42
 
Es war kurz vor drei, als das Telefon ihn weckte. Als habe er nie ein anderes Empfinden gekannt, wich er vor dem Klingeln zurück wie vor einem Angriff. Aber ich brauche mich doch gar nicht mehr zu verstecken. Es ist doch vorbei. Er nahm ab und hörte Leskovs viel zu laute Stimme. Ob er ihn besuchen dürfe. Natürlich nur, wenn er ihn nicht störe. In Perlmanns Kopf begann es zu pochen, und in seinem vom Schlaf noch heißen Gesicht entstand ein trockenes Brennen, als sei er stundenlang in eisiger Winterluft gewandert.
«Bist du noch dran?»fragte Leskov.
Perlmann sagte, ein Besuch würde ihn freuen. Er wußte nicht, was er sonst hätte sagen können.
Der Himmel hatte sich überzogen, und es fiel ein leichter Regen aus einem hellen Grau. Die zweite Fassung. Der Regen fällt auf die gelben Blätter. Die Fahrt über Recco und Uscio würde höchstens eine Stunde dauern. Wenn er Leskov bald wieder los wurde, konnte er rechtzeitig dort sein, um die Blätter noch im Hellen aufzusammeln. Er holte den Autoschlüssel aus der Tasche des Blazers und zog die verschmutzte Jacke an. So war es unübersehbar, daß er auf dem Sprung war.
Kaum hatte sich Leskov in den roten Sessel fallen lassen, da holte er die Pfeife aus der Tasche und fragte, ob er rauchen dürfe.
«Ja, natürlich», sagte Perlmann. Er hätte es nicht zu sagen brauchen. Lieber nicht, hätte er statt dessen sagen können. Aus dem Munde eines Schonungsbedürftigen hätte das genügt. Zwei kurze Wörter. Er hatte sie nicht gesagt. Er hatte es nicht vermocht. Jetzt roch er den süßlichen Tabak. Er würde überall hängenbleiben. Er würde ihn tagelang riechen müssen. Er haßte diesen Russen.
Da habe er ihnen aber einen schönen Schreck eingejagt, sagte Leskov. Er habe natürlich sofort an seine Übelkeit auf der Fahrt und an die Aufregung im Tunnel denken müssen. Die anderen wüßten davon übrigens nichts. Er habe gestern abend nur vage etwas von Unwohlsein gesagt, um Perlmanns Abwesenheit beim Essen zu erklären. Die Einzelheiten, sagte er lächelnd, gingen außer sie beide ja sonst niemanden etwas an, nicht wahr.
Die Intimität, die er ihm mit dieser Bemerkung aufzwang, konnte nicht die Intimität der Erpressung sein. Perlmann wußte das, auch wenn sich diese Gewißheit noch sehr frisch und ein bißchen wacklig anfühlte. Trotzdem war es eine unerträgliche Intimität, und sie machte Perlmann so wütend, daß es ihm plötzlich gleichgültig war, daß der Regen stärker zu werden schien.
«Übrigens», sagte Leskov,«man hat mir inzwischen von dem Empfang im Rathaus erzählt. »Er lächelte.«Also waren es deine Medaille und deine Urkunde auf dem Rücksitz. Und jetzt verstehe ich auch die Krawatte, die da herumlag, als hättest du sie voller Wut nach hinten geschleudert. Das Ganze muß dir ja unheimlich peinlich und zuwider gewesen sein! Wir haben uns beim Mittagessen vor Lachen gebogen, als Achim die ganze Sache geschildert hat. »
Von Perlmanns Text war Leskov begeistert. Er sei letzte Nacht noch lange aufgeblieben, um ihn ganz zu lesen. Er habe nicht ganz alles verstanden, eine Reihe von englischen Wörtern und Wendungen fehlten ihm eben doch. Aber sowohl die Themen als auch die Art, sie anzupacken – das alles habe eine überraschend große Nähe zu seiner eigenen Arbeit. Es sei wirklich schade, daß Perlmann den russischen Text noch zu schwer gefunden habe. Sonst hätte er diese Nähe auch sofort erkannt. Den Titel habe er aber doch sicher verstanden?
