14
 
Als er nach wenigen Stunden unruhigen Schlafs aufwachte, setzte er sich in der Morgendämmerung an Leskovs Text. Jetzt kamen die Abschnitte, in denen gezeigt werden sollte, daß nicht nur die Interpretation, sondern auch die erlebte Qualität der erinnerten Gefühle vom Erzählen abhing. Wurde das erzählerische Erinnern weitläufiger und zugleich dichter-das war die These-, so konnte es geschehen, daß die Färbung und Schattierung des erinnerten Erlebens sich drastisch veränderte. Es war, dachte Perlmann, geschickt von Leskov, bereits hier mit Begriffen wie Färbung und Schattierung zu operieren, die eigentlich in den Umkreis des Gesichtssinns gehörten. Damit bereitete er rhetorisch den späteren Gedanken vor, daß es sich, was die erzählerische Beeinflußbarkeit von Erlebnisqualitäten anging, bei sinnlichen Eindrücken nicht anders verhielt als bei Gefühlen. Aber stimmte denn die These, sofern sie Gefühle betraf, überhaupt?
Es kam alles auf die Beispiele an. Im ersten Durchgang war er an ihnen gescheitert, weil das Taschenwörterbuch nur einen kleinen Teil des Wortschatzes enthielt, aus dem Leskov schöpfte. Dieses Problem war gelöst. Aber nun entdeckte er erneut, wie unsicher er im Grunde bei den englischen Wörtern war. Es war keine plumpe Unsicherheit, die auf einfachen Kenntnislücken beruht hätte. Die englischen Wörter waren ihm alle geläufig. Aber es war, als ginge er, wenn er sie ausprobierte, auf einem Untergrund, der jederzeit verrutschen konnte – es war ein bißchen, wie wenn man auf einer dünnen Schicht von Neuschnee über Glatteis ging.
Das galt bereits für coloring, shade, hue, tone und nuance. Wie zum Beispiel mußte die Wortwahl ausfallen, wenn es um die Färbung von Herbstlaub ging? Und wie, wenn es sich um die politische Färbung einer Tageszeitung handelte? Wenn man hier ausglitt, konnte man Leskovs Text leicht verpfuschen und sogar lächerlich machen. Und ähnlich war es mit der Benennung und Beschreibung von Emotionen und Stimmungen. Verlassenheit war nicht dasselbe wie Einsamkeit; Schwermut und Trauer waren auseinanderzuhalten; Heiterkeit und Gelöstheit – wie war es hier? Es war, fand er, schon in der Muttersprache schwierig, zwischen rein rhetorischen Varianten und klar erlebbaren Unterschieden im Gefühl zu trennen. Und je weiter die Fremdsprache entfernt lag, desto weniger Sicherheit gab es in dieser Frage.
Wie aber konnte man dann wissen, ob ein Beispiel wirklich ein Beleg für Leskovs These war? Und konnte man überhaupt erwarten, daß sich dieser Bereich des Wortschatzes von der einen in die andere Sprache sauber abbilden ließ? Oder war es am Ende so, daß jede Sprache die erlebte Innenwelt ein bißchen anders auffächerte? Und spräche das für oder gegen Leskovs These?
Perlmann war hin und her gerissen zwischen der ärgerlichen Unsicherheit, die all das für das Übersetzen bedeutete, und der beglükkenden Empfindung, sich gerade eben einen neuen Gedanken erschlossen zu haben. Die Stunden verflogen. Zwischendurch trat er manchmal ans Fenster und blickte auf die Bucht hinaus, die auch heute von dem glühenden Herbstlicht erfüllt war, das sich so sehr von dem gebrochenen, fahlen Licht unterschied, das jetzt zu Hause in die Bäume vor seinem Fenster fallen mochte.
Einmal abgesehen von der Übersetzerei: Wie war es der Sache nach mit Leskovs These? Würde sich die erinnerte Angst wirklich verändern, wenn die Erzählung über Kirstens Leukämie andere Wege ginge? War das bange, angstbebende Warten, als der junge Arzt mit der Hornbrille zum letzten Laborbericht gegriffen hatte, nicht etwas, was für immer feststand, genauso fest wie das Poltern der Erdklumpen auf Mutters Sarg? Und jene unvergeßliche Mischung aus Bewunderung und Beklemmung, die Schostakowitschs Erscheinen ausgelöst hatte? Gehörten solche Dinge nicht einfach zu einem festen Kern von erlebter Vergangenheit, um den herum sich Geschichten rankten, die man im Laufe eines Lebens öfter umschreiben mochte, ohne daß das Erlebniszentrum selbst sich dabei veränderte?
