15
Er schlief bis weit
in den Sonntag hinein. Der Kellner, der ihm das späte Frühstück
brachte, überreichte ihm einen Zettel, der in der Tür gesteckt
hatte: Also doch kein«Hochzeitsspaziergang»?
Wenn du am Nachmittag etwas unternehmen willst, melde dich!
Evelyn.
Ihre sorgfältige,
nach vorne geneigte Schrift mit den gerundeten Verbindungslinien
zwischen den Buchstaben gefiel ihm, und als der Kellner die Tür
hinter sich zugemacht hatte, ging er zum Telefon. Mitten im Wählen
legte er wieder auf. Nicht mit diesem Kopf, und überhaupt nicht in
einer derart zittrigen Verfassung.
In Leskovs Text
kamen jetzt die Seiten, auf denen die Erinnerung an sinnliche
Erfahrungen in Analogie zur Erinnerung an Gefühle interpretiert
wurde. Der reiche, von Leskov offenbar mit Genuß ausgebreitete
Wortschatz für die Schattierungen in Geruch und Geschmack, aber
auch für Tonqualitäten, war wie ein Dickicht, durch das man sich
Schritt für Schritt hindurchkämpfen mußte, und wieder einmal wurde
Perlmann bewußt, wie viele Winkel es auch im Englischen gab, in die
er noch nie geleuchtet hatte. Oft mußte er zum englisch-deutschen
Wörterbuch greifen, um zu wissen, wovon die Rede war, und es
blieben gut zwei Dutzend Stellen, wo er ein englisches Wort
hinschrieb, ohne zu wissen, was es bedeutete. Millar wüβte es. Er kam sich dann vor wie eine
Maschine, die Zeichen nach bloß syntaktischen Regeln zuordnete,
ohne irgend etwas von der Entsprechung der Bedeutungen zu wissen.
Das ließ nicht nur eine Empfindung der Blindheit und Hilflosigkeit
entstehen, sondern verhinderte auch, daß er richtig in den Sog des
Übersetzens geriet, der ihn gegen die Panik hätte schützen können,
die jetzt, wo die nächtliche Betäubung abgeklungen war, mit immer
mehr Macht ins Bewußtsein drängte.
Als er spürte, daß
ihn die Angst im nächsten Augenblick überspülen und mit sich
fortreißen würde, streckte er den Arm aus und griff nach dem
russisch-italienischen Wörterbuch in der hinteren Ecke des
Schreibtischs wie nach einem Rettungsanker. Er hatte Glück, eine
Reihe der unverstandenen Wörter wurde ihm über diesen Umweg klar,
und nun warf er sich mit aller Kraft in den Versuch, die nächsten
Absätze direkt ins Italienische zu übersetzen.
Die ersten Zeilen,
die er direkt hinter einen englischen Absatz geschrieben hatte,
strich er wieder aus und nahm für den italienischen Text neue
Blätter. Allmählich stellte sich das Prickeln ein, das er immer
empfand, wenn er zwischen zwei Fremdsprachen hin- und hersprang. In
den nun folgenden Passagen ging es um farbliche Erinnerungen, und
jetzt stellte er fest, wie wenig versiert er im Italienischen war,
wenn es um ausgefallene Farbwörter ging. In freudiger Aufregung
griff er wieder zum großen roten Lexikon und fand dort viele der
Wörter wieder, die Laura Sand ihm gestern nachmittag erklärt hatte.
Er stellte eine englisch-italienische Liste dieser Wörter zusammen
und war ärgerlich, daß das russisch-italienische Wörterbuch zu
beschränkt war, um alle Lücken zu schließen.
Als er im Handkoffer
nach neuem Schreibpapier suchte, fiel ihm das schwarze
Wachstuchheft mit seinen Aufzeichnungen in die Hand. Der einzige
eigene Text, den ich mithabe. In einer Mischung aus Neugierde und
Scheu setzte er sich in den roten Sessel und begann zu
lesen:
Man kann es nicht oft genug betonen: Man wächst in die
Welt hinein durch Nachplappern von Wörtern. Diese Wörter kommen
nicht allein, wir hören sie als Teile von Urteilen, Sinnsprüchen,
Sentenzen. Mit diesen Urteilen verhält es sich lange Zeit ähnlich:
Auch sie plappern wir einfach nach. Nicht viel anders als den
Refrain eines Kinderlieds. Und man muß es fast als einen Glücksfall
bezeichnen, wenn es einem später gelingt, diese aufdringlichen,
betäubenden Wortfolgen als das zu erkennen, was sie sind: blinde
Gewohnheiten.
