27
 
Er war erleichtert, daß niemand hinter der Empfangstheke stand, als er die Hotelhalle betrat. Aus seinem Schlüsselfach ragte Leskovs Text, der verhängnisvolle Blätterstoß, den er an dieser Stelle, vor einundzwanzig Stunden, dem zerstreuten, ungeduldigen Giovanni übergeben hatte. Die anderen hatten ihre Exemplare abgeholt, nur in Silvestris Fach steckte noch eins. Rasch ging Perlmann um die Theke herum und nahm die Blätter aus seinem eigenen Fach. Er war versucht, auch Silvestris Exemplar an sich zu nehmen, und hatte den Arm schon halb ausgestreckt, da hörte er im Nebenraum ein Geräusch und zog sich schnell zurück.
Auf der Treppe kam ihm, vor einer Gruppe von Leuten in Abendkleidern gehend, von Levetzov entgegen. Bevor dieser von sich aus etwas tun konnte, hob Perlmann das eingerollte Manuskript ein bißchen hoch, sagte hallo und schlüpfte an den Leuten vorbei, zwei Stufen auf einmal nehmend, erleichtert, daß die Gruppe, die jetzt wieder die ganze Breite der Treppe einnahm, zwischen ihnen war. Es hätte ja doch nichts genützt, wenn ich Silvestris Exemplar weggenommen hätte, dachte er, als er in seinen Korridor einbog. Wahrscheinlich hätte es nur Verwirrung gestiftet. Vielleicht sogar Verdacht erregt. Und sie hätten für ihn ohnehin eine neue Kopie gemacht. Man kann von Kopien andere Kopien machen. Und davon wieder andere. Tausende davon. Hunderttausende.
Im Zimmer ging er als erstes zum Schrank und schob den Text in der oberen Wäscheschublade unter die Hemden. Dann blickte er sich um. Der Gegensatz zwischen dem engen Zimmer des Nachmittags und diesem weitläufigen Raum war überwältigend. Es dünkte ihn, er habe Tage in jener trüben, muffigen Bude verbracht. Ängstlich wartete er darauf, daß ihm der Luxus des Zimmers von neuem als etwas Verbotenes vorkommen würde, etwas, was ihm nicht mehr zustand. Aber dieses Gefühl blieb aus, und nach einer Weile drehte er an dem glänzenden, verzierten Messinghahn und ließ ein Bad ein.
Es war bald acht, und er war verwundert, wie ruhig er dem Moment entgegensah, in dem er den Kollegen zum erstenmal als unentdeckter Betrüger gegenübertreten würde. Erst als er in der marmornen Badewanne saß, begriff er, daß diese Ruhe die Gleichgültigkeit der vollständigen seelischen Erschöpfung war. Nach zwei Tagen des Umherirrens, der Ausweglosigkeit und der Verzweiflung war nur noch eine dumpfe Leere in ihm.
Diese Leere, die an Empfindungslosigkeit grenzte, hielt an, während er langsam die Treppe hinunterging, und er trug sie vor sich her wie einen Schutzschild, als er den vollen Speisesaal mit den Samstagabendgästen betrat und sich neben Evelyn Mistral an den Tisch setzte, dankbar dafür, daß der andere Stuhl neben ihm wegen Silvestris Abwesenheit frei blieb.
 
Die anderen waren bereits bei der Vorspeise. Das Gespräch, an dem offenbar Millar, Ruge und Laura Sand beteiligt gewesen waren, brach ab, und die eintretende Stille, in der man die Geräusche des Bestecks und das Lachen vom Nebentisch hörte, war in Perlmanns Ohren wie eine verwunderte Feststellung: Er ist seit vier Tagen das erste Mal wieder beim Essen, und dann auch noch zu spät. Ohne jemanden anzublicken fing er an, seine Avocado zu essen. Sie schmeckte nach nichts, das weiche, mehlige Fleisch war nur wie irgendeine beliebige Substanz im Mund. Er war dabei, einen langen inneren Anlauf zu nehmen, und jedesmal, wenn er den Löffel mit einer Drehung der Hand erneut in das hellgrüne Fleisch grub, war es, als verlängere sich dieser Anlauf noch weiter.
