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Es war kurz vor
drei, als das Telefon ihn weckte. Als habe er nie ein anderes
Empfinden gekannt, wich er vor dem Klingeln zurück wie vor einem
Angriff. Aber ich brauche mich doch gar nicht
mehr zu verstecken. Es ist doch vorbei. Er nahm ab und hörte
Leskovs viel zu laute Stimme. Ob er ihn besuchen dürfe. Natürlich
nur, wenn er ihn nicht störe. In Perlmanns Kopf begann es zu
pochen, und in seinem vom Schlaf noch heißen Gesicht entstand ein
trockenes Brennen, als sei er stundenlang in eisiger Winterluft
gewandert.
«Bist du noch
dran?»fragte Leskov.
Perlmann sagte, ein
Besuch würde ihn freuen. Er wußte nicht, was er sonst hätte sagen
können.
Der Himmel hatte
sich überzogen, und es fiel ein leichter Regen aus einem hellen
Grau. Die zweite Fassung. Der Regen fällt auf
die gelben Blätter. Die Fahrt
über Recco und Uscio würde höchstens eine Stunde dauern. Wenn er
Leskov bald wieder los wurde, konnte er rechtzeitig dort sein, um
die Blätter noch im Hellen aufzusammeln. Er holte den Autoschlüssel
aus der Tasche des Blazers und zog die verschmutzte Jacke an. So
war es unübersehbar, daß er auf dem Sprung war.
Kaum hatte sich
Leskov in den roten Sessel fallen lassen, da holte er die Pfeife
aus der Tasche und fragte, ob er rauchen dürfe.
«Ja, natürlich»,
sagte Perlmann. Er hätte es nicht zu sagen brauchen. Lieber nicht, hätte er statt dessen sagen können.
Aus dem Munde eines Schonungsbedürftigen hätte das genügt. Zwei
kurze Wörter. Er hatte sie nicht gesagt. Er hatte es nicht
vermocht. Jetzt roch er den süßlichen Tabak. Er würde überall
hängenbleiben. Er würde ihn tagelang riechen müssen. Er haßte
diesen Russen.
Da habe er ihnen
aber einen schönen Schreck eingejagt, sagte Leskov. Er habe
natürlich sofort an seine Übelkeit auf der Fahrt und an die
Aufregung im Tunnel denken müssen. Die anderen wüßten davon
übrigens nichts. Er habe gestern abend nur vage etwas von
Unwohlsein gesagt, um Perlmanns Abwesenheit beim Essen zu erklären.
Die Einzelheiten, sagte er lächelnd, gingen außer sie beide ja
sonst niemanden etwas an, nicht wahr.
Die Intimität, die
er ihm mit dieser Bemerkung aufzwang, konnte nicht die Intimität
der Erpressung sein. Perlmann wußte das, auch wenn sich diese
Gewißheit noch sehr frisch und ein bißchen wacklig anfühlte.
Trotzdem war es eine unerträgliche Intimität, und sie machte
Perlmann so wütend, daß es ihm plötzlich gleichgültig war, daß der
Regen stärker zu werden schien.
«Übrigens», sagte
Leskov,«man hat mir inzwischen von dem Empfang im Rathaus erzählt.
»Er lächelte.«Also waren es deine Medaille und deine Urkunde auf
dem Rücksitz. Und jetzt verstehe ich auch die Krawatte, die da
herumlag, als hättest du sie voller Wut nach hinten geschleudert.
Das Ganze muß dir ja unheimlich peinlich und zuwider gewesen sein!
Wir haben uns beim Mittagessen vor Lachen gebogen, als Achim die
ganze Sache geschildert hat. »
Von Perlmanns Text
war Leskov begeistert. Er sei letzte Nacht noch lange aufgeblieben,
um ihn ganz zu lesen. Er habe nicht ganz alles verstanden, eine
Reihe von englischen Wörtern und Wendungen fehlten ihm eben doch.
