19
 
Laura Sands Sitzung lief von Anfang an so gut wie noch keine andere. Die Veranda war verdunkelt, und der Projektor warf Filmbilder auf eine Leinwand, die ein bißchen schief an einem Ständer hing. Es handelte sich um längere Bildfolgen, in denen Tiere ein Verhalten zeigten, das sich schwer anders als symbolisch verstehen ließ. In kurzen Abständen kreuzten Wolken von Zigarettenrauch den Lichtkegel des Projektors. Laura Sands Stimme war sonderbar weich, und manchmal schien sie deswegen verlegen zu werden, so daß sie unvermittelt eine schnoddrige Bemerkung einstreute. Es gab, das war mit Händen zu greifen, nichts, was sie so sehr liebte wie diese Tiere. Oft ließ sie eine Bildfolge mehrmals ablaufen, um eine Beobachtung betonen, eine Erklärung vertiefen zu können. Aber sie wiederholte auch Ausschnitte, in denen die Bewegungen der Tiere einfach nur drollig waren.«Noch einmal!»rief Ruge bei einer solchen Stelle, und zu Perlmanns Überraschung fiel auch Millar ein:«Ja! Wo ist die Zeitlupe?»
Perlmann war froh, im Dunkeln sitzen zu können. Nach dem dritten Aspirin, das er mit möglichst sparsamen Bewegungen in den Mund steckte und mit Kaffee hinunterspülte, wichen die Kopfschmerzen langsam, und er flüchtete in die weiten Steppenlandschaften, die den Hintergrund vieler Tierszenen bildeten. Oft hatte Laura Sand nicht widerstehen können und hatte virtuos mit der Belichtung gespielt, bis sich die Tierkörper im Gegenlicht bewegten wie Figuren in einem Schattenspiel. Und manchmal war die Kamera der Forschungsdisziplin entwischt und strich über die leere Landschaft, die in einem kochenden Mittagslicht flimmerte. Dann gelang es Perlmann zu vergessen, daß in genau einer Woche er es sein würde, der dort vorne saß.
Als die Jalousien hochgingen und alle sich in dem trüben Licht eines regnerischen Tages die Augen rieben, war es schon nach zwölf. Sofort entbrannte eine Diskussion über die Grundbegriffe, mit denen Laura Sand das Beobachtete einzufangen suchte. Auch Perlmann mischte sich ein und verteidigte sie noch entschiedener als Evelyn Mistral. Dabei lief, was er sagte, allem zuwider, was er in Veröffentlichungen zu behaupten pflegte, und mehr als einmal hob Millar ungläubig die Brauen. Es war kaum ein Viertel von Laura Sands Texten besprochen, als es Zeit fürs Mittagessen wurde.
«Sie hatten heute also Kino!»lachte Maria, als Perlmann ihr vor dem Büro über den Weg lief.«Übrigens: Ich habe Signor Millar ausdrücklich noch einmal gesagt, daß Ihr Text, wie Sie mir sagten, warten kann. Aber er wollte dann trotzdem nicht, daß ich seine Sachen schreibe, ich habe nicht verstanden, warum.»Sie lächelte kokett und warf einen Blick auf ihr Spiegelbild in der Glastür.«So bin ich denn zunächst zum Friseur gegangen und habe dann mit Ihrem Text begonnen, der mir irgendwie gefällt – wenn ich das so sagen darf. Ich unterbreche dann einfach, wenn Sie mir morgen den anderen, den dringlichen Text bringen. Va bene?» Perlmann nickte und war froh, daß von Levetzov erschien und ihn mit in den Speisesaal zog.
«Hast du etwa einen Blick auf mein Argument werfen können?»fragte ihn Evelyn Mistral beim Nachtisch.
«Ja, hab’ ich», sagte er und kratzte den letzten Rest des Puddings aus der Schale, während er fieberhaft überlegte, wie sie ihr Problem damals im Cafe beschrieben hatte.
«Und? Du kannst es mir ruhig sagen, wenn du es blöd findest», sagte sie mit einem angestrengten Lächeln.