Endlich hob er den Kopf und sah die anderen an, einen nach dem anderen, bemüht, diese Abfolge nicht zu mechanisch erscheinen zu lassen. Ihre Blicke, die schon eine ganze Weile auf ihm geruht haben mußten, schienen erst jetzt ganz bei ihm anzukommen, und nun galt es, diesen Blicken standzuhalten im Schutze der Gewißheit, daß sie nicht bis hinter seine Stirn vorzudringen vermochten. Sie wissen es nicht; sie werden es niemals erfahren. Er spürte, wie sein Puls schneller ging, und als er Millar ansah, der in ironischer Resignation die Brauen hob, mußte er sich von innen her mit besonderem Nachdruck in seinen Blick hineinstemmen, um ihn nicht, wie ein Schuldiger, zu früh abzuwenden.
Aber insgesamt war es leichter, als er erwartet hatte, und nach einer scherzhaften Bemerkung von Laura Sand über seine lange Abwesenheit kam wieder ein Gespräch in Gang. Die Alltäglichkeit des Besprochenen gab ihm das Gefühl, mit seinem gefährlichen Geheimnis in Sicherheit zu sein; aber sie führte ihm auch vor Augen, wie allein er mit dem Erlebnisdrama der letzten Tage blieb und mit wieviel Empfindung des Ausgeschlossenseins er für das Unentdecktbleiben seines Betrugs noch würde bezahlen müssen.
Niemand sagte ein Wort über den Text, den sie von ihm bekommen hatten. Er brauchte keine einzige der Reaktionen abzurufen, die er sich auf der Hafenmole von Portofino und später im Bus zurechtgelegt hatte. Es war verrückt, aber es ließ sich nicht leugnen, daß ihn das, wenngleich er froh darüber war, irgendwie auch kränkte. Derart peinlich berührt mußten sie von Leskovs Text nun auch wieder nicht sein. Am meisten verletzte ihn – und wieder war er sich der Absurdität seiner Empfindung bewußt-, daß auch Evelyn Mistral neben ihm nicht eine einzige Bemerkung über den Text machte, in dem es doch viele Berührungspunkte mit ihrem eigenen Thema gab. Als sich ihre Blicke trafen, konnte er keine Mißbilligung erkennen, aber ihr Lächeln war matter als sonst, scheu, als fürchte sie, ihn zu verletzen.
Während des Hauptgangs, den er, den Blick auf den Teller gerichtet, mechanisch in sich hineinschaufelte, verteidigte er Leskovs Text in Gedanken. Er versuchte sich als besonders strenger Leser und als spöttischer Kritiker. Aber auch dann, dachte er, konnte man die Substanz und Originalität dieses Entwurfs nicht übersehen, und als der Nachtisch kam, hatte er sich so weit in die Verteidigung des Texts verbissen, daß er es fast bedauerte, mit der öffentlichen Verteidigung bis Montag morgen warten zu müssen. Ein kaum merklicher Schwindel und eine Hitze im Gesicht warnten ihn davor, sich weiter in diese Richtung treiben zu lassen. Dann ging seine wütende Verbissenheit aber doch mit ihm durch, er zündete eine Zigarette an und wandte sich an Evelyn Mistral, um sie auf den Text anzusprechen.
In diesem Augenblick erschien in seinem Blickfeld der schwarze Arm des Kellners mit einem silbernen Tablett, auf dem ein Telegramm lag.
«Für Sie, Dottore», sagte der Kellner, als ihm Perlmann den Kopf zuwandte,«es ist soeben gebracht worden. »
Kirsten, schoß es ihm durch den Kopf, Kirsten ist verunglückt, und dieser Gedanke füllte ihn mit einem Schlag so vollständig aus, daß alles, was ihn in den letzten Tagen und Stunden beschäftigt und gequält hatte, wie ausgelöscht war. Mit zittrigen Fingern riß er das Telegramm auf und entfaltete den Bogen. Er erfaßte den Text mit einem einzigen Blick: Ankunft Montag Genua 15.05 Alitalia 00423. Dankbar wenn abgeholt. Vasilij Leskov.
Für ein, zwei Sekunden verstand er nicht. Zu unerwartet war die Botschaft und zu weit weg von dem Gedanken an Kirsten, der eben noch alles andere weggewischt hatte. Dann, als die Bedeutung der Wörter auf dem geklebten weißen Streifen in sein Bewußtsein einsikkerte, wurde die Welt um ihn herum farblos und still, und die Zeit gefror. Alle Kraft wich aus ihm, und er spürte das Gewicht seines Körpers wie noch nie zuvor. So also fühlt es sich an, wenn alles zu Ende ist, dachte er, und nach einer Weile bildete sich in seinem hohlen, dumpfen Innern noch ein weiterer Gedanke: Darauf warte ich seit Jahren.
