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Laura Sands Sitzung
lief von Anfang an so gut wie noch keine andere. Die Veranda war
verdunkelt, und der Projektor warf Filmbilder auf eine Leinwand,
die ein bißchen schief an einem Ständer hing. Es handelte sich um
längere Bildfolgen, in denen Tiere ein Verhalten zeigten, das sich
schwer anders als symbolisch verstehen ließ. In kurzen Abständen
kreuzten Wolken von Zigarettenrauch den Lichtkegel des Projektors.
Laura Sands Stimme war sonderbar weich, und manchmal schien sie
deswegen verlegen zu werden, so daß sie unvermittelt eine
schnoddrige Bemerkung einstreute. Es gab, das war mit Händen zu
greifen, nichts, was sie so sehr liebte wie diese Tiere. Oft ließ
sie eine Bildfolge mehrmals ablaufen, um eine Beobachtung betonen,
eine Erklärung vertiefen zu können. Aber sie wiederholte auch
Ausschnitte, in denen die Bewegungen der Tiere einfach nur drollig
waren.«Noch einmal!»rief Ruge bei einer solchen Stelle, und zu
Perlmanns Überraschung fiel auch Millar ein:«Ja! Wo ist die
Zeitlupe?»
Perlmann war froh,
im Dunkeln sitzen zu können. Nach dem dritten Aspirin, das er mit
möglichst sparsamen Bewegungen in den Mund steckte und mit Kaffee
hinunterspülte, wichen die Kopfschmerzen langsam, und er flüchtete
in die weiten Steppenlandschaften, die den Hintergrund vieler
Tierszenen bildeten. Oft hatte Laura Sand nicht widerstehen können
und hatte virtuos mit der Belichtung gespielt, bis sich die
Tierkörper im Gegenlicht bewegten wie Figuren in einem
Schattenspiel. Und manchmal war die Kamera der Forschungsdisziplin
entwischt und strich über die leere Landschaft, die in einem
kochenden Mittagslicht flimmerte. Dann gelang es Perlmann zu
vergessen, daß in genau einer Woche er es sein würde, der dort
vorne saß.
Als die Jalousien
hochgingen und alle sich in dem trüben Licht eines regnerischen
Tages die Augen rieben, war es schon nach zwölf. Sofort entbrannte
eine Diskussion über die Grundbegriffe, mit denen Laura Sand das
Beobachtete einzufangen suchte. Auch Perlmann mischte sich ein und
verteidigte sie noch entschiedener als Evelyn Mistral. Dabei lief,
was er sagte, allem zuwider, was er in Veröffentlichungen zu
behaupten pflegte, und mehr als einmal hob Millar ungläubig die
Brauen. Es war kaum ein Viertel von Laura Sands Texten besprochen,
als es Zeit fürs Mittagessen wurde.
«Sie hatten heute
also Kino!»lachte Maria, als Perlmann ihr vor dem Büro über den Weg
lief.«Übrigens: Ich habe Signor Millar ausdrücklich noch einmal
gesagt, daß Ihr Text, wie Sie mir sagten, warten kann. Aber er
wollte dann trotzdem nicht, daß ich seine Sachen schreibe, ich habe
nicht verstanden, warum.»Sie lächelte kokett und warf einen Blick
auf ihr Spiegelbild in der Glastür.«So bin ich denn zunächst zum
Friseur gegangen und habe dann mit Ihrem Text begonnen, der mir
irgendwie gefällt – wenn ich das so sagen darf. Ich unterbreche
dann einfach, wenn Sie mir morgen den anderen, den dringlichen Text
bringen. Va bene?» Perlmann nickte und
war froh, daß von Levetzov erschien und ihn mit in den Speisesaal
zog.
«Hast du etwa einen
Blick auf mein Argument werfen können?»fragte ihn Evelyn Mistral
beim Nachtisch.
«Ja, hab’ ich»,
sagte er und kratzte den letzten Rest des Puddings aus der Schale,
während er fieberhaft überlegte, wie sie ihr Problem damals im Cafe
beschrieben hatte.
«Und? Du kannst es
mir ruhig sagen, wenn du es blöd findest», sagte sie mit einem
angestrengten Lächeln.