 
Zittrig vor Hunger und Anstrengung ging Perlmann gegen halb zwei in die Trattoria. In der Chronik interessierte ihn heute nur der Tag, an dem die Angst um Kirsten damals ein Ende gefunden hatte. Kein anderer Tag hatte sich mit einer derart diamantenen Genauigkeit in sein Gedächtnis eingegraben. Nicht einmal der Tag der Tauben. Agnes hatte ihn am Arm berührt, als der Arzt, den Laborbericht in der Hand, ihnen die erlösende Mitteilung machte. Dann waren sie durch die halbe Stadt gegangen und hatten sich immer von neuem die Farben der naßglänzenden Herbstblätter gezeigt. Er hatte das erste Mal seine Lehrveranstaltungen mit einer Lüge abgesagt, und sie waren für eine Woche nach Sylt gefahren. Es wurden Tage der Gegenwart, Tage voller Wind und Weite und Erleichterung.
Daß damals der Tod von Jean Gabin in der Zeitung gestanden hatte, war ihm entfallen. Als er jetzt den langen Artikel in der Chronik las, fiel ihm wieder ein, wie er Agnes den Film Le chat erzählt hatte, während sie mit gurgelnden Schritten durchs Watt stapften. Jahrelang redete Gabin kein Wort mehr mit Simone Signoret, weil sie aus Eifersucht die von ihm geliebte Katze umgebracht hatte. Wenn sie sich abends beim Kamin gegenübersaßen, reichte er ihr kleine Zettel, auf denen immer dasselbe stand: le chat. Sie tat diese Zettel in eine Schublade, und eines Tages fielen sie durch eine ungeschickte Bewegung alle auf den Boden, Hunderte davon. Agnes hatte die Geschichte monströs gefunden, und er hatte sich geschämt, weil ihm Gabins Verhalten im Film so fremd nicht war.
Das erste Mal seit der Ankunft hatte Perlmann nach dem Essen das Bedürfnis zu gehen, und in der Nähe des Hotels fand er einen kleinen Weg, der in die Hügel hinaufführte. Während er mit einem Zweig rhythmisch auf die Mauer aus Naturstein klopfte, probierte er Leskovs These an den Gefühlen aus, an die er sich vorhin in der Trattoria erinnert hatte. Bald aber überließ er sich einfach dem Stolz darüber, daß er diesen langen russischen Text tatsächlich bald ins Englische übersetzt haben würde. Es blieben noch achtzehn Seiten bis zum Schluß, und sieben davon hatte er ja neulich schon bewältigt, auch wenn es da wegen des Problems mit dem Begriff der Aneignung noch kleinere Lücken gab. Als der Weg einen Bogen beschrieb und nun parallel zum Hang verlief, stützte er sich auf die Mauer und blickte auf Stadt und Meer hinunter. Mitte der Woche ist die Übersetzung fertig. Dann würde der geordnete Blätterstoß auf der sonst leeren Glasplatte des Schreibtischs liegen. Er hatte etwas geschafft, was er sich nicht zugetraut hätte. Er spürte, daß er, wenn er an diesen Augenblick dachte, eigentlich auch hätte darüber hinausdenken müssen. Aber das ging nicht. Es ging nicht.
Mitte der Woche war die Hälfte des Aufenthalts vorbei. Und doch war das Gebirge aus gegenwartsloser Zeit noch genauso hoch wie am Anfang. Und es war alles noch schlimmer als zu Beginn, denn die Angst, die sich wie eine lautlose Säure in den Übersetzerstolz hineinfraß und ihn aushöhlte, so daß er jeden Moment einstürzen konnte, ließ das Gebirge jetzt wie eine gigantische Wand erscheinen, die sich ihm entgegenneigte, mit jedem Herzschlag ein winziges Stück mehr.