Er mußte lange regungslos dagesessen haben, denn als Evelyn Mistral ihm nun einen Aschenbecher unter die Hand schob und er aufblickte, sah er, wie ein langes Stück weißer Asche von der Zigarette abfiel. Sie sah ihn mit einem unsicheren, besorgten Blick an, als sie auf das Telegramm deutete und fragte:
«Schlechte Nachrichten?»
Einen Moment lang war Perlmann versucht, dem offenen, klaren Gesicht und der hellen, warmen Stimme alles zu erzählen, ohne Rücksicht auf die Folgen. Und wenn sie ihn, als sie ihm den Aschenbecher zuschob, mit der Hand berührt hätte, dachte er später, so wäre das auch tatsächlich geschehen. So unerträglich war das Gefühl der Isolation, das sich wie ein eiskaltes Gift in ihm ausbreitete.
Doch dann sah er, zum erstenmal, seit der Kellner ihm das silberne Tablett hingestreckt hatte, die Blicke der anderen. Es waren keine mißtrauischen Blicke, keine Blicke, die einen Verdacht ausdrückten. Eher waren es verhaltene Blicke, in denen ein bißchen Neugierde zu erkennen war. Keine unfreundlichen Blicke, im Gegenteil, selbst in Millars Augen schien die Bereitschaft zur Anteilnahme zu liegen. Trotzdem waren es Blicke, die in der Stille am Tisch alle auf ihn gerichtet waren wie vorhin im kreuzenden Bus. Perlmann spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg, er erhob sich, stopfte das Telegramm in die Jackentasche und lief hinaus, quer durch die Halle auf die Toilette, wo er sich einschloß und sich in schnellen, heftigen Krämpfen übergab.
Als das Würgen verebbte und ihm nur noch Rinnsale brennender Magensäure aus Mund und Nase liefen, ging er hinaus zu den Waschbecken, spülte den Mund aus und wusch sich mit dem Taschentuch das Gesicht. Die teuren Waschbecken aus glänzendem Marmor, die modischen, auf antik gemachten Armaturen aus blitzendem Messing und die riesige Spiegelwand waren in diesem Moment unerträglich. Er vermied es, sich ins Gesicht zu sehen, und schloß sich erneut in einer Kabine ein, um nachzudenken.
An den Tisch zurückzukehren war unmöglich. Es sah für die anderen zwar merkwürdig aus und grenzte an eine Unverschämtheit, wenn er nach seinem abrupten Weggang überhaupt nicht mehr wiederkam. Es würden die verschiedensten Mutmaßungen über den anscheinend dramatischen Inhalt des Telegramms entstehen. Aber das spielte jetzt, wo eine vollständige soziale Ächtung bevorstand, keine Rolle mehr. Unangenehm war nur – und Perlmann spürte am Rande des Bewußtseins ein Erstaunen darüber, daß ihn das in einem solchen Moment zu beschäftigen vermochte -, daß seine Zigaretten und das rote Feuerzeug, das ihm Kirsten im Zug geschenkt hatte, noch drüben auf dem Tisch lagen.
Jenseits dieser banalen Überlegungen ging es in seinem Kopf nicht weiter. Es gab da eine undurchdringliche Wand aus ungefährem Grau und eine eigentümliche Kraftlosigkeit. Noch nie in seinem gesamten Leben war es wichtiger gewesen, klar zu denken und zu planen. Aber er stand vor dieser Aufgabe wie einer, der mit solchen geistigen Tätigkeiten noch nie in Berührung gekommen war; wie einer, der nicht einmal das Abc eines Planens beherrschte, das über den nächsten Augenblick hinausreichte. Körper und Gefühl hatten sofort reagiert; das Denken dagegen war zähflüssig und kam nicht vom Fleck. Er fühlte, wie hart es sich auf dem Klosettdeckel saß, er starrte auf die weiße Tür vor der Nase und registrierte, daß es daran keine Graffiti gab. Er spürte den brennenden Nachgeschmack des Erbrechens am Gaumen und knüllte das nasse Taschentuch in der Faust zusammen. Als zwei Männer hereinkamen, die sich am Pissoir weiter auf italienisch unterhielten, atmete er unwillkürlich ganz flach und rührte sich nicht. Nur einen einzigen Gedanken vermochte er zu fassen, und der wiederholte sich in immer kürzeren Abständen, wie ein sich beschleunigendes Echo: Anderthalb Tage. Es bleiben mir anderthalb Tage.
Perlmanns Schweigen: Roman
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