Schritt zu tun, der, das wußte er, so vieles zwischen ihnen verändert hätte. Aber das Blut pulsierte weiter, und so holte er die Zigaretten hervor.
Entgeistert starrte sie ihn an.
«Du... Seit wann rauchst du wieder?»
Er spielte es herunter, sprach mit hohler Nonchalance von Italien, den Cafes und den Zigaretten, die einfach dazugehörten. Er fand sich ekelhaft, und sie glaubte ihm kein Wort. Es lag jetzt ein Schatten auf ihrem Gesicht. Sie empfand es als Verrat an Agnes, als Fahnenflucht. Da war er ganz sicher. Eine brennende Hilflosigkeit übermannte ihn, und ohne es vorausgeahnt zu haben, begann er, über Intimität zu sprechen, über verschiedene Formen der Loyalität, über Liebe und Freiheit.
«Wenn Intimität etwas mit dem Gleichklang zweier Leben zu tun hat, so fragt sich, ob sie mit dem Ideal verträglich ist, daß zwei Menschen sich nicht in ihrer Freiheit beschneiden sollten», schloß er.
«Papa», sagte sie leise,«so kenne ich dich ja gar nicht!»
Der Schatten war verschwunden und hatte einem Lächeln voller neugieriger Scheu Platz gemacht. Sie nahm eine seiner Zigaretten und holte das rote Feuerzeug hervor.
«Eigentlich finde ich es gar nicht so schlecht, daß du wieder rauchst», sagte sie.«Dann brauche ich mich wenigstens nicht zu entschuldigen!»
Als sie auf dem Rückweg um eine Hausecke bogen, waren sie plötzlich vor der Trattoria. Perlmann blieb stehen und schob die flache Hand zwischen die Glasperlen des Vorhangs. Dann zog er sie langsam zurück und ging ohne ein Wort weiter.
«Was war da eben?»fragte Kirsten.
«Nichts. Diese Art von Vorhang... ich mag sie. Sie hat etwas... Märchenhaftes.»
«Du bist heute voller Überraschungen!»lachte sie.«A propos märchenhaft: Sieht das weiße Hotel dort drüben am Hang nicht fantastisch aus? Könnten wir da morgen mal hingehen?»
«Das IMPERIALE. Du hast einen teuren Geschmack», lachte er, und für einen Moment verschwand er ganz in ihrer Zeit und vergaß, daß die andere Zeit, die Zeit der Veranda, unbarmherzig weitertickte.
 
Als er sie später in ihrem Zimmer zum Essen abholte, verschlug es ihm für einen Moment die Sprache. «Smashing», sagte er schließlich, nachdem sie sich in ihrem glitzernden schwarzen Kleid, dem man an einigen Stellen noch die Reise ansah, zweimal um ihre Achse gedreht hatte. Um den Hals trug sie einen indianischen Schmuck, und bis auf einen waren alle Ringe verschwunden. Als sein Blick verblüfft auf ihren Händen ruhte, kniff sie ein Auge zusammen und grinste.
«Du mochtest sie nicht. Stimmt’s?»
«Hat man das so deutlich gemerkt?»
«In dir kann ich lesen wie in einem Buch. Das konnte ich immer schon. Weißt du nicht mehr?»
Er sah auf die Uhr.«Wir müssen. Vergiß deine Tasche nicht. »
Auf dem Weg zur Tür betrachtete sie sich noch einmal im großen, halbblinden Wandspiegel und zog einen Strumpf zurecht. Wenn sie nur das verdammte Pink lassen würde, dachte er. Und auch die Absätze hätten nicht ganz so hoch zu sein brauchen. Kurz bevor sie den Korridor verließen, blieb er stehen und hielt sie am Arm zurück.
«Ich wollte dich um etwas bitten. Eine Kleinigkeit nur. »
«Ja?»
«Wahrscheinlich wird Brian Millar nach dem Essen im Salon spielen. Am Flügel, meine ich.»Er machte eine Pause und sah zu Boden.«Niemand hier weiß, daß ich auch spiele. Gespielt habe. Und ich möchte, daß das so bleibt. In Ordnung?»
Sie sah ihn forschend an und schüttelte ganz leicht den Kopf.
«Aber du brauchst dich doch nicht zu verstecken! Das möchte ich erst mal sehen, ob dieser Millar besser spielt als du!»
«Bitte. Ich... ich kann es dir nicht gut erklären. Aber ich möchte es so.»
«Wenn du es so willst: selbstverständlich», sagte sie langsam und spielte abwesend mit dem Riemen ihrer Tasche.«Aber... Irgend etwas ist los mit dir, ich spür’s schon die ganze Zeit. Willst du’s mir nicht sagen?»