«Nein, nein,
keineswegs. Die Idee, den Zusammenhang über den Begriff des Grundes
herzustellen, finde ich gut.»Er hatte den Satz noch nicht beendet,
da war ihm schon klar, daß er in Wirklichkeit über Leskovs Argument
sprach, das in den vier widerspenstigen Sätzen
steckte.
Evelyn Mistrals
Löffel kreiste ziellos in der Schale.«Ach so, ja. Das wäre auch ein
Gedanke», sagte sie schließlich und warf ihm einen verlegenen Blick
zu.
«Ich... ich setze
mich heute nachmittag nochmals dran. Es ist alles so... knapp mit
der Zeit. »
Etwas in seiner
leisen Stimme ließ sie aufhorchen. Ihr Gesicht entspannte
sich.«Schon gut», sagte sie und legte ihm kurz die Hand auf den
Arm.
Nachher auf dem
Zimmer versuchte Perlmann vergebens, sich auf die Texte von Evelyn
Mistral und Laura Sand zu konzentrieren. Es hatte ihn gedrängt,
wenigstens das zu tun. Wenn er morgen hätte zeigen können, daß er
zumindest in diesem Sinne gearbeitet hatte, so wäre das ein kleiner
Schutz gegen alles andere gewesen, was nun unaufhaltsam auf ihn
zukam. Aber es ging ihm mit dem Geschriebenen heute wieder so wie
auf dem Hinflug: Als sei er auf einmal blind für Bedeutungen,
vermochten die Texte nicht bis zu ihm durchzudringen und
verflachten vor seinen Augen zu pedantischen
Ornamenten.
Während der nächsten
Stunden ging er langsam und ziellos durch die Stadt. Beim
Schreibwarengeschäft, wo er die Chronik gekauft hatte, war die
Schaufensterauslage vollständig verändert. Perlmann ärgerte sich
darüber, daß ihn diese Veränderung aus dem Gleichgewicht brachte;
aber erst mehrere Straßen weiter gelang es ihm, die ganze Sache
abzuschütteln.
Vollständiger Unsinn, sagte er sich immer wieder,
als er merkte, wie etwas in ihm hartnäckig versuchte, der Chronik
die Schuld an der Klemme zu geben, in der er saß. An der Theke
einer Bar, wo er allein einen Kaffee trank, hörte der innere Kampf
schließlich auf. Die Wolken hatten sich geteilt, in den Pfützen
glitzerte die Sonne, und auf einmal schien das Leben draußen wieder
an Tempo und Farbe zu gewinnen. Perlmann hielt das Gesicht in das
staubige Bündel von Sonnenstrahlen, das durch die schmale Glastür
hereinfiel. Für einen Augenblick empfand er ein verbotenes Glück
wie beim Schuleschwänzen, und als die Sonne wieder verschwand,
klammerte er sich mit aller Kraft an diese Empfindung, die jedoch
von Moment zu Moment hohler wurde und einer dumpfen, nur mühsam
gezügelten Angst wich, die zu dem düsteren Licht paßte, das die Bar
jetzt wieder ausfüllte.
Vorerst war es ja
nur Maria, der er etwas sagen mußte. Die Nachfragen der Kollegen
würden erst Montag beginnen, und endgültig zuspitzen würde sich die
Lage erst Mittwoch vormittag. Ein bißchen ließ sich die Angst durch
diesen Gedanken beschwichtigen, und Perlmann setzte seinen
ziellosen Gang durch kleine Nebenstraßen fort.
In der Trattoria war
er schon früh. Die Wirtin brachte ihm die Chronik und erzählte
voller Freude, daß Sandras Zeichnungen heute morgen vom Kunstlehrer
besonders hervorgehoben worden seien. Daraufhin habe sie ihr
erlaubt, mit anderen Kindern nach Rapallo hinüberzufahren. Perlmann
quälte sich ein Lächeln ab und stopfte mühsam die Spaghetti in sich
hinein, die er heute verkocht fand. Die Frage des Wirts, wo er denn
die letzten beiden Tage gesteckt habe, ärgerte ihn, und er tat, als
habe er sie nicht gehört.
Mit dem Interesse an
der Chronik war es endgültig vorbei, stellte er beim Blättern fest.