«Es ist so gut wie unmöglich, dieses Licht auf den Film zu bannen», sagte Laura Sand und stellte die große Fototasche neben ihn auf die Mauer.«Es ist, als sei seine leuchtende Tiefe noch etwas ganz anderes als die physikalische Strahlung, auf die der Film reagiert. »
Perlmann war so heftig zusammengefahren, daß sie ihm erschrokken die Hand auf den Arm legte und sich entschuldigte. Es sei immer dasselbe, sagte sie; auch David, ihr Mann, erschrecke oft, weil sie so leise sei.
«Sarahs Krach gleicht das aus! Besonders bei dem verdammten Aerobic! »
Sie blieben bis in die Dämmerung hinein zusammen. Eigentlich möge sie es überhaupt nicht, wenn man ihr beim Fotografieren zusehe, sagte sie einmal.«Aber weil Sie es sind...»»
Sie lehrte ihn sehen. Wie Agnes. Und doch ganz anders. Agnes hatte stets von Licht, Form und Schatten geredet, von Helligkeit und Tiefe, Flächen und Kanten. Man hätte, wenn man ihr nur zuhörte, meinen können, sie sehe die Welt als ein menschenleeres geometrisches Gebilde. Dabei war ihr eigentliches Thema menschliche Bewegung gewesen. Nicht irgendwelche Bewegung: Momente, die über sich hinauswiesen, Szenen, die eine Geschichte in sich bargen und den Betrachter dazu zwangen, diese Geschichte zu erfinden. Erzählende Fotografie hatte sie es genannt. Verstehst du: Farben würden dabei nur stören, vom Wesentlichen ablenken. Es kommt drauf an, daβ der Mann auf dem Bahnsteig in seinen Bewegungen explodiert, wenn er die Frau auf dem Trittbrett erblickt. Welche Farbe sein Mantel hat, ist unerheblich.
Ein unglaubliches Gespür für die Dichte von Augenblicken hatte sie besessen. Und unglaublich war auch ihre Geduld gewesen, wenn sie stunden- und tagelang auf dichte Szenen gewartet hatte, in Kneipen, auf Bahnhöfen, am Strand, einmal sogar bei einem Boxkampf, den sie verabscheute. Wenn dieses Warten dann sogar ihre Geduld überstieg, war sie in Versuchung geraten, wieder zu rauchen.
Laura Sand dachte ganz anders. Sie dachte in Farben und Stimmungen, und was sie im Laufe des Nachmittags darüber sagte, stand in einem derart schreienden Gegensatz zu ihrer Vorliebe für schwarze Kleidung, daß Perlmann mehrmals drauf und dran war, sie darauf anzusprechen. Sie brauchte lauter Farbwörter, die er noch nie gehört hatte, und als sie merkte, daß er aus dem Staunen nicht herauskam, lachte sie ihr kehliges Lachen und fuhr fort:«... edium flesh, canary yellow, rose madder lake, magenta, true blue, sap green, sanguine... »
Nein, an Menschen sei sie nicht interessiert – »beim Fotografieren, meine ich». Zuerst habe sie nur Landschaftsaufnahmen gemacht, und später, im Zusammenhang mit dem Beruf, seien Tiere dazugekommen. Die Schnappschüsse im Urlaub mußte David machen.
«Er hält mich für eine Misanthropin», lächelte sie. Und nach einer Pause fügte sie hinzu:«Er kennt mich gut. Deshalb überläßt du die Affensprache anderen, hat er neulich wieder gesagt, Affen sind dir schon viel zu sehr wie Menschen.»
Impressionistische Fotografie, so nannte sie ihr Ideal.