Aber sowohl die Themen als auch die Art, sie anzupacken – das alles
habe eine überraschend große Nähe zu seiner eigenen Arbeit. Es sei
wirklich schade, daß Perlmann den russischen Text noch zu schwer
gefunden habe. Sonst hätte er diese Nähe auch sofort erkannt. Den
Titel habe er aber doch sicher verstanden?
Perlmann
nickte.
«Wir sollten einmal
einen Text zusammen schreiben!»sagte Leskov und berührte ihn am
Knie.
Jedenfalls habe ihm
Perlmanns Text Mut gemacht, hier über seine eigenen Dinge zu reden.
Ein bißchen Bammel habe er nämlich schon gehabt. In einer derart
illustren Gesellschaft. Er finde es ganz toll, daß man hier so
offen sei und es keinerlei akademische Zwangsjacke zu geben
scheine. Wenn ihm nur dieser schreckliche Lapsus mit seinem Text
nicht passiert wäre. Er stieß hastig große Rauchwolken aus, die
sich im Zimmer immer mehr zu einer geschlossenen Decke aus blauem
Dunst verdichteten, die den ganzen Raum in Kopfhöhe
durchschnitt.
«Ach so, das kannst
du ja gar nicht wissen», unterbrach er sich und gestikulierte
lebhaft.«Ich habe dir doch von der zweiten Fassung meines Texts
erzählt, und davon, daß ich sie wegen dieses ärgerlichen Anrufs
beinahe zu Hause vergessen hätte. »Leskov wartete, bis Perlmann
nickte.«Und nun scheint es, daß genau das tatsächlich geschehen
ist. Gestern abend nämlich, wie ich vom Essen zurückkomme, fasse
ich ins Außenfach des Handkoffers, wo der Text hätte sein sollen.
Aber da ist nichts. Einfach nichts. Leer. »Leskov preßte die Fäuste
gegen die Schläfen.«Es ist mir ein völliges Rätsel. Ich könnte
schwören, daß ich ihn im letzten Moment noch eingesteckt habe. Es
war doch gerade das offene Außenfach, das mich daran erinnert hat.
»
Perlmann öffnete das
Fenster, lehnte sich hinaus und blickte nach Nordwesten. In dieser
Richtung war es heller. Vielleicht blieb es dort oben
trocken.
«Stört dich der
Rauch auch wirklich nicht?»fragte Leskov.
«Überhaupt nicht»,
antwortete Perlmann in den Regen hinaus und blickte verstohlen auf
die Uhr. Fünf nach halb vier.
Er habe die halbe
Nacht daran herumgerätselt, fuhr Leskov fort. Und zwischendurch
habe er das Gefühl gehabt, seine Erinnerung an das Einstecken des
Texts sei vielleicht nur eine Einbildung, in deren Lebhaftigkeit
einfach der starke Wunsch zum Ausdruck komme.
«Es ist sehr
unangenehm», sagte er,«und nicht nur wegen des Texts. Es gibt mir
das Gefühl, mich nicht mehr auf mich selbst verlassen zu können.
Kennst du so etwas auch?»
Ja, sagte Perlmann
und zündete sich umständlich eine Zigarette an, dieses Gefühl kenne
er.
Er habe die
Angewohnheit, sagte Leskov nachdenklich, daß er sofort etwas zu
lesen beginne, wenn er warten müsse. Und deshalb überlege er nun
schon die ganze Zeit, ob er den Text unterwegs etwa herausgenommen
und irgendwo liegengelassen habe. Nicht in St. Petersburg, da sei
es am Flughafen viel zu hektisch zugegangen. Und auch nicht auf dem
Flug nach Moskau, wo ihn ein angetrunkener Kriegsveteran auf dem
Nebensitz ständig belästigt habe. Bei Larissa und Boris dann sei er
die ganze Zeit über von den Kindern in Beschlag genommen worden. Am
Flughafen in Moskau vielleicht. Oder dann im Flugzeug. Oder in
Frankfurt, als er auf den Anschlußflug gewartet habe. Es sei
verrückt: Weil nicht die Spur einer Erinnerung an eine solche
Handlung vorhanden sei, müsse er nun über sich nachdenken wie über
einen Fremden, ganz von außen sozusagen. Dabei hoffe er inständig,
daß alles, was er da denke, falsch sei. Zwar stehe am Schluß des
Texts seine Adresse, das mache er ganz automatisch, selbst bei
einem Manuskript. Aber er glaube nicht, daß sich jemand die Mühe
machen würde. Am Moskauer Flughafen bestimmt nicht. Und in
Frankfurt könne es niemand lesen. Vielleicht werde die Lufthansa
etwas unternehmen, wenn der Text im Flugzeug gefunden worden sei.