MESTRE IST HÄSSLICH,
sagt der Vater, wann immer die Rede auf
Venedig kommt. VENEDIG IST EIN TRAUM. MESTRE DAGEGEN IST
HÄSSLICH. Man hört den Satz immer wieder, er
kommt mit der Regelmäßigkeit eines Automaten. Es ist die schiere Wiederholung, das Klicken eines
Automatismus, sonst nichts. Und dann spricht man den Satz nach. Man
hat ihn nicht überprüft, von Aneignung keine Spur. Es geschieht
wirklich nur dieses: Man spricht ihn nach, wiederholt ihn mit
wachsender Routine. Das ist alles. Man versteht den Satz, es ist
ein Satz der Muttersprache. Trotzdem drückt er nichts aus, was man
einen Gedanken nennen könnte. Es ist ein blind verstandener,
buchstäblich gedankenloser Satz.
DIE POEBENE IST
LANGWEILIG ist ein anderer dieser Sätze,
dieses Mal einer der Mutter. Man sagt in Zukunft:«Wenn es auf der
Fahrt durch die Poebene Nacht ist, so macht das nichts, die Poebene
ist ohnehin langweilig»; und so weiter. Der Satz steht nicht mehr
zur Disposition. Er ist ein innerer Fixpunkt, eine Konstante, ein
Träger im Gerüst. Er stellt für immer eine Weiche, macht ein
Geleise unbefahrbar, verbaut eine Möglichkeit. Er stiehlt einem
eine Landschaft, ein Stück Erde, denn er dirigiert einen um diese
Gegend herum und macht sie dadurch zu einem weißen, blinden Fleck
auf der Landkarte der Erfahrungen. Mit wie vielen unserer gewohnten
Sätze verhält es sich so wie mit den Sätzen über Mestre und die
Poebene – ohne daß wir es merken?
Die Erinnerung an
das kahle Hotelzimmer mit der hohen Decke und den uralten Armaturen
im Badezimmer drängte ins Bewußtsein, eine Erinnerung, die Perlmann
seit Jahren nicht mehr angerührt hatte. Auch jetzt wollte er nichts
mit ihr zu tun haben. Er blätterte um, entschlossen, mit dieser
Bewegung das ferne Echo der damaligen Empfindungen zu
verscheuchen.
Und da sah er
verdutzt, daß der Text auf englisch weiterging, mit kleineren
Buchstaben und einer dünneren Kugelschreibermine. Zunächst kamen
Abschnitte, in denen das Thema vom Anfang noch einmal aufgenommen
und variiert wurde. Die nachgeplapperten Sätze wurden jetzt als
festgefrorene Elemente beschrieben, die in ihrer tückischen
Unauffälligkeit verhinderten, daß Erfahrungen gemacht wurden und
sich im Erleben etwas veränderte. Sie hätten eine hypnotische
Wirkung, hatte er notiert, und dann hinzugefügt, daß das nicht nur
für Feststellungen wie diejenigen über Mestre und die Poebene
gelte, sondern auch für Fragen, die bei jedem Gespräch über die
Zukunft wie ein Refrain zu kommen pflegten: UND DANN? WAS WILLST DU
DANACH MACHEN? WANN BIST DU FERTIG? WOZU SOLL DAS GUT
SEIN?
Linguistic waste hatte er alles genannt, was auf
diese Weise das Erleben verstellte und einem die Möglichkeit
raubte, sich auf Neues, Überraschendes einzulassen. Sprachschutt, dachte Perlmann, und während er das
Wort halblaut wiederholte, geriet er nun doch in den Sog des
Erinnerns und sah sich in dem kahlen Zimmer in Mestre auf dem Bett
liegen, wütend über all den Sprachschutt, den er in sich viel zu
spät entdeckt hatte, und wütend auch über sich selbst, weil er
wegen eines einzigen Satzes diese unsinnige Reise unternommen
hatte.
Er hatte einen
Nachtzug nach Mailand genommen und war dann an einem grauen Morgen
Anfang Oktober durch die Poebene gefahren, obwohl das ein Umweg
war. Wie es dort ausgesehen hatte, wußte er nicht mehr. Aber sehr
genau erinnerte er sich an die trotzige Empfindung, mit der er sein
Gesicht stundenlang gegen das Zugfenster gepreßt hatte, so daß die
Mitreisenden mehrmals fragten, was es denn da so Interessantes zu
sehen gebe.
In Mestre war er in
ein Hotel gegenüber dem Bahnhof gegangen, wo ihm der Page jenen
Tanzsaal von einem Zimmer aufgeschlossen hatte. Nach ein paar
Stunden Schlaf war er in der hereinbrechenden Dämmerung durch
nichtssagende Straßen getrottet, bis er vollständig durchnäßt war.
Nachher, in der Badewanne, hatte er nur noch Leere empfunden. Es
war grotesk und grenzte an Irrsinn: Die ganze Reise, dieses ganze
Exerzitium, nur um mit diesem einen Satz des Vaters abzurechnen.