«Komm», sagte er,«sonst sind wir die letzten. »
Es wurde ein Essen, bei dem Perlmann wie auf Kohlen saß. Er bemühte sich, nicht hinzusehen, aber seine Aufmerksamkeit war trotzdem ganz bei dem, was seine Tochter sagte, und bei jedem Fehler, den sie im Englischen machte, zuckte er zusammen. Dabei schlug sie sich blendend. Sie war neben Silvestri zu sitzen gekommen, schräg gegenüber von Millar.
Der Italiener war, das hatte Perlmann nicht von ihm erwartet, sofort aufgestanden, als sie an den Tisch traten, und hatte Kirsten, die sich setzte, den Stuhl zurechtgerückt. Ruges Gesicht hatte sich bei diesem Anblick zu einem Grinsen verzogen, und Kirsten war unter ihren feinen Sommersprossen leicht errötet. Als sie sich traute, ein paar Worte auf italienisch zu sagen, fuhr Silvestri sofort in seiner Muttersprache fort, bis sie abwinkte und er ihr lachend die Hand auf den bloßen Arm legte. Auch wenn sie danach vor allem mit Millar sprach – Perlmann war ganz sicher, daß sie Silvestris Gegenwart neben sich keinen Moment vergaß.
Anglistik und Geschichte, sagte sie, als Millar nach ihren Studienfächern fragte. Aber vielleicht ändere sich das auch noch, sie sei noch ganz am Anfang. Sie machte in den Antworten auf Millars Fragen nach den Einzelheiten des Studiums mehr sprachliche Fehler als vorhin, und Perlmann hatte keine Ahnung, was er aß.
Doch dann, als die Rede auf Faulkner kam und im besonderen auf The Wild Palms, sprudelte es fast fehlerfrei aus ihr heraus, und er fragte sich mehr als einmal, woher sie all diese ausgefallenen Wörter nahm. Ihr Essen wurde kalt, während sie mit glühendem Gesicht ihre These verteidigte, und auch Millar, der den Roman nicht mehr ganz gegenwärtig hatte und überraschend schwach argumentierte, legte öfter das Besteck hin und faßte an die blitzende Brille. Als sich ein klarer Punktesieg für Kirsten abzeichnete, zwang sich Perlmann, wenigstens den letzten Bissen des Filets mit Verstand zu essen, und dabei dachte er an den Kollegen Lasker, der seiner Tochter wegen extra stehengeblieben war.
Ohne zu wissen, warum, vermied er es, in Evelyn Mistrals Richtung zu blicken. Aber zweimal fing er doch einen Blick von ihr auf, und beide Male verwirrte ihn die spöttische Scheu in den grünen Augen. Als würde durch die Anwesenheit seiner Tochter etwas an ihm sichtbar, was sie zu ihrem Ärger in den bisherigen Empfindungen störte.
Laura Sand dagegen hörte der Diskussion über Faulkner in ihrer mürrischen Art zu und fragte am Ende, in welche Phase seines Lebens dieser Roman falle. Ein einziges Mal, als sie sich von Perlmann unbeobachtet glaubte, huschte ihr Blick über ihn weg und verriet, daß auch sie damit beschäftigt war, ihr bisheriges Bild von ihm zu überprüfen.
Beim Kaffee bot Silvestri Kirsten eine Gauloise an. Mit gewandtem Lächeln beugte sie sich über sein Feuerzeug, sog den Rauch ein und bekam einen Hustenanfall. Silvestris unrasiertes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, und seinen nächsten Zug behielt er besonders lange in der Lunge. Tapfer wischte sich Kirsten das Wasser aus den Augen und nahm vorsichtig einen weiteren Zug; jetzt hatte sie den Hustenreiz bereits unter Kontrolle. Während sie Milch und Zucker in den Kaffee tat, ließ sie die Zigarette mit den violetten Spuren lässig im Mundwinkel hängen. Als Silvestri sie weiterhin spöttisch betrachtete, sah es einen Moment so aus, als würde sie ihm gleich die Zunge herausstrecken.
Von Levetzov hielt Kirsten beim Hinausgehen die Tür und machte eine kleine Verbeugung. Perlmann, der hinter ihr ging, hatte genug davon, seine Tochter im Kräftefeld der Kollegen zu sehen, und wäre am liebsten hinaufgegangen. Aber jetzt gab Kirsten gerade Evelyn Mistral die Hand, die dabei den Kopf fast so schief hielt wie sonst Millar, und dann gingen die beiden Frauen, ohne miteinander zu sprechen, nebeneinander in Richtung Salon.
