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Er war erleichtert,
daß niemand hinter der Empfangstheke stand, als er die Hotelhalle
betrat. Aus seinem Schlüsselfach ragte Leskovs Text, der
verhängnisvolle Blätterstoß, den er an dieser Stelle, vor
einundzwanzig Stunden, dem zerstreuten, ungeduldigen Giovanni
übergeben hatte. Die anderen hatten ihre Exemplare abgeholt, nur in
Silvestris Fach steckte noch eins. Rasch ging Perlmann um die Theke
herum und nahm die Blätter aus seinem eigenen Fach. Er war
versucht, auch Silvestris Exemplar an sich zu nehmen, und hatte den
Arm schon halb ausgestreckt, da hörte er im Nebenraum ein Geräusch
und zog sich schnell zurück.
Auf der Treppe kam
ihm, vor einer Gruppe von Leuten in Abendkleidern gehend, von
Levetzov entgegen. Bevor dieser von sich aus etwas tun konnte, hob
Perlmann das eingerollte Manuskript ein bißchen hoch, sagte hallo
und schlüpfte an den Leuten vorbei, zwei Stufen auf einmal nehmend,
erleichtert, daß die Gruppe, die jetzt wieder die ganze Breite der
Treppe einnahm, zwischen ihnen war. Es hätte
ja doch nichts genützt, wenn ich Silvestris Exemplar weggenommen
hätte, dachte er, als er in seinen Korridor einbog. Wahrscheinlich
hätte es nur Verwirrung gestiftet. Vielleicht sogar Verdacht
erregt. Und sie hätten für ihn ohnehin eine neue Kopie gemacht. Man
kann von Kopien andere Kopien machen. Und davon wieder andere.
Tausende davon. Hunderttausende.
Im Zimmer ging er
als erstes zum Schrank und schob den Text in der oberen
Wäscheschublade unter die Hemden. Dann blickte er sich um. Der
Gegensatz zwischen dem engen Zimmer des Nachmittags und diesem
weitläufigen Raum war überwältigend. Es dünkte ihn, er habe Tage in
jener trüben, muffigen Bude verbracht. Ängstlich wartete er darauf,
daß ihm der Luxus des Zimmers von neuem als etwas Verbotenes
vorkommen würde, etwas, was ihm nicht mehr zustand. Aber dieses
Gefühl blieb aus, und nach einer Weile drehte er an dem glänzenden,
verzierten Messinghahn und ließ ein Bad ein.
Es war bald acht,
und er war verwundert, wie ruhig er dem Moment entgegensah, in dem
er den Kollegen zum erstenmal als unentdeckter Betrüger
gegenübertreten würde. Erst als er in der marmornen Badewanne saß,
begriff er, daß diese Ruhe die Gleichgültigkeit der vollständigen
seelischen Erschöpfung war. Nach zwei Tagen des Umherirrens, der
Ausweglosigkeit und der Verzweiflung war nur noch eine dumpfe Leere
in ihm.
Diese Leere, die an
Empfindungslosigkeit grenzte, hielt an, während er langsam die
Treppe hinunterging, und er trug sie vor sich her wie einen
Schutzschild, als er den vollen Speisesaal mit den
Samstagabendgästen betrat und sich neben Evelyn Mistral an den
Tisch setzte, dankbar dafür, daß der andere Stuhl neben ihm wegen
Silvestris Abwesenheit frei blieb.
Die anderen waren
bereits bei der Vorspeise. Das Gespräch, an dem offenbar Millar,
Ruge und Laura Sand beteiligt gewesen waren, brach ab, und die
eintretende Stille, in der man die Geräusche des Bestecks und das
Lachen vom Nebentisch hörte, war in Perlmanns Ohren wie eine
verwunderte Feststellung: Er ist seit vier Tagen das erste Mal
wieder beim Essen, und dann auch noch zu spät. Ohne jemanden
anzublicken fing er an, seine Avocado zu essen. Sie schmeckte nach
nichts, das weiche, mehlige Fleisch war nur wie irgendeine
beliebige Substanz im Mund. Er war dabei, einen langen inneren
Anlauf zu nehmen, und jedesmal, wenn er den Löffel mit einer
Drehung der Hand erneut in das hellgrüne Fleisch grub, war es, als
verlängere sich dieser Anlauf noch weiter.