«Nein, nein, keineswegs. Die Idee, den Zusammenhang über den Begriff des Grundes herzustellen, finde ich gut.»Er hatte den Satz noch nicht beendet, da war ihm schon klar, daß er in Wirklichkeit über Leskovs Argument sprach, das in den vier widerspenstigen Sätzen steckte.
Evelyn Mistrals Löffel kreiste ziellos in der Schale.«Ach so, ja. Das wäre auch ein Gedanke», sagte sie schließlich und warf ihm einen verlegenen Blick zu.
«Ich... ich setze mich heute nachmittag nochmals dran. Es ist alles so... knapp mit der Zeit. »
Etwas in seiner leisen Stimme ließ sie aufhorchen. Ihr Gesicht entspannte sich.«Schon gut», sagte sie und legte ihm kurz die Hand auf den Arm.
 
Nachher auf dem Zimmer versuchte Perlmann vergebens, sich auf die Texte von Evelyn Mistral und Laura Sand zu konzentrieren. Es hatte ihn gedrängt, wenigstens das zu tun. Wenn er morgen hätte zeigen können, daß er zumindest in diesem Sinne gearbeitet hatte, so wäre das ein kleiner Schutz gegen alles andere gewesen, was nun unaufhaltsam auf ihn zukam. Aber es ging ihm mit dem Geschriebenen heute wieder so wie auf dem Hinflug: Als sei er auf einmal blind für Bedeutungen, vermochten die Texte nicht bis zu ihm durchzudringen und verflachten vor seinen Augen zu pedantischen Ornamenten.
Während der nächsten Stunden ging er langsam und ziellos durch die Stadt. Beim Schreibwarengeschäft, wo er die Chronik gekauft hatte, war die Schaufensterauslage vollständig verändert. Perlmann ärgerte sich darüber, daß ihn diese Veränderung aus dem Gleichgewicht brachte; aber erst mehrere Straßen weiter gelang es ihm, die ganze Sache abzuschütteln.
Vollständiger Unsinn, sagte er sich immer wieder, als er merkte, wie etwas in ihm hartnäckig versuchte, der Chronik die Schuld an der Klemme zu geben, in der er saß. An der Theke einer Bar, wo er allein einen Kaffee trank, hörte der innere Kampf schließlich auf. Die Wolken hatten sich geteilt, in den Pfützen glitzerte die Sonne, und auf einmal schien das Leben draußen wieder an Tempo und Farbe zu gewinnen. Perlmann hielt das Gesicht in das staubige Bündel von Sonnenstrahlen, das durch die schmale Glastür hereinfiel. Für einen Augenblick empfand er ein verbotenes Glück wie beim Schuleschwänzen, und als die Sonne wieder verschwand, klammerte er sich mit aller Kraft an diese Empfindung, die jedoch von Moment zu Moment hohler wurde und einer dumpfen, nur mühsam gezügelten Angst wich, die zu dem düsteren Licht paßte, das die Bar jetzt wieder ausfüllte.
Vorerst war es ja nur Maria, der er etwas sagen mußte. Die Nachfragen der Kollegen würden erst Montag beginnen, und endgültig zuspitzen würde sich die Lage erst Mittwoch vormittag. Ein bißchen ließ sich die Angst durch diesen Gedanken beschwichtigen, und Perlmann setzte seinen ziellosen Gang durch kleine Nebenstraßen fort.
In der Trattoria war er schon früh. Die Wirtin brachte ihm die Chronik und erzählte voller Freude, daß Sandras Zeichnungen heute morgen vom Kunstlehrer besonders hervorgehoben worden seien. Daraufhin habe sie ihr erlaubt, mit anderen Kindern nach Rapallo hinüberzufahren. Perlmann quälte sich ein Lächeln ab und stopfte mühsam die Spaghetti in sich hinein, die er heute verkocht fand. Die Frage des Wirts, wo er denn die letzten beiden Tage gesteckt habe, ärgerte ihn, und er tat, als habe er sie nicht gehört.