Gerade, als er sie zuklappen wollte, fiel sein Blick auf ein
Gemälde von Marc Chagall. Auf der billigen, stark verkleinerten
Reproduktion hatte das Blau viel von seiner Leuchtkraft verloren.
Trotzdem hatte Perlmann sofort erkannt, daß es sich um Chagalls
Blau handeln mußte. Die Abbildung gehörte zur Meldung vom Tod des
Malers. Perlmann klappte den Band wieder ganz auf und las den Text.
Irgend etwas war mit diesem Datum; aber es entzog sich dem
erinnernden Blick und blieb ganz draußen an der Peripherie des
Bewußtseins, ungreifbar wie die bloße Erinnerung an eine
Erinnerung. Mit Chagalls Farben hatte es nichts zu tun gehabt,
dessen war er sich sicher. Dieses Thema hatte er seit vielen Jahren
gemieden, um Agnes’ hartes Urteil darüber nicht noch einmal hören
zu müssen. Überhaupt war es damals, so schien ihm, eigentlich gar
nicht um Chagall gegangen. Daß er sich plötzlich ganz alleine
gefühlt hatte, daran war etwas anderes schuld gewesen. Aber es
wollte hinter den geschlossenen Lidern nichts auftauchen, was
erklärt hätte, warum die damalige Enttäuschung so eng mit seiner
jetzigen Angst verbunden schien.
Die Erinnerung kam
erst, als er nachher im Hotel vor dem Fernseher saß, genauso allein
und verzweifelt wie damals im Wohnzimmer, nachdem er den Vortrag
abgesagt hatte. Wenn du meinst, war das
erste, was Agnes gesagt hatte, als er sie, obwohl es gar keine
andere Möglichkeit mehr gab, fragte. Und als sie seinen verletzten
Gesichtsausdruck sah: Ach ja, warum auch
nicht. Das kann doch jedem passieren. Aber der lockere Ton
und die wegwerfende Handbewegung hatten ihre Enttäuschung nicht zu
verbergen vermocht: Ihr Mann, ein aufsteigender Stern in seinem
Fach, hatte den Festvortrag, der im Auditorium maximum hätte
stattfinden sollen, nicht zustande gebracht, obwohl er seit Tagen
bis spät in die Nacht hinein daran saß.
Das Schlimmste aber
war, daß die zwölfjährige Kirsten hörte, wie er den Vortrag am
Telefon mit Hinweis auf eine Erkrankung absagte. Aber du bist doch gar nicht krank, Papa. Warum hast du
gelogen? Das war das einzige Mal, daß er seine Tochter weit
weg gewünscht und einen Moment lang sogar gehaßt hatte. Er war ins
Wohnzimmer gegangen und hatte gegen alle Gewohnheit die Tür
zugemacht. Und dann war in den Fernsehnachrichten Chagalls Tod
gemeldet worden. Die Kirchenfenster, die in dem Bericht gezeigt
wurden, hatte er mit einer Inbrunst betrachtet, die ihm, als er sie
bemerkte, so peinlich war, daß er schleunigst den Kanal
wechselte.
Perlmann hatte in
dem Film, der vor ihm ablief, den Faden verloren und schaltete den
Fernseher aus. Sieben Jahre lag das jetzt zurück. Und in dieser
ganzen Zeit hatte er, so schien ihm, kein einziges Mal mehr an den
abgesagten Vortrag gedacht. Dabei hatte er in den Nächten, die
damals der Kapitulation vorangingen, das erste Mal genau die
Erfahrung gemacht, die ihn nun seit Wochen lähmte und erstarren
ließ: die Erfahrung, daß er absolut nichts zu sagen hatte. Sie war
ein derartiger Schock gewesen, diese plötzliche Erfahrung, daß er
sie hatte verbannen müssen. Und darin war er sehr erfolgreich
gewesen, denn er hatte nachher Dutzende von Vorträgen geschrieben,
die ihm leicht und selbstverständlich aus der Feder geflossen
waren. Und diese ganze Zeit über war ihm nicht die Spur einer
Erinnerung an das damalige Versagen in die Quere gekommen. Bis zum
heutigen Tage, von dem aus gesehen jener Abend Ende März als der
erste, drohende Vorbote der jetzigen Katastrophe
erschien.