«Eigentlich eine Unmöglichkeit. Das physikalische Geschehen ist viel zu dicht. Ich bin zur Expertin im Herausfiltern geworden. Meine Theorie ist nämlich», lachte sie,«daß es viel mehr auf die Lücken, auf die Leere ankommt als auf das andere. David und Sarah mokieren sich seit Jahren darüber, und auch in Davids Pokerrunde ist meine Theorie so etwas wie der allmonatliche Standardwitz: Wir bauen die Häuser in Zukunft mit einer Menge Leere, das ist billiger! Na ja. Ist ja auch eine verschrobene Theorie, und manchmal verstehe ich sie selbst nicht. »
Von ihr, dachte Perlmann, wäre keine Bemerkung zu befürchten, wie sie Agnes damals auf dem Flughafen entschlüpft war. Auf dem Rollband stehend hatte er sich nach einem großen Werbefoto von Hongkong umgedreht, einem Bild mit sanften, samtenen Konturen, einem verträumten Bild. Schön kitschig, hatte Agnes gesagt, ein biβchen wie deine Art, die Welt zu sehen. Dann hatte sie sich, wohl erschrocken über die herausgerutschte Bemerkung, lachend bei ihm eingehängt und den Kopf an seine Schulter geschmiegt. Nicht böse sein, hatte sie leise gesagt, als sie spürte, wie steif er weiterging. Bei der Paßkontrolle hatte er sich nicht, wie gewohnt, noch einmal umgedreht. Nach seiner Rückkehr hatten sie sich beide große Mühe gegeben; sie war besonders aufmerksam, und er erzählte mehr als sonst. Über die Bemerkung wurde nie mehr gesprochen. Aber er war für einige Zeit ziemlich einsilbig, wenn sie ihm ihre Bilder zeigte. Zwischen ihnen war ein feiner Riß geblieben, kaum sichtbar und doch nie ganz vergessen.
 
Es war bereits Nacht, als sie das Hotel betraten. Nachdem ihnen Signora Morelli die Schlüssel gegeben hatte, hätte Perlmann gern zum Ausdruck gebracht, daß ihm die vergangenen Stunden etwas bedeutet hatten. Aber die paar Schritte bis zum Aufzug ließen ihm nicht genügend Zeit, die Worte zu finden, und als ihn Laura Sand fragend ansah, war alles, was sich zu einem passenden Satz hätte entwickeln können, wie ausgelöscht. Er hob die Hand mit dem Schlüssel, es klirrte leicht, und dann ging er allein die Treppe hinauf und war froh, daß inzwischen niemand etwas an der schummrigen Beleuchtung seines Flurs geändert hatte.
Es war purer Unsinn, dachte er unter der Dusche: Was für einen Argwohn sollte sie denn schöpfen? Er hatte sie gefragt, ob severing ein passendes Wort für das Spalten einer Persönlichkeit wäre; dann hatten sie eine Weile über cracking geredet; schließlich hatte sie ihm lachend die australische Wendung cracking hardy erklärt. Danach hatte es einen Moment geschienen, als wolle sie ihn nach dem Grund für sein besonderes Interesse an diesen Wörtern fragen, aber es war ihm gelungen, das Thema zu wechseln. Nein, es konnte wirklich keine Rede davon sein, daß er sich verraten hatte.
Auf dem Bett liegend dachte er von neuem an Agnes und das Besondere ihrer Fotografien. Einmal hatte sie monatelang nur Gesichter uralter Menschen fotografiert, es war wie eine Sucht gewesen. Die Serie war ein Hit geworden. Sie hatte ein Auge für Details gehabt, einen Blick, so schien es, der einer Einzelheit eine herausgehobene, besonders intensive Gegenwart zu verleihen vermochte – so, als würde diese Einzelheit erst durch ihren Blick aus der verschwommenen Ferne eines zeitlichen Schattendaseins in die lichte Gegenwart der fest umrissenen Formen geholt. Wie er sie um diese Begabung beneidet hatte!
Dafür hatte sie nie geplant, Sachen vergessen, in ihrer chaotischen Zettelwirtschaft die Übersicht verloren. Dann war er es, der einsprang, um die Dinge geradezubiegen. Darüber war er zum zwanghaften Planer geworden, zum Übersichtsfanatiker. Das war der Preis gewesen, der Preis für ihre Gegenwart.
 
Der Speisesaal sah heute abend sehr anders aus. Die meisten der runden Tische waren ersetzt worden durch eine festlich geschmückte Tafel, und an den Kronleuchtern hingen Girlanden aus buntem Papier. Es war das Dîner einer Hochzeitsgesellschaft, die von zwei extra angeheuerten Kellnerinnen bedient wurde, wie Adrian von Levetzov zu berichten wußte.
«Auch wieder mal hungrig?»fragte Millar und sah Perlmann mit geneigtem Kopf und resigniertem Lächeln an. Perlmann schwieg und konzentrierte sich auf die Muschelvorspeise. Die Scherze, die an der Tafel drüben gemacht wurden, waren schwer zu verstehen, die meisten der Hochzeitsgäste sprachen einen Dialekt, den er nicht verstand.