Während Millar spielte, sah Kirsten öfter kurz zu Perlmann hinüber und gab ihm mit dem geringschätzigen Zucken ihrer Lippen, das Agnes eine Zeitlang rasend gemacht hatte, zu verstehen, daß sie überhaupt nicht verstand, warum er sich angesichts dieser mittelmäßigen Leistung versteckte. Und als Millar sich erhob und den Deckel über den Tasten zumachte, war ihr Klatschen das kürzeste und schwächste.
Dabei war er gut gewesen, eher besser noch als sonst, und ein bißchen tat es Perlmann weh, daß seine Tochter meinte, ihn mit ihrem parteiischen Urteil aufmuntern zu müssen.
Obwohl Kirsten jetzt nur noch selten etwas gefragt wurde, wirkte sie aufgedreht, wandte jedem, der das Wort ergriff, den Kopf zu und rauchte zu Silvestris Vergnügen eine Gauloise nach der anderen. Als jemand in einem Nebensatz Perlmanns bevorstehende Einladung nach Princeton erwähnte, runzelte sie die Stirn und lächelte ihm dann zu. Sie war die letzte, die sich beim Aufbruch erhob.
Unten an der Treppe trat Evelyn Mistral auf Perlmann zu, der neben Kirsten ging.
«Es wird wohl wieder nichts mit unserem Hochzeitsspaziergang», sagte sie auf spanisch und sah demonstrativ nur ihn an.«Du hast sicher anderes vor. »
«Eh... ich weiß nicht... ja, wir werden wohl...», sagte er und ärgerte sich gleichzeitig über sein Stottern wie auch darüber, daß diese Spanierin, die ihm in diesem Moment ganz fremd war, Kirsten mit ihrem Blick so ausdrucksvoll ignorierte.
«Du brauchst dich nicht zu entschuldigen», sagte sie mit einem Gesicht, das ihn an eine Lehrerin erinnerte. «i Buenas noches!»
Mitten auf der Treppe blieb Kirsten stehen und sah in die Halle hinunter, wo Evelyn Mistral mit Ruge und von Levetzov stand.«Irre ich mich, oder hat sie dich geduzt? Ich meine, ich kann ja kein richtiges Spanisch, aber es klang mir so. »
Perlmann hatte nicht gewußt, daß es derart anstrengend sein konnte, einen ungezwungenen Ton anzuschlagen.«Ach so, ja. Ist in Spanien so üblich in akademischen Kreisen. »
Bevor sie in ihren Flur einbog, blieb Kirsten noch einmal stehen.«Boda. Was heißt das schon wieder?»
Diesmal gelang ihm ein natürliches Lächeln.«Hochzeit.»
Über ihrer Nase bildete sich die steile Furche, die er nicht mochte.«Hochzeit?»
«Ein kleiner Scherz zwischen uns.»
Sie kickte etwas Imaginäres vom Teppich, warf ihm einen kurzen Blick zu und verschwand in den Korridor.
Perlmanns Schweigen: Roman
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
dummy_split_000.html
dummy_split_001.html
dummy_split_002.html
dummy_split_003.html
dummy_split_004.html
dummy_split_005.html
dummy_split_006.html
dummy_split_007.html
dummy_split_008.html
dummy_split_009.html
dummy_split_010.html
dummy_split_011.html
dummy_split_012.html
dummy_split_013.html
dummy_split_014.html
dummy_split_015.html
dummy_split_016.html
dummy_split_017.html
dummy_split_018.html
dummy_split_019.html
dummy_split_020.html
dummy_split_021.html
dummy_split_022.html
dummy_split_023.html
dummy_split_024.html
dummy_split_025.html
dummy_split_026.html
dummy_split_027.html
dummy_split_028.html
dummy_split_029.html
dummy_split_030.html
dummy_split_031.html
dummy_split_032.html
dummy_split_033.html
dummy_split_034.html
dummy_split_035.html
dummy_split_036.html
dummy_split_037.html
dummy_split_038.html
dummy_split_039.html
dummy_split_040.html
dummy_split_041.html
dummy_split_042.html
dummy_split_043.html
dummy_split_044.html
dummy_split_045.html
dummy_split_046.html
dummy_split_047.html
dummy_split_048.html
dummy_split_049.html
dummy_split_050.html
dummy_split_051.html
dummy_split_052.html
dummy_split_053.html
dummy_split_054.html
dummy_split_055.html
dummy_split_056.html
dummy_split_057.html
dummy_split_058.html
dummy_split_059.html
dummy_split_060.html
dummy_split_061.html
dummy_split_062.html
dummy_split_063.html
dummy_split_064.html
dummy_split_065.html
dummy_split_066.html
dummy_split_067.html
dummy_split_068.html
dummy_split_069.html
dummy_split_070.html
dummy_split_071.html