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Ich weiß nicht, wozu der Stress gut sein soll. Vielleicht ist es noch das Adrenalin in meinen Adern, aber ich hab’s so eilig, aus der Garderobe herauszukommen, dass ich mir nicht mal die dicke Schicht Bühnenschminke vom Gesicht wische. Ich habe schon genug Zeit damit verschwendet, mein Kostüm gegen meine eigenen Klamotten zu tauschen. Jill umarmt mich auf ihre theatralische Weise. Ich spüre Tränen und höre sie flüstern, aber ich kann sie in dem Gekreische und Geschrei nicht verstehen. Ich mache mich von ihr los, lächelnd natürlich und mit einem »Bis morgen dann!«, aber sie kann mich genauso wenig hören wie ich sie, also beschließen wir das Ganze mit einem Lachen, und ich kämpfe mich durch die Menge, lächle wieder, ohne zu verstehen, was man mir sagt oder hinterherruft, und antworte trotzdem. »Super!« »Du warst spitze!« »Sorry!« »Cool!« »Sorry!« »Kann ich mal durch?« »Danke!« »Danke!«
Draußen klatschen sich ein paar jüngere Typen ab und rempeln sich an, während sie versuchen, sich in die Garderobe zu drängen. Ich schaffe es die Treppe zum Foyer der Aula hinunter. Am Abend der Premiere ist es natürlich brechend voll. Mam und Jimmy kann ich in der Menge nicht sehen. Sie warten wahrscheinlich draußen, denke ich, so einen Lärm hält Jimmy nicht aus.
Es gibt keine Abkürzung zum Ausgang, darum muss ich durch die Menschenmenge durch. Bekannte und unbekannte Gesichter tauchen vor mir auf, und ich versuche, höflich zu sein und hier und da ein paar Worte zu wechseln, aber es fühlt sich zunehmend absurd an. Die Schminke scheint zu einer grinsenden Maske erstarrt, die ich nicht mehr absetzen kann. Ich mag nicht, wie mein Herz rast, weil ich Angst habe, mein Gehirn rast hinterher. Ich habe immer noch erst die Hälfte des Wegs zum Ausgang geschafft. Denke ich jedenfalls. Jeder hier scheint mindestens einen Kopf größer zu sein als ich, und es ist so heiß, dass ich kaum Luft bekomme.
Jemand nimmt mich am Arm, und wir gehen schneller. Brian. Sean ist auch dabei. Sie sind nicht so rücksichtsvoll wie ich und benutzen die Ellbogen. Ich halte den Kopf gesenkt und tue so, als ginge es mich nichts an. Dann erreichen wir den Ausgang, und Brian stößt die Tür für mich auf. Eine frische Brise reicht, und ich kann wieder atmen.
»Sie warten am Schultor auf dich«, sagt Brian. »Du warst klasse, Mann.«
Sean legt mir den Arm um die Schultern und drückt mich.
»Toller Auftritt, Eala«, sagt er und lässt mich wieder los.
Brian berührt meinen Arm. Ich wünschte, ich müsste nicht gehen, aber ich muss.
»Ihnen wird kalt. Ich ruf dich später an, okay?«
Er gibt mir einen schnellen, halb verlegenen Kuss auf die Wange, während sich die Leute an uns vorbeischieben.
»Okay, alles paletti.«
Ohne es zu wollen, beschleunige ich meine Schritte, bis ich renne. Ich war noch nie so glücklich, aber auch noch nie so traurig. Das Rennen hilft mir, zwischen beidem eine Art Balance zu halten. Die Bodenlampen, die links und rechts die Bäume auf dem Weg zum Schultor anstrahlen, schaffen auch eine Art Bühne. Ich überhole ein paar Grüppchen Raucher, die es nicht eilig haben, dann kommt das Tor in Sicht. Mam steht neben einem der Pfeiler mit den Kugellampen. Jimmy sehe ich nur kurz, dann zieht er sich in den Schatten zurück. Mam breitet die Arme aus, obwohl ich zögere. Meine Beine sind wie aus Gelee. Sie hält mich, und ich drücke mein Gesicht in den Kragen ihres Mantels.
»Du warst so gut, Eala. Ich bin so stolz auf dich.«
»Es war das Schwerste, was ich je machen musste, ehrlich«, sage ich und spüre wieder den Schmerz, den ich gespürt habe, als ich mitten auf der Bühne kniend die letzte Strophe von »Somewhere« singen musste. Dass es Dereks Kopf war, den ich hielt, spielte keine Rolle. Ich habe sowieso nicht für ihn gesungen.
»Ich weiß, Liebes, ich weiß«, sagt sie. »Aber du hast es gemacht und hättest es nicht besser machen können.«
»Wird’s dir gut gehen, wenn er weg ist, Mam?«
»Ja, Eala«, sagt sie. »Es wird uns allen gut gehen. Jimmy auch.«
Immer mehr Leute kommen jetzt. Als wir uns loslassen, ist Jimmy wieder aufgetaucht. Er sieht gut aus in dem silbergrauen Hemd und einem neuen Tweed-Jackett, das Mam ihm gekauft hat. Er starrt mich an, als könnte er sich nicht erinnern, wer ich bin.
»Na, Jimmy«, sage ich.
Ein unsicheres Lächeln huscht über sein Gesicht, während er mich von oben bis unten mustert. Er schaut weg, dann schaut er mich wieder an. Und plötzlich weiß ich, was ihn so zögern lässt: Die Theaterschminke muss hier draußen in der Nacht gespenstisch aussehen.
»Du siehst anders aus«, sagt er. »Älter.« Sein Blick wandert hinauf zu den Kronen der Bäume, die eben zu knospen beginnen, und dann wieder herunter zu mir. »Du hast eine wunderschöne Stimme, Eala.«