Andererseits: Eine Putzkolonne würde einen Stoß unleserlicher
Blätter doch einfach zum übrigen Müll werfen.«Oder was meinst
Du?»
«Ich... ich weiß es
nicht», sagte Perlmann tonlos.
Leskov machte eine
Pause und sah mit leicht verengten Augen vor sich hin. Perlmann
wußte, was jetzt kam. Es gebe noch eine Kleinigkeit, fuhr er fort,
die er sich kaum zu erwähnen traue, so lächerlich klinge sie: Im
Reißverschluß des Außenfachs sei ein Stückchen Gummiband
hängengeblieben. Das gehe ihm nicht mehr aus dem Kopf, denn es
könne bedeuten, daß er den Text herausgenommen und dabei das
Gummiband zerrissen habe, mit dem er zusammengehalten wurde. Er
schlug sich mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn.«Wenn ich nur
irgendeine Erinnerung hätte! »Nach einer Weile öffnete er die Augen
und sah Perlmann an, der zu Boden blickte.«Entschuldige, daß ich
dich damit belästige. In deinem Zustand. Aber du weißt ja, wieviel
für mich von diesem Text abhängt. Ich habe schon versucht, zu Hause
Freunde anzurufen, damit sie in meiner Wohnung nachsehen. Aber ich
bekomme keine Verbindung. »Er legte die Pfeife auf den runden Tisch
und verbarg sein Gesicht in den Händen.«Ich hoffe bei Gott, daß er
dort liegt. Sonst... ich wage nicht daran zu denken. »
Der Regen hatte
aufgehört. Perlmann ging ins Bad und lehnte sich mit dem Rücken
gegen das Waschbecken. Er zitterte, und sein Kopf drohte zu
zerspringen. Ich muß die Blätter aufsammeln.
Um jeden Preis. Fünf nach vier. Wenn Leskov bald ging, war
es noch zu schaffen. Man kann diese Blätter
auch in der Dämmerung noch erkennen. Er zog die Spülung.
Dann machte er gegen das Zittern die Fäuste und ging zurück ins
Zimmer.
Leskov stand. Er
müsse jetzt wieder arbeiten, bis zu seiner Sitzung am Donnerstag
bleibe ja nicht mehr viel Zeit.
«Wahrscheinlich
liegt der Text einfach zu Hause. Anders kann es eigentlich gar
nicht sein. Ich müßte doch sonst irgendeine Erinnerung haben.
Irgendeine. »
Perlmann hielt
seinem fragenden Blick nicht lange stand und ging voraus zur Tür.
Bevor er hinausging, blieb Leskov dicht vor ihm stehen. Perlmann
roch seinen Tabakatem.
«Meinst du, es ließe
sich vielleicht ein Übersetzer für meinen Text finden?»fragte
er.«Ich hätte ja doch gern, daß er von dir und anderen gelesen
werden könnte. Besonders, nachdem ich jetzt deinen Text kenne. Die
Bezahlung wäre natürlich ein Problem, ich weiß. »
«Ich werde darüber
nachdenken», sagte Perlmann. Es kostete ihn eine enorme
Anstrengung, die Tür sanft zu schließen.
Kurz danach verließ
er das Zimmer und nahm nach einigem Zögern den Weg durch die Halle.
Dort fing ihn Maria ab, die schniefend, mit einem Taschentuch in
der Hand, aus ihrem Büro gelaufen kam. Ob es ihm wieder besser
gehe? Sie höre von Signora Morelli, daß er überrascht gewesen sei,
den Text verteilt zu finden, den sie am Freitag fertig gemacht
habe.