Mit dem Interesse an der Chronik war es endgültig vorbei, stellte er beim Blättern fest. Gerade, als er sie zuklappen wollte, fiel sein Blick auf ein Gemälde von Marc Chagall. Auf der billigen, stark verkleinerten Reproduktion hatte das Blau viel von seiner Leuchtkraft verloren. Trotzdem hatte Perlmann sofort erkannt, daß es sich um Chagalls Blau handeln mußte. Die Abbildung gehörte zur Meldung vom Tod des Malers. Perlmann klappte den Band wieder ganz auf und las den Text. Irgend etwas war mit diesem Datum; aber es entzog sich dem erinnernden Blick und blieb ganz draußen an der Peripherie des Bewußtseins, ungreifbar wie die bloße Erinnerung an eine Erinnerung. Mit Chagalls Farben hatte es nichts zu tun gehabt, dessen war er sich sicher. Dieses Thema hatte er seit vielen Jahren gemieden, um Agnes’ hartes Urteil darüber nicht noch einmal hören zu müssen. Überhaupt war es damals, so schien ihm, eigentlich gar nicht um Chagall gegangen. Daß er sich plötzlich ganz alleine gefühlt hatte, daran war etwas anderes schuld gewesen. Aber es wollte hinter den geschlossenen Lidern nichts auftauchen, was erklärt hätte, warum die damalige Enttäuschung so eng mit seiner jetzigen Angst verbunden schien.
Die Erinnerung kam erst, als er nachher im Hotel vor dem Fernseher saß, genauso allein und verzweifelt wie damals im Wohnzimmer, nachdem er den Vortrag abgesagt hatte. Wenn du meinst, war das erste, was Agnes gesagt hatte, als er sie, obwohl es gar keine andere Möglichkeit mehr gab, fragte. Und als sie seinen verletzten Gesichtsausdruck sah: Ach ja, warum auch nicht. Das kann doch jedem passieren. Aber der lockere Ton und die wegwerfende Handbewegung hatten ihre Enttäuschung nicht zu verbergen vermocht: Ihr Mann, ein aufsteigender Stern in seinem Fach, hatte den Festvortrag, der im Auditorium maximum hätte stattfinden sollen, nicht zustande gebracht, obwohl er seit Tagen bis spät in die Nacht hinein daran saß.
Das Schlimmste aber war, daß die zwölfjährige Kirsten hörte, wie er den Vortrag am Telefon mit Hinweis auf eine Erkrankung absagte. Aber du bist doch gar nicht krank, Papa. Warum hast du gelogen? Das war das einzige Mal, daß er seine Tochter weit weg gewünscht und einen Moment lang sogar gehaßt hatte. Er war ins Wohnzimmer gegangen und hatte gegen alle Gewohnheit die Tür zugemacht. Und dann war in den Fernsehnachrichten Chagalls Tod gemeldet worden. Die Kirchenfenster, die in dem Bericht gezeigt wurden, hatte er mit einer Inbrunst betrachtet, die ihm, als er sie bemerkte, so peinlich war, daß er schleunigst den Kanal wechselte.
Perlmann hatte in dem Film, der vor ihm ablief, den Faden verloren und schaltete den Fernseher aus. Sieben Jahre lag das jetzt zurück. Und in dieser ganzen Zeit hatte er, so schien ihm, kein einziges Mal mehr an den abgesagten Vortrag gedacht. Dabei hatte er in den Nächten, die damals der Kapitulation vorangingen, das erste Mal genau die Erfahrung gemacht, die ihn nun seit Wochen lähmte und erstarren ließ: die Erfahrung, daß er absolut nichts zu sagen hatte. Sie war ein derartiger Schock gewesen, diese plötzliche Erfahrung, daß er sie hatte verbannen müssen. Und darin war er sehr erfolgreich gewesen, denn er hatte nachher Dutzende von Vorträgen geschrieben, die ihm leicht und selbstverständlich aus der Feder geflossen waren. Und diese ganze Zeit über war ihm nicht die Spur einer Erinnerung an das damalige Versagen in die Quere gekommen. Bis zum heutigen Tage, von dem aus gesehen jener Abend Ende März als der erste, drohende Vorbote der jetzigen Katastrophe erschien.