Er nahm eine halbe
Schlaftablette, probierte noch einmal alle Fernsehkanäle durch, und
löschte dann das Licht. Ganz stimmte es nicht, daß die damals
verbannte Erfahrung sich nie mehr gemeldet hatte. Er dachte wieder
an den Moment vor einem Jahr, als er sich auf dem Konferenzprogramm
plötzlich als Hauptredner aufgeführt gefunden hatte. Von der Panik,
die damals aufgeflackert war, gab es, so kam es ihm jetzt vor,
einen untergründig erlebten Spannungsbogen sechs Jahre zurück zu
dem Tag von Chagalls Tod. Warum eigentlich
nicht, hatte Agnes gesagt, als er ihr gereizt erklärte, er
könne den Organisatoren der Konferenz doch nicht einfach mitteilen,
er habe nichts zu sagen.
Perlmanns Gedanken
begannen an den Rändern zu verschwimmen. Wie paßten die beiden
Reaktionen von Agnes, die vor einem Jahr und die vor sieben Jahren,
zusammen? Er versuchte sich das Gesicht vorzustellen, das die
beiden Bemerkungen begleitet hatte. Aber das einzige Gesicht, das
kam, war dasjenige auf dem Foto in Frankfurt, vor dem er gestern
geflohen war, weil es zuviel wußte.
Immer dann, wenn
alles Denken und Wollen zu zerfließen begann und jeden Moment die
Stille einsetzen konnte, schrak er auf, und dann verkrampfte sich
alles hinter der Stirn. Beim viertenmal machte er Licht und wusch
sich im Bad das Gesicht. Dann wählte er Kirstens Nummer. Ihre
verschlafene Stimme klang gequält.
«Oh, entschuldige»,
sagte er,«ich hab’ dich geweckt. »
«Ach, du bist es,
Papa. Sekunde.»Er hörte ein wischendes Geräusch, dann eine Weile
nichts mehr. Erst jetzt sah er auf die Uhr: Viertel vor
eins.
«So, da bin ich
wieder. »Jetzt klang ihre Stimme frischer.«Gibt’s was Besonderes?
Oder rufst du nur so an?»
«Eh... nur so. Das
heißt... eigentlich wollte ich dich fragen, warum Agnes... warum
Mama Chagalls Farben nicht mochte.»Er verfluchte sich, daß er sie
mit seiner schweren, pelzigen Zunge angerufen und nicht wenigstens
vorher eine Sprechprobe gemacht hatte.
«Was für
Farben?»
Er ballte die Faust
und war versucht, einfach aufzulegen.«Die Farben auf Marc Chagalls
Bildern. »
«Ach so. Chagall. Du
sprichst so undeutlich. Na ja... ich weiß nicht... eine komische
Frage. Hat sie sie denn wirklich nicht gemocht? »
«Ja, hat sie. Aber
jetzt noch was anderes: Glaubst du, sie hätte es verstanden, wenn
ich mal nichts zu sagen gewußt hätte?»
«Wie: nichts zu sagen?»
«Wenn mir... ich
meine, wenn mir mal einfach nichts eingefallen wäre. »
«Zu
was?»
«Zu... einfach so.
Nichts eingefallen. Und die anderen warteten.»«Papa, du sprichst in
Rätseln. Welche anderen denn?»
«Die anderen eben.
»Er hatte es so leise gesagt, daß er unsicher war, ob sie es gehört
hatte.
«Ich verstehe nur
Bahnhof. Papa, was ist los mit dir?»
Er versuchte, ganz
schnell Speichel zu erzeugen, und ließ ihn über die Zunge
laufen.«Nichts, Kirsten. Es ist nichts. Ich wollte nur ein bißchen
mit dir reden. Gute Nacht jetzt. »
«Eh... ja. Dann
also... gute Nacht.»
Er ging ins Bad und
nahm noch eine Vierteltablette. Zum Glück hatte er sie nicht
gefragt, ob sie sich an den abgesagten Vortrag damals erinnere.
Viel hatte nicht gefehlt. Er drehte sich auf den Bauch und preßte
das Gesicht ins Kissen, als könne er dadurch den Schlaf
herbeizwingen.