«Bitte entschuldigen
Sie, wenn ich da etwas falsch gemacht habe. Aber als Sie mir
Freitag am Telefon sagten, es sei eilig, habe ich automatisch
angenommen, das sei der Text für Ihre Sitzung, und deshalb habe ich
die Kopieranweisung drangeheftet. Auch Ihren Namen habe ich, glaube
ich, ergänzt. »
Die Leute von
Fiat?
«Ach die», lachte
sie und mußte sich schneuzen,«ich hatte nicht den Eindruck, daß da
fürchterlich viel gearbeitet wurde. Und als ich etwas von
Forschungsgruppe und wichtigem Text sagte, winkte Santini sofort
ab. Ein patenter Typ. Ist schon oft mit Leuten hier gewesen. »Sie
rieb sich die geröteten Augen.«Sie hatten zwar gesagt, Samstag
mittag würde auch noch reichen. Aber dann habe ich gespürt, daß
diese Erkältung im Anzug war, und habe das Ding noch am Freitag zu
Ende geschrieben, um am Samstag im Bett bleiben zu können. Ach,
Moment», sagte sie, bedeutete ihm zu warten und verschwand im
Büro.
Wenn sie keine Erkältung bekommen hätte, wären die Fächer
Samstag morgen leer geblieben und ich hätte Giovannis Versäumnis
gleich entdeckt. Wenn der seinen Fehler allerdings nicht gemacht
hätte, dann wäre ihre Erkältung meine Rettung
gewesen.
«Hier», sagte Maria
und reichte ihm das schwarze Wachstuchheft.«Ihre Sachen schreibe
ich gern. Sie sind nicht so technisch wie die der anderen, und
nicht so trocken. Das war schon bei dem anderen Text so, dem übers
Erinnern. Und der hier hat außerdem diesen originellen Titel.
Gefällt mir. Ist für Sie jetzt also wirklich nichts schiefgegangen?
Hätte ich vielleicht den anderen Text noch einmal ausdrucken und
kopieren lassen sollen?»
«Nein, nein», sagte
Perlmann und mußte gegen die Hast in seiner Stimme ankämpfen,«Sie
haben genau das Richtige getan. Mille
grazie.»
Bei Licht betrachtet
sah der Schaden am Lancia schlimm aus. Der dunkelblaue Lack war der
ganzen Länge nach mehrfach aufgerissen, die Schrammen drangen bis
tief ins Blech hinein, und beim Scheinwerfer vorne rechts war der
Kotflügel kräftig zusammengestaucht worden. Perlmann nahm Krawatte,
Medaille und Urkunde vom Rücksitz und tat sie zusammen mit dem
schwarzen Heft in den leeren Handkoffer. Dann fuhr er
los.
Er war noch nicht
einmal bei der großen Hafenmole, da war ihm schon klar, daß er es
jetzt nicht schaffen würde. Er schlotterte vor Schwäche, und seine
Reaktionen waren grotesk verzögert, als arbeite das Gehirn nur im
Zeitlupentempo. Unter den Blicken eines Polizisten hielt er im
Halteverbot und trocknete sich den Schweiß von den kalten
Händen.
Gerade als er wenden
und zurückfahren wollte, fiel sein Blick auf das Hotel IMPERIALE am
Hang oben. Irgend etwas war damit. Wieder machte das Gehirn eine
gespenstisch lange Pause. Der Kellner. Ich
habe ihn nicht abgewartet. Und ich habe nicht bezahlt. Also auch
noch Zechprellerei. Im Vergleich zu allem anderen war das so
lächerlich, daß Perlmann das Gesicht zu einem Grinsen verzog. Ganz
langsam fuhr er zum Hotel hinauf und wartete vor der Einfahrt
minutenlang auch noch den entferntesten Gegenverkehr
ab.
Es war derselbe
Kellner. Er maß Perlmann mit einem abschätzigen Blick. Das bleiche,
unrasierte Gesicht. Die verschmutzte Jacke. Die blutbefleckte Hose.
Die ungeputzten Schuhe.