Endlich hob er den
Kopf und sah die anderen an, einen nach dem anderen, bemüht, diese
Abfolge nicht zu mechanisch erscheinen zu lassen. Ihre Blicke, die
schon eine ganze Weile auf ihm geruht haben mußten, schienen erst
jetzt ganz bei ihm anzukommen, und nun galt es, diesen Blicken
standzuhalten im Schutze der Gewißheit, daß sie nicht bis hinter
seine Stirn vorzudringen vermochten. Sie
wissen es nicht; sie werden es niemals erfahren. Er spürte,
wie sein Puls schneller ging, und als er Millar ansah, der in
ironischer Resignation die Brauen hob, mußte er sich von innen her
mit besonderem Nachdruck in seinen Blick hineinstemmen, um ihn
nicht, wie ein Schuldiger, zu früh abzuwenden.
Aber insgesamt war
es leichter, als er erwartet hatte, und nach einer scherzhaften
Bemerkung von Laura Sand über seine lange Abwesenheit kam wieder
ein Gespräch in Gang. Die Alltäglichkeit des Besprochenen gab ihm
das Gefühl, mit seinem gefährlichen Geheimnis in Sicherheit zu
sein; aber sie führte ihm auch vor Augen, wie allein er mit dem
Erlebnisdrama der letzten Tage blieb und mit wieviel Empfindung des
Ausgeschlossenseins er für das Unentdecktbleiben seines Betrugs
noch würde bezahlen müssen.
Niemand sagte ein
Wort über den Text, den sie von ihm bekommen hatten. Er brauchte
keine einzige der Reaktionen abzurufen, die er sich auf der
Hafenmole von Portofino und später im Bus zurechtgelegt hatte. Es
war verrückt, aber es ließ sich nicht leugnen, daß ihn das,
wenngleich er froh darüber war, irgendwie auch kränkte. Derart
peinlich berührt mußten sie von Leskovs Text nun auch wieder nicht
sein. Am meisten verletzte ihn – und wieder war er sich der
Absurdität seiner Empfindung bewußt-, daß auch Evelyn Mistral neben
ihm nicht eine einzige Bemerkung über den Text machte, in dem es
doch viele Berührungspunkte mit ihrem eigenen Thema gab. Als sich
ihre Blicke trafen, konnte er keine Mißbilligung erkennen, aber ihr
Lächeln war matter als sonst, scheu, als fürchte sie, ihn zu
verletzen.
Während des
Hauptgangs, den er, den Blick auf den Teller gerichtet, mechanisch
in sich hineinschaufelte, verteidigte er Leskovs Text in Gedanken.
Er versuchte sich als besonders strenger Leser und als spöttischer
Kritiker. Aber auch dann, dachte er, konnte man die Substanz und
Originalität dieses Entwurfs nicht übersehen, und als der Nachtisch
kam, hatte er sich so weit in die Verteidigung des Texts verbissen,
daß er es fast bedauerte, mit der öffentlichen Verteidigung bis
Montag morgen warten zu müssen. Ein kaum merklicher Schwindel und
eine Hitze im Gesicht warnten ihn davor, sich weiter in diese
Richtung treiben zu lassen. Dann ging seine wütende Verbissenheit
aber doch mit ihm durch, er zündete eine Zigarette an und wandte
sich an Evelyn Mistral, um sie auf den Text
anzusprechen.
In diesem Augenblick
erschien in seinem Blickfeld der schwarze Arm des Kellners mit
einem silbernen Tablett, auf dem ein Telegramm lag.
«Für Sie, Dottore»,
sagte der Kellner, als ihm Perlmann den Kopf zuwandte,«es ist
soeben gebracht worden. »
Kirsten, schoß es ihm durch den Kopf, Kirsten ist verunglückt, und dieser Gedanke füllte ihn mit
einem Schlag so vollständig aus, daß alles, was ihn in den letzten
Tagen und Stunden beschäftigt und gequält hatte, wie ausgelöscht
war. Mit zittrigen Fingern riß er das Telegramm auf und entfaltete
den Bogen. Er erfaßte den Text mit einem einzigen Blick:
Ankunft Montag Genua 15.05 Alitalia 00423.
Dankbar wenn abgeholt. Vasilij Leskov.
Für ein, zwei
Sekunden verstand er nicht. Zu unerwartet war die Botschaft und zu
weit weg von dem Gedanken an Kirsten, der eben noch alles andere
weggewischt hatte. Dann, als die Bedeutung der Wörter auf dem
geklebten weißen Streifen in sein Bewußtsein einsikkerte, wurde die
Welt um ihn herum farblos und still, und die Zeit gefror. Alle
Kraft wich aus ihm, und er spürte das Gewicht seines Körpers wie
noch nie zuvor. So also fühlt es sich an, wenn
alles zu Ende ist, dachte er, und nach einer Weile bildete
sich in seinem hohlen, dumpfen Innern noch ein weiterer Gedanke:
Darauf warte ich seit
Jahren.