Wie wenn er ein Exempel statuieren wollte, stellvertretend für all
den übrigen Sprachschutt. Statuieren für wen? Niemand sah es,
niemand nahm es zur Kenntnis. Im Gegenteil: Er würde es niemandem
erzählen können, man würde ihn auslachen oder ansehen wie einen
Gestörten. Wozu also? Wäre ein gleichgültiges Schulterzucken nicht
viel wirksamer gewesen? Das schlimmste war, daß Agnes ihn innerlich
nicht begleitete. Sie hielt die Reise für Irrsinn und war wütend
über seinen Fanatismus. Gegen dieses Wissen half auch der Film mit
seinen Lieblingsschauspielern nichts, der im Fernsehen
lief.
Später rief er zu
Hause an und war froh, daß Kirsten abnahm. Ihre Stimme weckte die
absurde Hoffnung, von ihr, einer Sechzehnjährigen, besser
verstanden zu werden.
«Was machst du
eigentlich wirklich in diesem... wie heißt es gleich...
Mestre?»fragte sie.
Nach einer Pause, in
der es glücklicherweise rauschte und knackte, fragte er sie, wie
man es mache, in der Gegenwart zu leben.
«Was? Ich höre dich
so schlecht.»
Er wiederholte die
Frage, jetzt im vollen Bewußtsein der Lächerlichkeit.
«Papa, bist du
betrunken?»
Nein, es sei nicht
nötig, die Mama zu holen, sagte er, sie möge ihr nur ausrichten, er
sei gut angekommen.
Sich selbst mußte er
die Falschheit des Satzes doch gar nicht beweisen. Ihm stand er
eigentlich längst nicht mehr im Wege. Er war ohne weiteres bereit,
sich Mestre als eine blühende Stadt vorzustellen, meinetwegen wie
Kyoto in der Kirschblüte. Das hatte er schon am Bahnhof in
Frankfurt gedacht, und einen Moment hatte er erwogen umzukehren.
Aber inzwischen empfand er es als eine Frage des Gesichtsverlusts
und war zugleich zusammengezuckt bei dem Gedanken, daß so etwas
zwischen ihm und Agnes plötzlich eine Rolle spielte.
Mußte er es immer
noch dem Vater beweisen? Oder war die Reise einfach eine bizarre
Art und Weise, die Wut über Berge von sprachlichem Schutt
abzureagieren? Stellvertretend für alle Sätze? Wieso war niemand
anderes wütend über die erstickende Kraft sprachlichen Schutts? Er
hatte sich auf dem Bahnhof umgesehen und auch im Zugals könne man
jemandem so etwas ansehen.
Hätte er diese
absurde Reise auch gemacht, wenn er sich mit seiner einsamen Wut
gegen niemanden hätte behaupten müssen? Hätte er sie auch gemacht,
wenn er ganz allein auf der Welt dastünde? War es am Ende vor allem
eine Reise gegen Agnes?
Die Frage hatte ihn
verfolgt, als er am nächsten Tag kreuz und quer durch Mestre
gestiefelt war. Es war absurd, durch eine Stadt – irgendeine Stadt
– zu gehen und sich andauernd zu fragen, ob sie schön oder häßlich
sei. Absurd war gar kein Ausdruck
dafür, hatte er gedacht. Und dann war er plötzlich auf der Piazza
Erminio Ferretto gelandet, einem langgezogenen Platz mit vielen
Cafes und einer Unmenge von Leuten, die rauchend und schwatzend den
Feiertag genossen. Trotz der vielen Leute hatte es ihm hier
gefallen. Es hatte ihm gefallen, Agnes hin oder her. Unweit des
Platzes fand er nachher noch die Galleria Matteotti, ein
kleinstädtisches Echo der berühmten Mailänder Galleria. Er wußte
nicht, ob es Verzweiflung oder Selbstironie war, aber er hatte sie
ausgeschritten, diese unbedeutende Passage, dreiundfünfzig bequeme
Schritte waren es gewesen, das wußte er heute noch.
Nachmittags, als er
in Venedig vor dem Albergo stand, wo ihm Agnes das Haar gewaschen
hatte, tat es dann wieder weh. Die Sonne brach durch, als er sich
in jenes Cafe setzte, wo damals ihr rätselhaftes«Jaa»gefallen war.
Die Touristen zogen Mäntel und Jacken aus. Ihn hielt es nicht.
Mitten in der Bestellung entschuldigte er sich beim Kellner und
ging mit raschen Schritten zum Vaporetto, das ihn zum Bahnhof
brachte. In Mestre bezahlte er die unverschämt hohe Hotelrechnung
und fuhr auf direktem Wege nach Mailand, wo er in den Nachtzug nach
Deutschland umstieg.