Perlmann nickte.
«Wir sollten einmal einen Text zusammen schreiben!»sagte Leskov und berührte ihn am Knie.
Jedenfalls habe ihm Perlmanns Text Mut gemacht, hier über seine eigenen Dinge zu reden. Ein bißchen Bammel habe er nämlich schon gehabt. In einer derart illustren Gesellschaft. Er finde es ganz toll, daß man hier so offen sei und es keinerlei akademische Zwangsjacke zu geben scheine. Wenn ihm nur dieser schreckliche Lapsus mit seinem Text nicht passiert wäre. Er stieß hastig große Rauchwolken aus, die sich im Zimmer immer mehr zu einer geschlossenen Decke aus blauem Dunst verdichteten, die den ganzen Raum in Kopfhöhe durchschnitt.
«Ach so, das kannst du ja gar nicht wissen», unterbrach er sich und gestikulierte lebhaft.«Ich habe dir doch von der zweiten Fassung meines Texts erzählt, und davon, daß ich sie wegen dieses ärgerlichen Anrufs beinahe zu Hause vergessen hätte. »Leskov wartete, bis Perlmann nickte.«Und nun scheint es, daß genau das tatsächlich geschehen ist. Gestern abend nämlich, wie ich vom Essen zurückkomme, fasse ich ins Außenfach des Handkoffers, wo der Text hätte sein sollen. Aber da ist nichts. Einfach nichts. Leer. »Leskov preßte die Fäuste gegen die Schläfen.«Es ist mir ein völliges Rätsel. Ich könnte schwören, daß ich ihn im letzten Moment noch eingesteckt habe. Es war doch gerade das offene Außenfach, das mich daran erinnert hat. »
Perlmann öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und blickte nach Nordwesten. In dieser Richtung war es heller. Vielleicht blieb es dort oben trocken.
«Stört dich der Rauch auch wirklich nicht?»fragte Leskov.
«Überhaupt nicht», antwortete Perlmann in den Regen hinaus und blickte verstohlen auf die Uhr. Fünf nach halb vier.
Er habe die halbe Nacht daran herumgerätselt, fuhr Leskov fort. Und zwischendurch habe er das Gefühl gehabt, seine Erinnerung an das Einstecken des Texts sei vielleicht nur eine Einbildung, in deren Lebhaftigkeit einfach der starke Wunsch zum Ausdruck komme.
«Es ist sehr unangenehm», sagte er,«und nicht nur wegen des Texts. Es gibt mir das Gefühl, mich nicht mehr auf mich selbst verlassen zu können. Kennst du so etwas auch?»
Ja, sagte Perlmann und zündete sich umständlich eine Zigarette an, dieses Gefühl kenne er.
Er habe die Angewohnheit, sagte Leskov nachdenklich, daß er sofort etwas zu lesen beginne, wenn er warten müsse. Und deshalb überlege er nun schon die ganze Zeit, ob er den Text unterwegs etwa herausgenommen und irgendwo liegengelassen habe. Nicht in St. Petersburg, da sei es am Flughafen viel zu hektisch zugegangen. Und auch nicht auf dem Flug nach Moskau, wo ihn ein angetrunkener Kriegsveteran auf dem Nebensitz ständig belästigt habe. Bei Larissa und Boris dann sei er die ganze Zeit über von den Kindern in Beschlag genommen worden. Am Flughafen in Moskau vielleicht. Oder dann im Flugzeug. Oder in Frankfurt, als er auf den Anschlußflug gewartet habe. Es sei verrückt: Weil nicht die Spur einer Erinnerung an eine solche Handlung vorhanden sei, müsse er nun über sich nachdenken wie über einen Fremden, ganz von außen sozusagen. Dabei hoffe er inständig, daß alles, was er da denke, falsch sei. Zwar stehe am Schluß des Texts seine Adresse, das mache er ganz automatisch, selbst bei einem Manuskript. Aber er glaube nicht, daß sich jemand die Mühe machen würde. Am Moskauer Flughafen bestimmt nicht. Und in Frankfurt könne es niemand lesen. Vielleicht werde die Lufthansa etwas unternehmen, wenn der Text im Flugzeug gefunden worden sei. Andererseits: Eine Putzkolonne würde einen Stoß unleserlicher Blätter doch einfach zum übrigen Müll werfen.«Oder was meinst Du?»