Jetzt berichtete von Levetzov von einem Buch über Henry Kissinger, das in der Herald Tribune besprochen worden war.
«Dieser Kriegsverbrecher», sagte Giorgio Silvestri gepreßt.«Hat Nixon zur Bombardierung von Kambodscha und Laos gedrängt. Das waren damals neutrale Länder. Der Mann sollte vor Gericht gestellt werden. Er sah herausfordernd zu Millar hinüber, der seinen Fisch zerlegte.«Nicht wahr, Brian?»
Millar schob das Fischmesser behutsam unter die Gräte, half mit der Gabel nach und löste das ganze Skelett heraus, um es dann auf den Tellerrand zu tun. Um seine Mundwinkel zuckte es. Er kostete den Moment aus. Schließlich nahm er einen Schluck Wein, tupfte sich die Lippen mit der Serviette und erwiderte Silvestris ungeduldigen Blick mit einem weichen, warmen Lächeln, wie Perlmann es an ihm noch nie gesehen hatte.
«Absolut richtig, Giorgio. Genau das habe ich damals in der College-Zeitung geschrieben. Auf der ersten Seite. Daraufhin blieb der monatliche Scheck meiner Eltern eine Zeitlang aus. »Er kniff die Augen zusammen.«Wirklich eingerenkt hat sich das nie mehr. »
Es war unglaublich, wie schnell Silvestris Gesicht reagierte. Überraschung und Irritation hatten sich kaum angedeutet, da fiel der angespannte, feindselige Ausdruck bereits in sich zusammen und machte einem Grinsen Platz, in dem so deutlich wie in Worten das Bewußtsein geschrieben stand, daß sein Affekt und ein Urteil von sträflicher Oberflächlichkeit ihn zu einer schematischen Erwartung verführt hatten, die Millar weit unterschätzte. Er hob das Glas in Millars Richtung. «Scusi. Salute!»
Perlmann brauchte viel länger, um mit seiner Überraschung fertig zu werden. Millar als Wortführer der Studentenbewegung. Verstohlen sah er zu Millar hinüber, der sich jetzt wieder auf seinen Fisch konzentrierte. Etwas in ihm begann sich zu bewegen, langsam und ächzend wie ein eingerostetes Zahnrad. Vielleicht hatte er ihn, aus purer Angst heraus, falsch eingeschätzt. Angst war ein Gefühl, das die anderen zur bloßen Projektionswand degradierte. Er war kurz davor, ihn zum Zeichen seiner veränderten Wahrnehmung anzusprechen, da fiel ihm wieder die blöde Bemerkung wegen des Essens ein, und er widmete sich weiter der Aufgabe, den Kopf des Fischs abzutrennen. Erst als der Kellner die Teller abgeräumt hatte, war der Ärger weit genug verblaßt.
«Eine Frage, Brian», begann er und legte ihm dann seine Unsicherheit dar, welche die verschiedenen englischen Wörter für Färbung und Schattierung betraf. Auch jetzt überraschte ihn Millar. Er probierte die verschiedenen Wörter aus, teilweise laut, dann wieder mit stummen Bewegungen der Lippen. Es begann ihm Spaß zu machen, und wenn er zwischendurch einen Schluck Wein nahm und ihn auf der Zunge zergehen ließ, sah es aus, als schmecke er mit dem Wein auch die Wörter ab.
Wieder zog und ächzte es in Perlmanns Empfindungen. Millar, der Mann aus Rockefeller, der intellektuelle Bach-Interpret, als sinnlicher Mensch. Sheila. Und dann, so plötzlich, als führe ein Blitz in ihn, überfiel ihn wieder ein Haß auf diesen Brian Millar, der ihm durch sein genußvolles Abwägen von Bedeutungsnuancen die Tätigkeit streitig machte, mit der er, Perlmann, sich seit zwei Wochen oben in seinem Zimmer gegen die anderen, und nicht zuletzt gerade gegen ihn, verteidigte. Und ich Idiot habe ihn auch noch selbst dazu animiert. Weil ich meinte, ihm ein Zeichen geben zu müssen. Ich beflissener Idiot.