Er nahm eine halbe Schlaftablette, probierte noch einmal alle Fernsehkanäle durch, und löschte dann das Licht. Ganz stimmte es nicht, daß die damals verbannte Erfahrung sich nie mehr gemeldet hatte. Er dachte wieder an den Moment vor einem Jahr, als er sich auf dem Konferenzprogramm plötzlich als Hauptredner aufgeführt gefunden hatte. Von der Panik, die damals aufgeflackert war, gab es, so kam es ihm jetzt vor, einen untergründig erlebten Spannungsbogen sechs Jahre zurück zu dem Tag von Chagalls Tod. Warum eigentlich nicht, hatte Agnes gesagt, als er ihr gereizt erklärte, er könne den Organisatoren der Konferenz doch nicht einfach mitteilen, er habe nichts zu sagen.
Perlmanns Gedanken begannen an den Rändern zu verschwimmen. Wie paßten die beiden Reaktionen von Agnes, die vor einem Jahr und die vor sieben Jahren, zusammen? Er versuchte sich das Gesicht vorzustellen, das die beiden Bemerkungen begleitet hatte. Aber das einzige Gesicht, das kam, war dasjenige auf dem Foto in Frankfurt, vor dem er gestern geflohen war, weil es zuviel wußte.
Immer dann, wenn alles Denken und Wollen zu zerfließen begann und jeden Moment die Stille einsetzen konnte, schrak er auf, und dann verkrampfte sich alles hinter der Stirn. Beim viertenmal machte er Licht und wusch sich im Bad das Gesicht. Dann wählte er Kirstens Nummer. Ihre verschlafene Stimme klang gequält.
«Oh, entschuldige», sagte er,«ich hab’ dich geweckt. »
«Ach, du bist es, Papa. Sekunde.»Er hörte ein wischendes Geräusch, dann eine Weile nichts mehr. Erst jetzt sah er auf die Uhr: Viertel vor eins.
«So, da bin ich wieder. »Jetzt klang ihre Stimme frischer.«Gibt’s was Besonderes? Oder rufst du nur so an?»
«Eh... nur so. Das heißt... eigentlich wollte ich dich fragen, warum Agnes... warum Mama Chagalls Farben nicht mochte.»Er verfluchte sich, daß er sie mit seiner schweren, pelzigen Zunge angerufen und nicht wenigstens vorher eine Sprechprobe gemacht hatte.
«Was für Farben?»
Er ballte die Faust und war versucht, einfach aufzulegen.«Die Farben auf Marc Chagalls Bildern. »
«Ach so. Chagall. Du sprichst so undeutlich. Na ja... ich weiß nicht... eine komische Frage. Hat sie sie denn wirklich nicht gemocht? »
«Ja, hat sie. Aber jetzt noch was anderes: Glaubst du, sie hätte es verstanden, wenn ich mal nichts zu sagen gewußt hätte?»
«Wie: nichts zu sagen?»
«Wenn mir... ich meine, wenn mir mal einfach nichts eingefallen wäre. »
«Zu was?»
«Zu... einfach so. Nichts eingefallen. Und die anderen warteten.»«Papa, du sprichst in Rätseln. Welche anderen denn?»
«Die anderen eben. »Er hatte es so leise gesagt, daß er unsicher war, ob sie es gehört hatte.
«Ich verstehe nur Bahnhof. Papa, was ist los mit dir?»
Er versuchte, ganz schnell Speichel zu erzeugen, und ließ ihn über die Zunge laufen.«Nichts, Kirsten. Es ist nichts. Ich wollte nur ein bißchen mit dir reden. Gute Nacht jetzt. »
«Eh... ja. Dann also... gute Nacht.»
Er ging ins Bad und nahm noch eine Vierteltablette. Zum Glück hatte er sie nicht gefragt, ob sie sich an den abgesagten Vortrag damals erinnere. Viel hatte nicht gefehlt. Er drehte sich auf den Bauch und preßte das Gesicht ins Kissen, als könne er dadurch den Schlaf herbeizwingen.
Perlmanns Schweigen: Roman
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