«Ich... ich weiß es nicht», sagte Perlmann tonlos.
Leskov machte eine Pause und sah mit leicht verengten Augen vor sich hin. Perlmann wußte, was jetzt kam. Es gebe noch eine Kleinigkeit, fuhr er fort, die er sich kaum zu erwähnen traue, so lächerlich klinge sie: Im Reißverschluß des Außenfachs sei ein Stückchen Gummiband hängengeblieben. Das gehe ihm nicht mehr aus dem Kopf, denn es könne bedeuten, daß er den Text herausgenommen und dabei das Gummiband zerrissen habe, mit dem er zusammengehalten wurde. Er schlug sich mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn.«Wenn ich nur irgendeine Erinnerung hätte! »Nach einer Weile öffnete er die Augen und sah Perlmann an, der zu Boden blickte.«Entschuldige, daß ich dich damit belästige. In deinem Zustand. Aber du weißt ja, wieviel für mich von diesem Text abhängt. Ich habe schon versucht, zu Hause Freunde anzurufen, damit sie in meiner Wohnung nachsehen. Aber ich bekomme keine Verbindung. »Er legte die Pfeife auf den runden Tisch und verbarg sein Gesicht in den Händen.«Ich hoffe bei Gott, daß er dort liegt. Sonst... ich wage nicht daran zu denken. »
Der Regen hatte aufgehört. Perlmann ging ins Bad und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Waschbecken. Er zitterte, und sein Kopf drohte zu zerspringen. Ich muß die Blätter aufsammeln. Um jeden Preis. Fünf nach vier. Wenn Leskov bald ging, war es noch zu schaffen. Man kann diese Blätter auch in der Dämmerung noch erkennen. Er zog die Spülung. Dann machte er gegen das Zittern die Fäuste und ging zurück ins Zimmer.
Leskov stand. Er müsse jetzt wieder arbeiten, bis zu seiner Sitzung am Donnerstag bleibe ja nicht mehr viel Zeit.
«Wahrscheinlich liegt der Text einfach zu Hause. Anders kann es eigentlich gar nicht sein. Ich müßte doch sonst irgendeine Erinnerung haben. Irgendeine. »
Perlmann hielt seinem fragenden Blick nicht lange stand und ging voraus zur Tür. Bevor er hinausging, blieb Leskov dicht vor ihm stehen. Perlmann roch seinen Tabakatem.
«Meinst du, es ließe sich vielleicht ein Übersetzer für meinen Text finden?»fragte er.«Ich hätte ja doch gern, daß er von dir und anderen gelesen werden könnte. Besonders, nachdem ich jetzt deinen Text kenne. Die Bezahlung wäre natürlich ein Problem, ich weiß. »
«Ich werde darüber nachdenken», sagte Perlmann. Es kostete ihn eine enorme Anstrengung, die Tür sanft zu schließen.
 
Kurz danach verließ er das Zimmer und nahm nach einigem Zögern den Weg durch die Halle. Dort fing ihn Maria ab, die schniefend, mit einem Taschentuch in der Hand, aus ihrem Büro gelaufen kam. Ob es ihm wieder besser gehe? Sie höre von Signora Morelli, daß er überrascht gewesen sei, den Text verteilt zu finden, den sie am Freitag fertig gemacht habe.