Als er sich kurz vor
Frankfurt in der Zugtoilette das übernächtigte, unrasierte Gesicht
wusch, merkte er mit Verwunderung, daß er froh und zufrieden war,
die Reise gemacht zu haben.
«Mestre ist
wunderschön», sagt er, als ihn Agnes ansah.«Du müßtest die Piazza
Ferretto sehen! Und die Galleria! »
Er sagte es
ironisch, aber sie mochte diese Schattierung der Ironie nicht. Sie
spürte, daß dahinter ausgehaltene Einsamkeit stand, und daß diese
Einsamkeit ihm eine unangenehme, rücksichtslose Stärke verlieh,
eine Stärke, die ihn, weil sie mit Schmerz getränkt war, dazu
treiben könnte, sich für etwas grausam zu rächen.
Perlmann duschte
lange und las dann weiter. Wieder wechselte die Mine des
Kugelschreibers, und die Schrift wurde fahrig, als sei er in Eile
gewesen oder gereizt. Language as an enemy of
imagination. Daran erinnerte er sich überhaupt nicht mehr,
er las es wie den Text eines Fremden, erstaunt, unsicher und doch
auch ein bißchen stolz, daß er sich offenbar im Laufe der Zeit mehr
Gedanken gemacht hatte, als er sich zugetraut hätte.
Das Denken in Sätzen
– so las er – bedeute stets eine Verringerung von Möglichkeiten.
Nicht nur in dem einfachen Sinne, daß der tatsächlich gedachte Satz
sowohl der Logik als auch der Aufmerksamkeit nach andere Sätze
ausschließe, die statt dessen hätten gedacht werden können.
Wichtiger sei, daß sich sprachliches Denken zunächst am Repertoire
gewohnter, eingefahrener Sätze orientiere, in denen ein vertrautes
Bild der Dinge zum Ausdruck komme, das in seiner Vertrautheit ohne
Alternative zu sein scheine. Dieser Eindruck, daß man die Dinge gar
nicht anders sehen könne, sei der natürliche Feind der Phantasie
als der Fähigkeit, sich alles ganz anders vorzustellen. Und nun
folgte Beispiel auf Beispiel. Zunächst war Perlmann nur voller
Staunen über die Vielfalt der Beispiele; doch in dem Maße, in dem
die skizzierten Alternativen zum Bestehenden immer radikaler
wurden, erkannte er den Text immer deutlicher als seinen eigenen,
weil sein Haß auf leere Konventionen immer unverhohlener zum
Ausdruck kam.
Im nächsten Absatz
kamen Beobachtungen, welche in die genau entgegengesetzte Richtung
liefen. Sätze als ein Medium, das den Erzählenden zu immer neuen
Bildern trieb, die ihn vollständig überraschen konnten.
Sprache und Phantasie. War das nicht
auch Evelyn Mistrals Thema? Oder war das eine Täuschung,
hervorgerufen durch die bloße Verbindung der beiden Wörter?
Perlmann spürte, wie seine Gedanken bröckelten, und diese
Empfindung des Entgleitens verschmolz mit einem Gefühl der
Schwäche, das vom leeren Magen ausging. Er schlüpfte in die Jacke
und war schon auf dem Flur, als er noch einmal aufschloß und das
Wachstuchheft unter die Tagesdecke auf dem Bett schob. Dann ging er
auf einem Schleichweg zur Trattoria.
Das Federbett hatte
Sandra offenbar mit Fußtritten auf den Boden befördert, und sie
selbst lag in Kleidern auf dem Bett, den einen Kniestrumpf bis zum
Knöchel hinuntergeschoben, die Wange tief ins Kissen gedrückt. Er
müsse unbedingt nach ihr sehen, hatten die Eltern gesagt, kaum
hatte er das Lokal betreten. Sie waren wortkarger gewesen als
sonst, erfahren hatte er nur, daß morgen eine Klausur in Mathematik
bevorstand, und am Gesicht der Mutter war zu erkennen gewesen, daß
es einen Streit gegeben hatte, den sie jetzt bereute.
Der glänzende Zopf
hing über die Bettkante und baumelte bei jedem Atemzug leicht.
Perlmann blickte auf die zuckenden Lider und die herunterhängende
Hand mit dem kitschigen Ring und dem angekauten Daumennagel. Einmal
wurden die ruhigen Atemzüge durch ein schwaches Röcheln
unterbrochen. Er ging zu dem kleinen, vom Vater gezimmerten
Schreibtisch hinüber und nahm das Heft auf, das Sandra trotzig mit
den Seiten nach unten hingelegt hatte. Die beiden letzten Blätter
waren voll von wütend durchgestrichenen Rechnungen. Er klappte das
Heft zu, löschte die Lampe und ging nach unten. Sie schlafe, sagte
er knapp, und die Wirtin zuckte zusammen, als sie merkte, wie ihr
ängstlicher Blick an seinem verschlossenen Gesicht
abprallte.