Er dankte Millar, um ihn dadurch zu stoppen, aber jetzt schaltete sich auch Laura Sand ein, die Perlmann mit einem Lächeln an das nachmittägliche Gespräch über andere englische Wörter erinnerte. Achim Ruge stellte einmal mehr seine erstaunliche Sicherheit im Englischen unter Beweis, und während des gesamten Nachtischs bildeten diese Dinge das Gesprächsthema.
«Sie brauchen das wohl für Ihren Text über Sprache und Erinnerung, nicht wahr?»fragte Millar schließlich.
Perlmann spürte, wie seine Hände gefroren. Er wollte um keinen Preis nicken und nickte doch.
«Ich bin wirklich sehr gespannt darauf», sagte Millar, und durch die anschwellende Hitze im Gesicht hindurch nahm Perlmann wahr, daß er es ganz ohne Argwohn und Tücke sagte.
«Man hat den Eindruck, Sie arbeiten Tag und Nacht daran. Na ja, in... warten Sie... in zwei Wochen können wir es ja lesen. »
Bevor Perlmann den anderen in den Salon folgte, ging er auf die Toilette und hielt das Gesicht in die Wasserschale, die er mit den Händen formte. Es sind nur noch elf Tage. Spätestens am Donnerstag morgen muß Maria den Text haben.
 
«Wenn ich heute wieder spiele, ist es bereits ein Ritual», sagte Millar gerade, als Perlmann den Salon betrat.
Von Levetzov und Evelyn Mistral klatschten. Millar grinste, knöpfte den Blazer auf und ließ sich nach einer angedeuteten Verbeugung auf der Klavierbank nieder. Er spielte Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Klavier.
Minutenlang saß Perlmann mit geschlossenen Augen da und stemmte sich mit aller Kraft nach innen, um zu verhindern, daß die Panik in ihm hochschoß wie eine Fontäne. Wenn ich in etwas drin bin, kann ich sehr schnell schreiben. Das weiß ich. So etwas ändert sich auch nicht. Um hineinzukommen brauche ich einen Tag. Oder zwei. Dann bleiben neun Tage. Siebzig, achtzig Arbeitsstunden. Ich kann es noch schaffen.
Die Verkrampfung ließ ein bißchen nach, die Musik drang zu ihm durch, und vage, wie aus weiter Ferne, meldete sich die Erinnerung an Bela Szabo, der sich mit dem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Perlmann griff nach diesem schemenhaften Bild wie nach einem rettenden Instrument, er zwang es herbei und starrte es an, bis es klarer und dichter wurde und nach und nach eine ganze Szene freigab, die in ihrer wachsenden Lebendigkeit die flackernde Angst zurückdrängte.
Als er Perlmann die Episode mit heiserer Stimme erzählte, hatte Szabo zusammengekrümmt dagesessen, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, den Kopf in den Händen. Schostakowitsch, der als Juror zum Bach-Wettbewerb in Leipzig entsandt worden war, hatte ihn beim abschließenden Buffet angesprochen. Szabos Komposition sei nicht schlecht, habe er gesagt, sie sei durchaus gefällig, und sogar ein bißchen mehr. Aber noch nicht wirklich ein Einfall.
Während draußen vor dem Konservatorium Lastwagen vorbeidonnerten, hatte Szabo diesen Satz stets von neuem wiederholt, und in der Bitterkeit seiner Stimme hatte die Gewißheit gelegen, daß er ihn nie würde vergessen können. Perlmann war aufgestanden und hatte trotz der Hitze das Fenster zugemacht.
Dabei habe sich Schostakowitsch damals in Leipzig als ein ausgemachter Feigling entpuppt, hatte Szabo gesagt, während er sich mit dem Taschentuch übers Gesicht fuhr. Als er öffentlich auf einen nicht gezeichneten Artikel in der Pravda angesprochen worden sei, in dem Hindemith, Schönberg und Strawinski als Obskuranten und Lakaien des imperialistischen Kapitalismus gebrandmarkt wurden, habe er, wenn auch zögernd, erklärt, er stimme dem zu. Er habe seinen Ohren nicht getraut, sagte Szabo, und dann hatte Perlmann gesehen, wie das Blut in der violetten Zornesader pulsierte, die an seiner bleichen, alabasternen Schläfe hervorgetreten war. Diese Art von Feigheit, hatte Szabo herausgepreßt, sei mitverantwortlich gewesen für die blutige Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, an dessen Ende sie seinen Vater an die Wand gestellt hatten. Vielleicht eine Minute lang hatte Szabo mit geballten Fäusten dagesessen. Dann hatte er Perlmann mit seinen wäßrig grauen Augen angeblickt, die denen von Achim Ruge nicht unähnlich waren. Warum erzähle ich Ihnen das alles? Let’s get back to work! Dabei haßte er Englisch.