«Ich habe gestern
abend zu zahlen vergessen», sagte Perlmann und holte eine Handvoll
Scheine aus der Tasche.
«Wir sind solche
Gäste hier nicht gewöhnt», sagte der Kellner steif.
«Es ist ja auch
nicht eine Gewohnheit von mir», sagte Perlmann mit einem müden
Lächeln.«Es waren, glaube ich, ein belegtes Brot, ein Whisky und
ein Mineralwasser. »
«Zwei Wasser», sagte der Kellner
scharf.
«Entschuldigung. Ich
war gestern nicht... nicht ganz auf der Höhe.»
«Das scheint mir
auch so. Und ich würde sagen, wir können auf einen weiteren Besuch
von Ihnen verzichten», sagte der Kellner und steckte die drei
Zehntausend-Lire-Scheine einfach in die Tasche der roten
Jacke.
Die beiden Dinge,
der Rausschmiß und diese Bewegung, fügten sich in Perlmanns
Empfinden zu etwas zusammen, was ihn auf sonderbare Weise befreite.
Er sah dem Kellner mit unverhohlener Verachtung ins Gesicht.«Wissen
Sie, was Sie sind? Un stronzo.» Und
weil er nicht sicher war, ob dieses Schimpfwort auch stark genug
war, fügte er, die wörtliche Übersetzung benutzend, hinzu:«Ein
Arschloch. Ein ganz großes Arschloch.»Das Gesicht des Kellners
verfärbte sich. «Stronzo», sagte
Perlmann noch einmal und ging hinaus.
Auf dem Rückweg fuhr
er sicherer, und auf einmal verspürte er richtig Hunger – eine
Empfindung, die er in den letzten Tagen nahezu vergessen hatte. In
einer Stehkneipe aβ er mehrere Stücke Pizza. Im Fernsehen hinter
der Theke gingen gerade die Fünf-Uhr-Nachrichten zu Ende, und es
wurde eine Wetterkarte eingeblendet. Perlmann starrte auf die
Wolken östlich von Genua. Sie waren weiß, nicht grau. Aber das
waren die Wolken auf solchen Karten immer. Oder?
«Kennen Sie die
Straße von Genua über Lumarzo nach Chiävari?»fragte er den Mann im
Unterhemd, der mit der langen Schaufel die Pizza aus dem Ofen
holte.
«Sicher», sagte der
Mann, ohne seine Bewegungen zu unterbrechen.
«Glauben Sie, daß es
dort heute nacht regnet? Beim Tunnel, meine ich. »
Der Mann hielt
abrupt inne, ließ die Schaufel halb im Ofen und drehte sich
um.
«Wollen Sie mich auf
den Arm nehmen?»
«Nein, nein», sagte
Perlmann schnell,«ich muß das wirklich wissen, es ist sehr wichtig.
»
Der Mann im
Unterhemd nahm einen Zug aus der Zigarette und sah ihn dann an wie
einen ganz einfältigen, vielleicht auch gestörten
Menschen.
«Mann, wie soll ich
das denn wissen können?»sagte er milde.
«Ja», sagte Perlmann
leise und ließ ein viel zu hohes Trinkgeld liegen.
«Dieses Gespräch
gestern nacht», sagte Perlmann zu Signora Morelli, als sie den
gelben Umschlag von Frau Hartwig und ein kleineres Kuvert vor ihn
auf die Empfangstheke legte,«ich... »
Sie faltete die
Hände und sah ihn an. Das winzige Zucken ihrer Mundwinkel konnte
auch Einbildung sein.
«Welches
Gespräch?»
Perlmann schluckte
und verschob die beiden Umschläge, bis sie genau parallel zum Rand
der Theke lagen.«Grazie», sagte er leise und sah sie
an.
Ihr Nicken war nur
eine Andeutung.
Das Zimmer roch nach
Leskovs süßlichem Tabak. Der Dunst war abgezogen, aber gegen den
aufdringlichen Geruch hatte das offene Fenster nichts auszurichten
vermocht. Nur kalt war es jetzt. Perlmann kippte einen Berg von
Pfeifenasche und angekohltem Tabak in die Toilette und schloß das
Fenster.