«Ich habe ja nur
gemeint... », sagte sie kleinlaut, als sie ihm nachher die Chronik
brachte.
Für die Tage seiner
unsinnigen, einsamen Reise nach Mestre verzeichnete die Chronik
nichts. Perlmann blätterte zurück: Blutbad auf dem Platz des
Himmlischen Friedens in Peking. Er las die Spalte nicht zu Ende.
Gegen sein Gefühl rang er sich beim Bezahlen, gegen das der Wirt
heute nicht mehr zu protestieren wagte, ein versöhnliches Lächeln
ab. Dann ging er durch den außergewöhnlich warmen Abend zum Hafen
und setzte sich ganz vorne am Damm auf einen Felsbrocken, an dem
sich die leichten Wellen brachen.
Tausende von
Menschen waren erschossen worden, und er hatte drei Tage seines
Lebens an einen harmlosen, lächerlichen Satz verschwendet, den
jeder andere längst vergessen hätte. Er hatte das Gefühl, sich ganz
klein machen und für diesen Verlust aller Maßstäbe dadurch büßen zu
müssen, daß er in vollkommener Reglosigkeit auf die feinen Bänder
aus Gischt starrte, die sich zuckend aus der Nacht herauslösten.
Erst als er zu frösteln begann, nahm er die Brille ab und wischte
die trübende Salzschicht weg.
Es war diese
Bewegung, die ihm zu Bewußtsein brachte, daß sich schon eine ganze
Weile Widerstand in ihm regte gegen das anfängliche
Schuldempfinden. Es war eben nicht ein x-beliebiger Satz gewesen,
gegen den er angekämpft hatte, sondern ein Satz, mein Satz, der stellvertretend für all den
sprachlichen Schutt stand, der eines Menschen Erfahrung einschnüren
und ersticken konnte. Sätze als Quelle der
Unfreiheit. Und die Geschichte mit den Maßstäben, den
Proportionen, die es zu wahren galt – sie stimmte auch nicht.
Jedenfalls hier nicht. Perlmann hätte gern gewußt, wo der Fehler
lag, wenn man meinte, aus der Erweiterung der Perspektive ergebe
sich automatisch die völlige Unwichtigkeit aller Dinge in der
verlassenen Enge. Aber die Erklärung kam nicht. Er wußte nur: So
war es nicht, auch dann nicht, wenn die Erweiterung über das
Geographische hinaus die Größe des Leidens einschloß.
Mit einer Bewegung
heftiger Entschlossenheit erhob er sich, und während er langsam zum
Hotel ging, rang er wortlos den inneren Gegner nieder, der ihm
erneut seinen Mestre-Satz mit blutigen Bildern aus Peking
lächerlich zu machen versuchte. Als die schräg gewachsenen Pinien
des Hotels, die Fahnen und Laternen in Sicht kamen, begann er zu
ahnen, daß, wenn er sich zu jener verrückten Reise bekannte, dies
auch etwas mit seinem Kampf um Selbstbehauptung zu tun hatte, den
er dort vorne im Hotel unablässig ausfocht. Und als er die Stufen
der Freitreppe hinaufstieg, wurde aus dieser Ahnung ein heißer,
pochender Trotz.
Er hatte die Halle
durchquert und war auf dem ersten Treppenabsatz angelangt, da hörte
er die Stimmen der Kollegen, die aus dem Speisesaal
kamen.
«Das werden wir
morgen ja sehen! »sagte Millar gerade, und dann war Adrian von
Levetzovs Lachen zu hören, begleitet von Evelyn Mistrals heller
Stimme.
Unwillkürlich machte
Perlmann einen Schritt gegen die Wand zu, nahm zweimal zwei Stufen
und verschwand außer Sichtweite. Auch danach ging er eilig weiter
und war außer Atem, als er in seinen Korridor einbog. Der ganze
Flur war stockdunkel, die beiden Birnen mußten inzwischen
ausgebrannt sein. Während er mit dem Schlüssel nach dem Schloß
tastete, erschrak er darüber, wie unsicher ihn diese harmlose
Dunkelheit machte. Nachher stand er mit klopfendem Herzen am
Fenster und sah auf ein elegantes Paar hinunter, das sich, aus dem
Restaurant kommend, in der Andeutung eines Tangoschritts auf die
Treppe zubewegte, um dann lachend hinunterzuhüpfen und in einem
Oldtimer mit Chauffeur zu verschwinden.
Es dauerte lange,
bis er seinen tröstlichen Trotz wiedergefunden hatte. Schließlich
holte er das schwarze Heft mit den Aufzeichnungen unter der
Tagesdecke hervor und las weiter.