«Bitte entschuldigen Sie, wenn ich da etwas falsch gemacht habe. Aber als Sie mir Freitag am Telefon sagten, es sei eilig, habe ich automatisch angenommen, das sei der Text für Ihre Sitzung, und deshalb habe ich die Kopieranweisung drangeheftet. Auch Ihren Namen habe ich, glaube ich, ergänzt. »
Die Leute von Fiat?
«Ach die», lachte sie und mußte sich schneuzen,«ich hatte nicht den Eindruck, daß da fürchterlich viel gearbeitet wurde. Und als ich etwas von Forschungsgruppe und wichtigem Text sagte, winkte Santini sofort ab. Ein patenter Typ. Ist schon oft mit Leuten hier gewesen. »Sie rieb sich die geröteten Augen.«Sie hatten zwar gesagt, Samstag mittag würde auch noch reichen. Aber dann habe ich gespürt, daß diese Erkältung im Anzug war, und habe das Ding noch am Freitag zu Ende geschrieben, um am Samstag im Bett bleiben zu können. Ach, Moment», sagte sie, bedeutete ihm zu warten und verschwand im Büro.
Wenn sie keine Erkältung bekommen hätte, wären die Fächer Samstag morgen leer geblieben und ich hätte Giovannis Versäumnis gleich entdeckt. Wenn der seinen Fehler allerdings nicht gemacht hätte, dann wäre ihre Erkältung meine Rettung gewesen.
«Hier», sagte Maria und reichte ihm das schwarze Wachstuchheft.«Ihre Sachen schreibe ich gern. Sie sind nicht so technisch wie die der anderen, und nicht so trocken. Das war schon bei dem anderen Text so, dem übers Erinnern. Und der hier hat außerdem diesen originellen Titel. Gefällt mir. Ist für Sie jetzt also wirklich nichts schiefgegangen? Hätte ich vielleicht den anderen Text noch einmal ausdrucken und kopieren lassen sollen?»
«Nein, nein», sagte Perlmann und mußte gegen die Hast in seiner Stimme ankämpfen,«Sie haben genau das Richtige getan. Mille grazie.»
 
Bei Licht betrachtet sah der Schaden am Lancia schlimm aus. Der dunkelblaue Lack war der ganzen Länge nach mehrfach aufgerissen, die Schrammen drangen bis tief ins Blech hinein, und beim Scheinwerfer vorne rechts war der Kotflügel kräftig zusammengestaucht worden. Perlmann nahm Krawatte, Medaille und Urkunde vom Rücksitz und tat sie zusammen mit dem schwarzen Heft in den leeren Handkoffer. Dann fuhr er los.
Er war noch nicht einmal bei der großen Hafenmole, da war ihm schon klar, daß er es jetzt nicht schaffen würde. Er schlotterte vor Schwäche, und seine Reaktionen waren grotesk verzögert, als arbeite das Gehirn nur im Zeitlupentempo. Unter den Blicken eines Polizisten hielt er im Halteverbot und trocknete sich den Schweiß von den kalten Händen.
Gerade als er wenden und zurückfahren wollte, fiel sein Blick auf das Hotel IMPERIALE am Hang oben. Irgend etwas war damit. Wieder machte das Gehirn eine gespenstisch lange Pause. Der Kellner. Ich habe ihn nicht abgewartet. Und ich habe nicht bezahlt. Also auch noch Zechprellerei. Im Vergleich zu allem anderen war das so lächerlich, daß Perlmann das Gesicht zu einem Grinsen verzog. Ganz langsam fuhr er zum Hotel hinauf und wartete vor der Einfahrt minutenlang auch noch den entferntesten Gegenverkehr ab.
Es war derselbe Kellner. Er maß Perlmann mit einem abschätzigen Blick. Das bleiche, unrasierte Gesicht. Die verschmutzte Jacke. Die blutbefleckte Hose. Die ungeputzten Schuhe.