Er mußte lange
regungslos dagesessen haben, denn als Evelyn Mistral ihm nun einen
Aschenbecher unter die Hand schob und er aufblickte, sah er, wie
ein langes Stück weißer Asche von der Zigarette abfiel. Sie sah ihn
mit einem unsicheren, besorgten Blick an, als sie auf das Telegramm
deutete und fragte:
«Schlechte
Nachrichten?»
Einen Moment lang
war Perlmann versucht, dem offenen, klaren Gesicht und der hellen,
warmen Stimme alles zu erzählen, ohne Rücksicht auf die Folgen. Und
wenn sie ihn, als sie ihm den Aschenbecher zuschob, mit der Hand
berührt hätte, dachte er später, so wäre das auch tatsächlich
geschehen. So unerträglich war das Gefühl der Isolation, das sich
wie ein eiskaltes Gift in ihm ausbreitete.
Doch dann sah er,
zum erstenmal, seit der Kellner ihm das silberne Tablett
hingestreckt hatte, die Blicke der anderen. Es waren keine
mißtrauischen Blicke, keine Blicke, die einen Verdacht ausdrückten.
Eher waren es verhaltene Blicke, in denen ein bißchen Neugierde zu
erkennen war. Keine unfreundlichen Blicke, im Gegenteil, selbst in
Millars Augen schien die Bereitschaft zur Anteilnahme zu liegen.
Trotzdem waren es Blicke, die in der Stille am Tisch alle auf ihn
gerichtet waren wie vorhin im kreuzenden Bus. Perlmann spürte, wie
Übelkeit in ihm aufstieg, er erhob sich, stopfte das Telegramm in
die Jackentasche und lief hinaus, quer durch die Halle auf die
Toilette, wo er sich einschloß und sich in schnellen, heftigen
Krämpfen übergab.
Als das Würgen
verebbte und ihm nur noch Rinnsale brennender Magensäure aus Mund
und Nase liefen, ging er hinaus zu den Waschbecken, spülte den Mund
aus und wusch sich mit dem Taschentuch das Gesicht. Die teuren
Waschbecken aus glänzendem Marmor, die modischen, auf antik
gemachten Armaturen aus blitzendem Messing und die riesige
Spiegelwand waren in diesem Moment unerträglich. Er vermied es,
sich ins Gesicht zu sehen, und schloß sich erneut in einer Kabine
ein, um nachzudenken.
An den Tisch
zurückzukehren war unmöglich. Es sah für die anderen zwar
merkwürdig aus und grenzte an eine Unverschämtheit, wenn er nach
seinem abrupten Weggang überhaupt nicht mehr wiederkam. Es würden
die verschiedensten Mutmaßungen über den anscheinend dramatischen
Inhalt des Telegramms entstehen. Aber das spielte jetzt, wo eine
vollständige soziale Ächtung bevorstand, keine Rolle mehr.
Unangenehm war nur – und Perlmann spürte am Rande des Bewußtseins
ein Erstaunen darüber, daß ihn das in einem solchen Moment zu
beschäftigen vermochte -, daß seine Zigaretten und das rote
Feuerzeug, das ihm Kirsten im Zug geschenkt hatte, noch drüben auf
dem Tisch lagen.
Jenseits dieser
banalen Überlegungen ging es in seinem Kopf nicht weiter. Es gab da
eine undurchdringliche Wand aus ungefährem Grau und eine
eigentümliche Kraftlosigkeit. Noch nie in seinem gesamten Leben war
es wichtiger gewesen, klar zu denken und zu planen. Aber er stand
vor dieser Aufgabe wie einer, der mit solchen geistigen Tätigkeiten
noch nie in Berührung gekommen war; wie einer, der nicht einmal das
Abc eines Planens beherrschte, das über den nächsten Augenblick
hinausreichte. Körper und Gefühl hatten sofort reagiert; das Denken
dagegen war zähflüssig und kam nicht vom Fleck. Er fühlte, wie hart
es sich auf dem Klosettdeckel saß, er starrte auf die weiße Tür vor
der Nase und registrierte, daß es daran keine Graffiti gab. Er
spürte den brennenden Nachgeschmack des Erbrechens am Gaumen und
knüllte das nasse Taschentuch in der Faust zusammen. Als zwei
Männer hereinkamen, die sich am Pissoir weiter auf italienisch
unterhielten, atmete er unwillkürlich ganz flach und rührte sich
nicht. Nur einen einzigen Gedanken vermochte er zu fassen, und der
wiederholte sich in immer kürzeren Abständen, wie ein sich
beschleunigendes Echo: Anderthalb Tage. Es
bleiben mir anderthalb Tage.