In den folgenden
Absätzen wurde beschrieben, wie resümierende, scheinbar aus großer
Übersicht entspringende Sätze darüber, was man war und wie man
erlebte, zu einem Kerker werden konnten, indem sie zuwiderlaufenden
Empfindungen das Wort abschnitten und die Innenwelt dadurch immer
weiter schrumpfen ließen. Das besonders Tückische daran sei, hatte
er notiert, daß solche Sätze den trügerischen Klang gewachsener
Einsicht hätten, gegen den sogar der Urheber der Sätze sich kaum zu
wehren vermöge. ICH BRAUCHE VIEL ANONYMITÄT, war eines der
Beispiele, und ein anderes: ICH HÖRE AM LIEBSTEN ZU. Und etwas
später: ICH BIN MENSCHENSCHEU GEWORDEN.
Perlmann erinnerte
sich dunkel: Er hatte diese Zeilen nach einem geselligen Abend mit
Freunden von Agnes geschrieben. Weil ihm die Zeit so langsam und
klebrig erschienen war, hatte er viel zu viel geredet, auch über
sich. Nachher, im Dunkeln, war ihm alles Gesagte ganz falsch
vorgekommen, und er war noch einmal aufgestanden, um sich über
seine Empfindungen klarzuwerden.
Er war froh, daß im
nächsten Absatz von Sätzen die Rede war, die, statt etwas
zuzuschütten, den Weg in eine vorerst nur erahnte Freiheit zu
weisen vermochten, indem sie einen neuen Zustand der Innenwelt, der
bislang nur als voraushuschender Erlebnisschatten gegenwärtig war,
in Worte faßten und dadurch vor dem neuerlichen Entgleiten
bewahrten. NEIN SAGEN KÖNNEN OHNE INNEREN AUFWAND: DARAUF KÄME ES
AN. Und einen Absatz weiter: DIE ANDEREN SIND WIRKLICH ANDERE.
ANDERE. AUCH DIEJENIGEN, DIE MAN LIEBT.
Die Luft, die
hereinströmte, als er das Fenster öffnete, schien auf einmal gar
nicht mehr warm wie vorhin. Drüben in Sestri Levante tobte ein
Brand, der sogar von hier aus noch ziemlich groß aussah. Verzerrt
durch einzelne Windstöße, welche die Pinien unten auf der Terrasse
wippen ließen, hallten die Sirenen der Feuerwehr
herüber.
Handelte es sich bei
all diesen Beispielsätzen, die er mit einer Ausnahme auf deutsch
hingeschrieben hatte, so daß sie ihm jetzt mitten im englischen
Text durch die eindringliche Vertrautheit der Muttersprache
förmlich entgegensprangen, eigentlich um Sätze, die auf ihn
zutrafen?
Es kam ihm vor, als
zerflössen seine inneren Konturen, wenn er sie für eine Antwort auf
diese Frage genau ins Auge fassen wollte, und es ging ihm durch den
Kopf, daß dieses Gefühl dem Eindruck glich, den man von den Dingen
hatte, wenn man ihnen unter Wasser entgegenschwamm. Unsicher, fast
furchtsam, blätterte er um und fand ein paar sehr sorgfältig
geschriebene Seiten über den Zusammenhang von Sprache und
Gegenwart. In einem ersten Anlauf hatte er, in verschiedenen
Varianten, skizziert, wie der sprachliche Ausdruck Erfahrungen
Gegenwart und Tiefe verleihen konnte, indem er das Erlebte der
Flüchtigkeit entriß. Und zu seiner Überraschung fand er, in
Klammern gesetzt, einen Exkurs, in dem er die sprachliche und die
fotografische Fixierung von Gegenwart verglichen
hatte.
Perlmann war
erstaunt, wie hartnäckig und genau er hier nachgedacht hatte, und
gleichzeitig tat es weh zu spüren, wie deutlich er dabei Agnes’
Fotografien vor Augen gehabt hatte. Er nahm die Brille ab und faßte
an die Nasenwurzel.
Der junge Sizilianer
im abgewetzten Armeemantel, der den zerschlissenen Koffer und die
Mütze auf den Bahnsteig hatte fallen lassen und nun die Braut, die
er um die Taille faßte, in der Luft herumwirbelte. Agnes hatte an
die zwanzig Bilder der Szene geschossen. Veröffentlicht wurde
eines, auf dem die junge Frau, gegen Schwindel ankämpfend, ihre
Hand vor das lachende Gesicht hielt, das über der Schulter des
Mannes zu sehen war, das halbe Kinn von seinem aufgestellten
Mantelkragen verdeckt. Für dieses Foto hatte Agnes viel Lob
geerntet. Aber zu Hause aufgehängt hatten sie ein anderes, das sie
viel besser fanden: Es hielt den Wirbel in genau dem Augenblick
fest, in dem die Drehung, unterstützt von fliegendem Haar, beide
Gesichter verbarg, so daß der Betrachter sich aufgefordert fühlte,
die Gesichter zu erfinden.«Das dachte ich mir! »hatte Agnes
gelacht, als er sich über das wirkliche, sehr bäurische Gesicht der
Braut enttäuscht äußerte und ein anderes erfand.