«Ich habe gestern abend zu zahlen vergessen», sagte Perlmann und holte eine Handvoll Scheine aus der Tasche.
«Wir sind solche Gäste hier nicht gewöhnt», sagte der Kellner steif.
«Es ist ja auch nicht eine Gewohnheit von mir», sagte Perlmann mit einem müden Lächeln.«Es waren, glaube ich, ein belegtes Brot, ein Whisky und ein Mineralwasser. »
«Zwei Wasser», sagte der Kellner scharf.
«Entschuldigung. Ich war gestern nicht... nicht ganz auf der Höhe.»
«Das scheint mir auch so. Und ich würde sagen, wir können auf einen weiteren Besuch von Ihnen verzichten», sagte der Kellner und steckte die drei Zehntausend-Lire-Scheine einfach in die Tasche der roten Jacke.
Die beiden Dinge, der Rausschmiß und diese Bewegung, fügten sich in Perlmanns Empfinden zu etwas zusammen, was ihn auf sonderbare Weise befreite. Er sah dem Kellner mit unverhohlener Verachtung ins Gesicht.«Wissen Sie, was Sie sind? Un stronzo.» Und weil er nicht sicher war, ob dieses Schimpfwort auch stark genug war, fügte er, die wörtliche Übersetzung benutzend, hinzu:«Ein Arschloch. Ein ganz großes Arschloch.»Das Gesicht des Kellners verfärbte sich. «Stronzo», sagte Perlmann noch einmal und ging hinaus.
Auf dem Rückweg fuhr er sicherer, und auf einmal verspürte er richtig Hunger – eine Empfindung, die er in den letzten Tagen nahezu vergessen hatte. In einer Stehkneipe aβ er mehrere Stücke Pizza. Im Fernsehen hinter der Theke gingen gerade die Fünf-Uhr-Nachrichten zu Ende, und es wurde eine Wetterkarte eingeblendet. Perlmann starrte auf die Wolken östlich von Genua. Sie waren weiß, nicht grau. Aber das waren die Wolken auf solchen Karten immer. Oder?
«Kennen Sie die Straße von Genua über Lumarzo nach Chiävari?»fragte er den Mann im Unterhemd, der mit der langen Schaufel die Pizza aus dem Ofen holte.
«Sicher», sagte der Mann, ohne seine Bewegungen zu unterbrechen.
«Glauben Sie, daß es dort heute nacht regnet? Beim Tunnel, meine ich. »
Der Mann hielt abrupt inne, ließ die Schaufel halb im Ofen und drehte sich um.
«Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?»
«Nein, nein», sagte Perlmann schnell,«ich muß das wirklich wissen, es ist sehr wichtig. »
Der Mann im Unterhemd nahm einen Zug aus der Zigarette und sah ihn dann an wie einen ganz einfältigen, vielleicht auch gestörten Menschen.
«Mann, wie soll ich das denn wissen können?»sagte er milde.
«Ja», sagte Perlmann leise und ließ ein viel zu hohes Trinkgeld liegen.
 
«Dieses Gespräch gestern nacht», sagte Perlmann zu Signora Morelli, als sie den gelben Umschlag von Frau Hartwig und ein kleineres Kuvert vor ihn auf die Empfangstheke legte,«ich... »
Sie faltete die Hände und sah ihn an. Das winzige Zucken ihrer Mundwinkel konnte auch Einbildung sein.
«Welches Gespräch?»
Perlmann schluckte und verschob die beiden Umschläge, bis sie genau parallel zum Rand der Theke lagen.«Grazie», sagte er leise und sah sie an.
Ihr Nicken war nur eine Andeutung.
 
Das Zimmer roch nach Leskovs süßlichem Tabak. Der Dunst war abgezogen, aber gegen den aufdringlichen Geruch hatte das offene Fenster nichts auszurichten vermocht. Nur kalt war es jetzt. Perlmann kippte einen Berg von Pfeifenasche und angekohltem Tabak in die Toilette und schloß das Fenster.