Frau Hartwigs
Umschlag enthielt zwei Briefe. Der eine war die Einladung nach
Princeton, geschrieben auf teurem Papier, das an Pergament
erinnerte, und unterzeichnet vom Präsidenten. Die Einladung erfolge
aufgrund seiner herausragenden
wissenschaftlichen Leistungen, stand da. Und der Präsident
versicherte ihm, es wäre für die gesamte Universität eine große Ehre, ihn für eine Weile zu Gast zu
haben. Perlmann las den Brief kein zweites Mal, sondern steckte ihn
sofort in den Umschlag zurück und warf ihn in den
Koffer.
Das andere war eine
Einladung zu einem Gastvortrag. Er sollte eine Ringvorlesung
eröffnen, und die Veranstalter legten großen Wert darauf, daß
gerade er der erste Redner sei. Es war in dem Brief von Arbeiten
die Rede, die er bereits vor drei Jahren abgeschlossen hatte, die
aber erst Anfang dieses Jahres im Druck erschienen waren. Damals,
dachte er, schien noch alles in Ordnung zu sein. Nur gelangweilt
hatten ihn seine Sachen immer öfter. Und ab und zu war er mitten in
der Nacht aufgewacht und hatte nicht mehr weiter gewußt. Er hatte
dann keine langen Selbstgespräche geführt. Überhaupt kamen bei
diesen Gelegenheiten wenig Gedanken. Er hörte Musik, und meistens
stand er dabei am großen Fenster. Agnes war dann überrascht, ihn so
früh schon am Schreibtisch zu finden.
Im anderen Kuvert
war eine Notiz von Angelini. Er müsse leider heute nachmittag
bereits wieder nach Ivrea zurück. Er wünsche ihm gute Besserung.
Hoffentlich sei es nichts Ernstes. Er werde versuchen, Freitag zum
letzten Abendessen zu kommen, aber sicher sei es noch nicht. Er
möge ihn doch auf jeden Fall vor dem Heimflug noch anrufen. Am
Schluß stand seine private Telefonnummer.
Es waren freundliche
Sätze, wenn auch konventionelle. Perlmann las sie mehrmals. Er
dachte zurück an ihre erste Begegnung und die begeisterten Anrufe
danach. Man konnte nicht sagen, daß aus diesen Sätzen hier
Enttäuschung sprach. Überhaupt nicht. Auch nicht Distanz oder
Kühle. Aber er spürte sie. Er, Philipp Perlmann, hatte sich als
eine Fehlinvestition entpuppt.
Er stellte die
Sechs-Uhr-Nachrichten an. Aber auf diesem Kanal brachten sie nur
eine schematische Wetterkarte, die ihm nichts nützte. Für morgen
keine größere Änderung zu erwarten. Die Straβen waren vorhin fast
schon wieder trocken gewesen. Er ging zum Fenster. Jetzt in den
sternenlosen Nachthimmel hinaufzustarren war zwecklos.
Er duschte lange und
legte sich dann ins Bett. Das Kissen roch nach Leskovs Tabak. Aus
dem Schrank holte er ein anderes. Auch das Laken und die Wolldecke
rochen. Er zog das Laken ab und deckte sich mit Ersatzdecken aus
dem Schrank zu. Die Heizung verstärkte den Geruch. Er stellte sie
ab und öffnete das Fenster. Der Körper vibrierte vor Erschöpfung,
aber der Schlaf wollte nicht kommen. Tablette nahm er keine. In den
Sieben-Uhr-Nachrichten sahen die Wolken in der Umgebung von Genua
dichter aus als noch vor zwei Stunden. Draußen blieb es trocken. Er
fror und holte die letzte Decke aus dem Schrank. Es war zu laut auf
der Uferstraße, und er schloß das Fenster. Wenn er um halb sechs
losfuhr, war er beim ersten Licht dort. Er stellte den Wecker auf
fünf. Gegen acht schlief er ein.