Und dann jenes
andere Bild: der hagere Chinese, der sich, die eine Hand auf dem
Sattel des Fahrrads, zu seinem Sohn hinunterbeugte und ihm die
Wange zum Kuß bot. Das Kind, ein Pimpf mit einer Ballonmütze, die
ihm bis über die Ohren reichte, hielt ihm das Gesicht entgegen und
büschelte die Lippen, während die vom Schirm der Mütze halb
verdeckten Augen von etwas ganz anderem gefangengenommen wurden,
das in der Richtung des Fotografen liegen mußte. In Schanghai hatte
Agnes das Bild gemacht, auf jener Reise, auf der auch dieser André
Fischer von der Agentur mit war, über den sie sich so ausdrucksvoll
ausgeschwiegen hatte.
Schleppend kehrten
Perlmanns Gedanken in die Gegenwart des Hotelzimmers zurück. Das
Feuer jenseits der Bucht war jetzt offenbar unter Kontrolle. Er riß
eine neue Packung Zigaretten auf und las auf der nächsten Seite
Gegenteiliges: Gegenwart als etwas seinem Wesen nach Flüchtiges,
das durch sprachliche Beschreibung künstlich eingefroren wurde.
Dadurch wurde nicht Gegenwart gestiftet, sondern die bloße Illusion
von Gegenwart erzeugt. Die wirkliche Gegenwart, hatte er notiert,
entstünde durch die Bereitschaft, sich rückhaltlos der Flüchtigkeit
des Erlebens zu überlassen. Und dann kamen, durch Einrücken
hervorgehoben, zwei deutsche Zeilen, die ihn erneut vollständig
überraschten: Gegenwart: ein Parfum, ein
Licht, ein Lächeln; eine Erleichterung, ein gelungener Satz, ein
Flirren unter Oliven.
Daß er sich auf
diese Weise, experimentierend mit Wörtern, Bildern und Rhythmus,
mit seiner vergeblichen Suche nach Gegenwart beschäftigt hatte, war
ihm gänzlich entfallen gewesen. Zwei Zigaretten lang versuchte er
vergeblich, die Szene zurückzurufen, in der diese Zeilen entstanden
waren. Plötzlich nahm er einen Zettel und schrieb: versunken in weißem
Vergessen. Während er die Zigarette langsam ausdrückte, bis
der restliche Tabak vollständig zerbröselt war und der bloße Filter
am Glas des Aschenbechers entlangscheuerte, starrte er auf die
Worte. Dann zerknüllte er den Zettel und warf ihn mit einer matten
Bewegung in den Papierkorb.
Noch anderthalb
Seiten; der Rest des Hefts waren leere Blätter, aus denen, als er
sie schüttelte, der Flügel einer toten Fliege auf Leskovs Text
fiel. Ein langer Absatz, und zum Schluß ein ganz kurzer. Im langen,
geschrieben mit demselben Stift wie das Vorangehende, wurde eine
Beobachtung wiedergegeben, die Perlmann berührte, als lese er sie
zum allererstenmal: Das Experimentieren mit Sätzen sei ein Mittel
herauszufinden, welche Erfahrungen man eigentlich wirklich mache.
Denn allein dadurch, daß man Erfahrungen mache – etwas erlebe-,
wisse man noch lange nicht, welche es seien. Sprachlosigkeit als Erlebnisblindheit, hatte er auf
deutsch hingeschrieben. Unwirsch, weil ihm das bombastisch vorkam,
las er weiter und fand eine Beobachtung, die ihn noch mehr
frappierte: Es könne einem passieren, daß man im Medium alter,
überholter Sätze weiterdenke und sich dadurch für einen halte, der
immer noch die alten Erfahrungen mache, obwohl inzwischen ganz neue
Erfahrungen ins alte Gefüge eingesickert seien, die ihre
verwandelnde Kraft indessen erst würden entfalten können, wenn sie
auch in neue Sätze gegossen würden.
Während Perlmann
diesem Gedanken nachhing, fiel ihm plötzlich ein, unter welchen
Umständen er die Zeilen über Gegenwart, Parfum und Lächeln
hingeworfen hatte. Ein Winterabend war es gewesen, und die
Druckfahnen der zweiten Auflage seines letzten Buches hatten im
Lichtschein der Schreibtischlampe gelegen. Zunächst war es der
Inhalt des Texts gewesen, mit dem er nichts mehr anfangen konnte.