Frau Hartwigs Umschlag enthielt zwei Briefe. Der eine war die Einladung nach Princeton, geschrieben auf teurem Papier, das an Pergament erinnerte, und unterzeichnet vom Präsidenten. Die Einladung erfolge aufgrund seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen, stand da. Und der Präsident versicherte ihm, es wäre für die gesamte Universität eine große Ehre, ihn für eine Weile zu Gast zu haben. Perlmann las den Brief kein zweites Mal, sondern steckte ihn sofort in den Umschlag zurück und warf ihn in den Koffer.
Das andere war eine Einladung zu einem Gastvortrag. Er sollte eine Ringvorlesung eröffnen, und die Veranstalter legten großen Wert darauf, daß gerade er der erste Redner sei. Es war in dem Brief von Arbeiten die Rede, die er bereits vor drei Jahren abgeschlossen hatte, die aber erst Anfang dieses Jahres im Druck erschienen waren. Damals, dachte er, schien noch alles in Ordnung zu sein. Nur gelangweilt hatten ihn seine Sachen immer öfter. Und ab und zu war er mitten in der Nacht aufgewacht und hatte nicht mehr weiter gewußt. Er hatte dann keine langen Selbstgespräche geführt. Überhaupt kamen bei diesen Gelegenheiten wenig Gedanken. Er hörte Musik, und meistens stand er dabei am großen Fenster. Agnes war dann überrascht, ihn so früh schon am Schreibtisch zu finden.
Im anderen Kuvert war eine Notiz von Angelini. Er müsse leider heute nachmittag bereits wieder nach Ivrea zurück. Er wünsche ihm gute Besserung. Hoffentlich sei es nichts Ernstes. Er werde versuchen, Freitag zum letzten Abendessen zu kommen, aber sicher sei es noch nicht. Er möge ihn doch auf jeden Fall vor dem Heimflug noch anrufen. Am Schluß stand seine private Telefonnummer.
Es waren freundliche Sätze, wenn auch konventionelle. Perlmann las sie mehrmals. Er dachte zurück an ihre erste Begegnung und die begeisterten Anrufe danach. Man konnte nicht sagen, daß aus diesen Sätzen hier Enttäuschung sprach. Überhaupt nicht. Auch nicht Distanz oder Kühle. Aber er spürte sie. Er, Philipp Perlmann, hatte sich als eine Fehlinvestition entpuppt.
Er stellte die Sechs-Uhr-Nachrichten an. Aber auf diesem Kanal brachten sie nur eine schematische Wetterkarte, die ihm nichts nützte. Für morgen keine größere Änderung zu erwarten. Die Straβen waren vorhin fast schon wieder trocken gewesen. Er ging zum Fenster. Jetzt in den sternenlosen Nachthimmel hinaufzustarren war zwecklos.
Er duschte lange und legte sich dann ins Bett. Das Kissen roch nach Leskovs Tabak. Aus dem Schrank holte er ein anderes. Auch das Laken und die Wolldecke rochen. Er zog das Laken ab und deckte sich mit Ersatzdecken aus dem Schrank zu. Die Heizung verstärkte den Geruch. Er stellte sie ab und öffnete das Fenster. Der Körper vibrierte vor Erschöpfung, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Tablette nahm er keine. In den Sieben-Uhr-Nachrichten sahen die Wolken in der Umgebung von Genua dichter aus als noch vor zwei Stunden. Draußen blieb es trocken. Er fror und holte die letzte Decke aus dem Schrank. Es war zu laut auf der Uferstraße, und er schloß das Fenster. Wenn er um halb sechs losfuhr, war er beim ersten Licht dort. Er stellte den Wecker auf fünf. Gegen acht schlief er ein.