Er sah keinen
Bulldozer und auch keine Tunnelwände. Eigentlich sah er gar nichts.
Es fand überhaupt kein Sehen statt. Es war einfach nur so, daß er
nicht die Kraft hatte, die Hände vom Steuer zu nehmen. Er hielt es
fest und drehte es nach links, immer weiter nach links. Es konnte
sein, daß er selbst es war, der drehte. Oder es war zwar etwas in
ihm, eine Kraft, ein Wille, aber er war ihm fremd und gar nicht
wirklich seiner. Und vielleicht hatte sich das Steuer auch
selbständig gemacht und führte seine Hand gegen seinen Willen. Er
kannte sich nicht mehr aus, die Eindrücke überlagerten sich, und er
wußte nicht, was von allem er am meisten fürchtete. Die Angst
lähmte ihn vollständig, und er hatte das Gefühl, die Kontrolle über
die körperlichen Funktionen zu verlieren, vor allem über den
Unterleib. Das dauerte eine halbe Ewigkeit, in der er jeden Moment
den Aufprall erwartete, und dann wachte er mit einem Zucken des
ganzen Körpers auf, das etwas Furchtbares an sich hatte, etwas
Unheimliches, denn auch es entzog sich völlig seiner Kontrolle, es
war ein animalisches, ein biologisches Zucken, das aus einer ganz
tiefen Region des Gehirns zu kommen schien.
Perlmann sprang auf
und untersuchte die Matratze. Sie war sauber. Dann setzte er sich
auf den Bettrand und rauchte. Von Zeit zu Zeit spürte er den
körperlichen Nachhall einer Linksdrehung. Später zog er den nassen
Schlafanzug aus und ging unter die Dusche. Es war kurz nach
Mitternacht. Die Uferstraße war naß. Doch jetzt regnete es nicht
mehr.
Während der nächsten
Stunden wachte er in kurzen Abständen stets aus dem gleichen Traum
auf, um dann von neuem einzudösen. Dieses Mal war es kein Alptraum,
sondern eine lästige und lächerliche Verbindung von Dingen, die für
den Träumenden in keinerlei Beziehung zueinander standen. Da war
der Name Pian dei Ratti, der in so
dichter Folge immer wiederkehrte, daß er wie ein stetiges
Hintergrundgeräusch war, ein unaufhörliches Echo, das den inneren
Raum bis in den letzten Winkel ausfüllte. Und dieser Name roch. Er
war eingehüllt in einen Geruch von süßlichem Tabak und Nebel, es
war, als klebe dieser Geruch an dem Namen, so daß der Name ohne den
Geruch überhaupt keine Bedeutung hätte. Dadurch, daß der Name stets
da war und hallte, fror man immer und mußte schniefend nach Münzen
suchen, die einem fortwährend mit einem schmerzhaften Reiben durch
die Finger rutschten. Die Schuhe kippten, und die Frauen lachten.
Dann war alles voller gelber Blätter, und es nützte nichts, sich im
Kofferraum ganz klein zu machen.
Perlmann wechselte
das Pflaster am Finger. Die Entzündung begann abzuklingen. Bei
jedem Aufwachen lüftete er. Draußen fielen nur wenige Tropfen. Der
Traum hatte die Zuverlässigkeit und Monotonie einer Schallplatte,
bei der die Nadel immer in derselben Rille läuft. Um halb fünf
duschte er, rasierte sich und zog sich an.
«Buon giorno», sagte Giovanni, rieb sich die Augen
und sah auf die Uhr.
Unter der Tür drehte
Perlmann noch einmal um.«Dieses Ausgleichstor neulich, das zum
Elfmeterschießen führte. Wer hat es erzielt?»
Giovanni verschlug
es fast die Sprache.«Baggio», sagte er dann grinsend.
«Von welchem
Club?»
Giovanni sah ihn an,
als habe er gefragt, von welchem Land Rom die Hauptstadt
sei.
«Juve. Juventus
Turin. »
«Grazie», sagte
Perlmann. Er spürte, wie Giovannis verwunderter Blick ihm
folgte.
Er war zum
Sonderling geworden.