Dann hatte sich diese Empfindung des Abgestandenen auf alles andere
ausgedehnt – auf Papier und Druck insgesamt, auf Arbeitslicht,
Schreibtisch und gebeugte Rücken. Die fraglichen Zeilen hatten ihn
für einen Augenblick hinausgetragen in einen helleren, freieren
Raum, in die tröstliche Enklave der Phantasie. Weiter hatte der
Protest nicht gereicht. Warum nicht? Warum bin
ich nie aufgestanden und gegangen? Perlmann stutzte. Er
wußte nicht, ob die Frage erst jetzt in ihm entstanden war, oder ob
sie auch zur Erinnerung an jenen Moment gehörte, wo er den scharfen
Lichtkegel der Lampe wie eine Folter empfunden hatte.
Die wenigen Sätze
des letzten Absatzes las er mit wachsender Scheu, und auf einmal
schienen ihn die Augen zu schmerzen, so daß er am liebsten
verhinderte hätte, daß sein Blick das linierte Papier berührte.
Was mich von meiner Gegenwart trennt, ist wie
ein feiner Nebel, ein ungreifbarer Schleier, eine unsichtbare Wand.
Sie leisten nicht den geringsten Widerstand. Es würde nichts
zersplittern, wenn ich hindurchschritte. Denn eigentlich ist da gar
nichts zwischen mir und der Welt. Ein einziger Schritt würde
genügen. Warum habe ich ihn nicht längst getan?
Noch während sein
Blick über die Wörter huschte, begann Perlmann das Heft zuzumachen,
und die Schlußfrage konnte er nur noch erhaschen, indem er schnell
den Kopf schräg stellte. Dann verstaute er das Heft wieder im
Handkoffer und zog die Riemen unnötig fest zu.
Als er sich erhob,
fiel sein Blick auf von Levetzovs Texte, die sich auf dem
Schreibtisch stapelten. Gleich würde er Noch neun Tage denken, das
spürte er überdeutlich, und das Herz nahm bereits Anlauf zum
beschleunigten Pochen. Hastig griff er zu einer Zigarette und
erstickte den Gedanken durch einen Blick gepreßter Konzentration
auf Leskovs Text.
Noch fast fünf
Seiten, das sah er schnell, ging es mit den erinnerten
Sinneseindrücken weiter, bevor dann das Schlußstück über die
Aneignung der Vergangenheit begann. Seine Aufzeichnungen hatten ihn
daran gehindert, heute fertig zu werden, und dann hatte er auch
noch Stunden an den Versuch mit der italienischen Fassung
verschwendet. Ein schlechtes Gewissen beschlich ihn, und er wehrte
sich unwillkürlich gegen dessen Last, indem er sich in der
forcierten Überzeugung vergrub, daß es eindeutig der Übersetzung
galt und nicht etwa der versäumten Lektüre für die morgige
Sitzung.
Es war etwas ganz
Bestimmtes, was er suchte, während er nachher, auf die Wirkung des
Schlafmittels wartend, in den Halbschlaf glitt. Er würde es sofort
erkennen; aber noch reichte dieser abstrakte Eindruck der
Bestimmtheit nicht aus, um gezielt die Tür zum richtigen Korridor
der Erinnerung aufstoßen zu können. Erst nachdem er die
angestrengten Versuche aufgegeben hatte, war es plötzlich da:
Damals, auf der ersten Reise nach Venedig, hatte er kein einziges
Mal an Vaters Mestre-Satz denken müssen. Verwundert vergrub er das
Gesicht im Kissen und ließ sich auf das Vergessen zugleiten. Im
letzten Moment schrak er auf und stützte sich auf die Ellbogen, die
Hände verschränkt, die beiden Daumen an der Nasenwurzel. Wieder
rang er mit den schrecklichen Bildern aus Peking, die es wie
blanken Hohn aussehen ließen, daß einer es wichtig finden konnte,
ob er vor Jahren einmal an einen bestimmten Satz gedacht hatte oder
nicht. Und wieder endete das Ringen in einem Trotz, der um so
heftiger wurde, je undurchsichtiger das Problem vom Standpunkt der
Rechtfertigung aus erschien.
Erschöpft ließ er
den Kopf wieder ins Kissen fallen und glitt bald in einen Traum,
der nur darin bestand, daß er, schwitzend wie in einem Examen, nach
dem chinesischen Namen des großen Platzes in Peking suchte. Die
vergebliche Suche machte ihn so wütend, daß er das gespenstisch
ungreifbare Wort so lange immer wieder in ein kariertes Heft
schrieb, bis daraus lauter Sätze der Eltern wurden, die er in der
Absicht, sie durchzustreichen, dick unterstrich. Schließlich
knallte er das offene Heft mit den Seiten nach unten auf den Tisch
und war erstaunt, daß es, obwohl es doch eindeutig Sandras Heft
war, einen Umschlag aus schwarzem Wachstuch hatte.