Er sah keinen Bulldozer und auch keine Tunnelwände. Eigentlich sah er gar nichts. Es fand überhaupt kein Sehen statt. Es war einfach nur so, daß er nicht die Kraft hatte, die Hände vom Steuer zu nehmen. Er hielt es fest und drehte es nach links, immer weiter nach links. Es konnte sein, daß er selbst es war, der drehte. Oder es war zwar etwas in ihm, eine Kraft, ein Wille, aber er war ihm fremd und gar nicht wirklich seiner. Und vielleicht hatte sich das Steuer auch selbständig gemacht und führte seine Hand gegen seinen Willen. Er kannte sich nicht mehr aus, die Eindrücke überlagerten sich, und er wußte nicht, was von allem er am meisten fürchtete. Die Angst lähmte ihn vollständig, und er hatte das Gefühl, die Kontrolle über die körperlichen Funktionen zu verlieren, vor allem über den Unterleib. Das dauerte eine halbe Ewigkeit, in der er jeden Moment den Aufprall erwartete, und dann wachte er mit einem Zucken des ganzen Körpers auf, das etwas Furchtbares an sich hatte, etwas Unheimliches, denn auch es entzog sich völlig seiner Kontrolle, es war ein animalisches, ein biologisches Zucken, das aus einer ganz tiefen Region des Gehirns zu kommen schien.
Perlmann sprang auf und untersuchte die Matratze. Sie war sauber. Dann setzte er sich auf den Bettrand und rauchte. Von Zeit zu Zeit spürte er den körperlichen Nachhall einer Linksdrehung. Später zog er den nassen Schlafanzug aus und ging unter die Dusche. Es war kurz nach Mitternacht. Die Uferstraße war naß. Doch jetzt regnete es nicht mehr.
Während der nächsten Stunden wachte er in kurzen Abständen stets aus dem gleichen Traum auf, um dann von neuem einzudösen. Dieses Mal war es kein Alptraum, sondern eine lästige und lächerliche Verbindung von Dingen, die für den Träumenden in keinerlei Beziehung zueinander standen. Da war der Name Pian dei Ratti, der in so dichter Folge immer wiederkehrte, daß er wie ein stetiges Hintergrundgeräusch war, ein unaufhörliches Echo, das den inneren Raum bis in den letzten Winkel ausfüllte. Und dieser Name roch. Er war eingehüllt in einen Geruch von süßlichem Tabak und Nebel, es war, als klebe dieser Geruch an dem Namen, so daß der Name ohne den Geruch überhaupt keine Bedeutung hätte. Dadurch, daß der Name stets da war und hallte, fror man immer und mußte schniefend nach Münzen suchen, die einem fortwährend mit einem schmerzhaften Reiben durch die Finger rutschten. Die Schuhe kippten, und die Frauen lachten. Dann war alles voller gelber Blätter, und es nützte nichts, sich im Kofferraum ganz klein zu machen.
Perlmann wechselte das Pflaster am Finger. Die Entzündung begann abzuklingen. Bei jedem Aufwachen lüftete er. Draußen fielen nur wenige Tropfen. Der Traum hatte die Zuverlässigkeit und Monotonie einer Schallplatte, bei der die Nadel immer in derselben Rille läuft. Um halb fünf duschte er, rasierte sich und zog sich an.
«Buon giorno», sagte Giovanni, rieb sich die Augen und sah auf die Uhr.
Unter der Tür drehte Perlmann noch einmal um.«Dieses Ausgleichstor neulich, das zum Elfmeterschießen führte. Wer hat es erzielt?»
Giovanni verschlug es fast die Sprache.«Baggio», sagte er dann grinsend.
«Von welchem Club?»
Giovanni sah ihn an, als habe er gefragt, von welchem Land Rom die Hauptstadt sei.
«Juve. Juventus Turin. »
«Grazie», sagte Perlmann. Er spürte, wie Giovannis verwunderter Blick ihm folgte.
Er war zum Sonderling geworden.
Perlmanns Schweigen: Roman
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