Bachs Präludien und Fugen wurden unter Millars Händen auch heute abend zu unsichtbaren Gebilden von kristalliner Architektonik – feine weiße Linien hinter der Nacht. Das war die Musik, die Schostakowitsch damals in Leipzig derart fasziniert hatte, daß er mit einem eigenen Zyklus reagierte. Perlmann versuchte, die Fugen der beiden Komponisten nebeneinander zu hören. Hatte er das gläserne Perlen und die besondere Art des Verklingens, die Schostakowitschs Stücke kennzeichneten, damals in dem Konzert eigentlich wirklich gemocht? Oder war es eher Hanna mit der verbundenen Hand gewesen, die alles verklärt hatte?
«Du hast ausgesehen, als seist du sehr weit weg, auf einem anderen Stern», sagte Evelyn Mistral beim Hinausgehen.«Machen wir morgen wieder einen Spaziergang? Vielleicht wird ja wieder geheiratet! »
Perlmann nickte.
 
Aber noch nicht wirklich ein Einfall. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugemacht, schlug Perlmann das russische Wort für Einfall nach und versuchte dann, Schostakowitschs ganze Bemerkung auf russisch zu formulieren. Er war unsicher, ob die Art, wie er die russischen Wörter brav aneinanderreihte, die flüßige Beiläufigkeit der deutschen Bemerkung traf. Und plötzlich kam es ihm vor, als könne er überhaupt kein Russisch. Eine Weile starrte er auf die Wörter, um sich zu vergewissern, daß er die kyrillische Schrift wirklich lesen konnte.
Hatte er selbst jemals einen wirklichen Einfall gehabt? Der Mond schien ins Zimmer. Er zog die Vorhänge zu. Jetzt war die Dunkelheit erstickend. Er schob die Vorhänge wieder zurück. Neun Tage. Zehn. Die Panik sickerte in die quälende Wachheit hinein. Er ging ins Bad und nahm eine ganze Schlaftablette.
Perlmanns Schweigen: Roman
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
dummy_split_000.html
dummy_split_001.html
dummy_split_002.html
dummy_split_003.html
dummy_split_004.html
dummy_split_005.html
dummy_split_006.html
dummy_split_007.html
dummy_split_008.html
dummy_split_009.html
dummy_split_010.html
dummy_split_011.html
dummy_split_012.html
dummy_split_013.html
dummy_split_014.html
dummy_split_015.html
dummy_split_016.html
dummy_split_017.html
dummy_split_018.html
dummy_split_019.html
dummy_split_020.html
dummy_split_021.html
dummy_split_022.html
dummy_split_023.html
dummy_split_024.html
dummy_split_025.html
dummy_split_026.html
dummy_split_027.html
dummy_split_028.html
dummy_split_029.html
dummy_split_030.html
dummy_split_031.html
dummy_split_032.html
dummy_split_033.html
dummy_split_034.html
dummy_split_035.html
dummy_split_036.html
dummy_split_037.html
dummy_split_038.html
dummy_split_039.html
dummy_split_040.html
dummy_split_041.html
dummy_split_042.html
dummy_split_043.html
dummy_split_044.html
dummy_split_045.html
dummy_split_046.html
dummy_split_047.html
dummy_split_048.html
dummy_split_049.html
dummy_split_050.html
dummy_split_051.html
dummy_split_052.html
dummy_split_053.html
dummy_split_054.html
dummy_split_055.html
dummy_split_056.html
dummy_split_057.html
dummy_split_058.html
dummy_split_059.html
dummy_split_060.html
dummy_split_061.html
dummy_split_062.html
dummy_split_063.html
dummy_split_064.html
dummy_split_065.html
dummy_split_066.html
dummy_split_067.html
dummy_split_068.html
dummy_split_069.html
dummy_split_070.html
dummy_split_071.html