34
»Na, Jimmy?«
»Alles klar?«
»Ich hab dich vermisst.«
Seine Haare sind geschnitten, ordentlich, aber nicht zu kurz. Er trägt ein silbergraues Hemd über einem Real-Madrid-Trikot. Ich küsse ihn auf die Wange und umarme ihn. Er wehrt sich nicht gerade, aber es ist, als wünschte er sich, dass ich ihn bald loslasse. Er setzt sich aufs Sofa und kramt ein gebrauchtes Papiertaschentuch aus der Hosentasche. Er will sich damit die Wange abwischen, dann zögert er.
»Judy hat erzählt, dass du erkältet warst«, sagt er. »Hoffentlich hast du mich jetzt nicht angesteckt.«
»Natürlich nicht«, sagt Mam. »Sie ist längst wieder gesund.«
Er ändert seine Absicht, meinen Kuss wegzuputzen, und steckt das Taschentuch wieder ein. Von irgendeinem Gedanken abgelenkt seufzt er, aber ein langes Gähnen bringt ihn zu uns zurück. Zu mir.
»Du bist ganz schön dünn geworden, weißt du das?«
»Danke, Jimmy. Ich nehm’s als Kompliment.«
Sean lacht nervös und eine Oktave zu hoch. Tom lacht, weil Sean lacht. Mam und ich lächeln nervös. Der Fernseher ist nicht eingeschaltet, aber Jimmy schaut trotzdem hin. Es ist ihm offensichtlich lieber, als uns anzuschauen. Im Kamin liegt nur Asche. Wir beruhigen uns wieder und sind alle verlegen. Dann setzen wir uns alle gleichzeitig in Bewegung.
»Okay«, sagt Mam. »Kümmern wir uns ums Abendessen!«
»Ich hab eine neue DVD für dich, Jimmy«, sagt Sean. »›Avatar‹ – schon gesehen?«
»Nein.«
»Ich hol sie gleich.«
»Muss Pipi! Pipi ’nell!«, kräht Tom.
»Ich bring dich«, sage ich. Anders als Mam und Sean hatte ich bis dahin keinen Plan, wo ich hinwollte. »Aber du hältst es so lange an, okay?«
Ich bin mit Tom schon halb im Bad, als mir klar wird, dass wir Jimmy allein im Wohnzimmer gelassen haben. Dann höre ich Stimmen. Er hat den Fernseher eingeschaltet. Die Stimmen werden leiser, und es beginnt der Wechsel der Kanäle. Fetzen von Musik, Gespräche, Soundeffekte – es könnten auch Bruchstücke von Erinnerungen sein. Nichts davon scheint ihn zu interessieren.
»’nell, ’nell!«, jammert Tom, und ich beeile mich.
Wir schaffen es gerade noch. An der Tür des Trockenschranks genau gegenüber der Toilette ist ein Spiegel. Es ist zu doof und ein Grund, warum ich mich auf der Toilette immer beeile, aber Tom liebt es, sich selbst auf dem Pott sitzen zu sehen, und lacht sich normalerweise scheckig. Heute schaut er gar nicht in den Spiegel.
»Jimmy traurig«, sagt er.
»Er ist nur müde, das ist alles«, sage ich, aber er ist nicht überzeugt.
Als er fertig ist, sehen wir nach, ob Mam in der Küche Hilfe braucht. Im Wohnzimmer läuft jetzt »Avatar«. Tom schließt sich den beiden vorm Fernseher an. Mam steht vor der kleinen Arbeitsfläche neben dem Spülbecken. Sie hat eine Karotte in der einen und einen Sparschäler in der anderen Hand. Keine der beiden Hände bewegt sich. An der nackten Wand vor ihr gibt es nichts zu sehen, aber sie starrt sie trotzdem an. Seit der Fahrt von Dublin hierher sieht sie nur noch erschöpft aus.
»Soll ich Kartoffeln waschen?«, frage ich, und sie gibt sich einen Ruck.
»Ja.« Sie schiebt sich mit dem Handrücken den Pony aus der Stirn. »Er sieht gut aus, findest du nicht? Mit dem Hemd. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn zuletzt in einem Hemd gesehen habe.«
Sie beginnt wieder, Karotten zu schälen. Sie konnte es immer perfekt, sodass sie nur lange, immer gleiche Streifen abschälte. Als ich klein war, machte es mich wütend, wenn ich es versuchte und einfach nicht hinbekam.
»Deine Hände sind noch nicht geduldig genug«, sagt sie dann. Jetzt sind es ihre Hände, die nicht geduldig genug sind. Kleine Schnipsel verteilen sich überall ums Schneidebrett, und die Hälfte der Schale bleibt an den Karotten.
»Er hat darauf bestanden, dass wir’s kaufen«, sagt sie. »Und als ich wissen wollte, was für eine Farbe, meinte er, das weiß er, wenn er’s sieht. Ich glaube, es hat mit dem alten Schwarz-Weiß-Zeitungsfoto von seinem Vater zu tun. Das Hemd darauf könnte blau, grün oder sonst was gewesen sein, aber auf dem Foto sieht es silbergrau aus.«
Meine Kartoffeln sind gewaschen. Sie beginnt, die Karotten in Scheiben zu schneiden, und ich wünschte, sie würde mehr auf das scharfe Messer achten, während sie mit ihren Gedanken ganz woanders ist.
»Er sieht darin … wie soll ich sagen«, sagt sie. »Er sieht irgendwie erwachsen aus.«
»Soll ich mit den Karotten weitermachen?«, frage ich, weil ich die Hoffnung, die ich aus ihrer Stimme heraushöre, nicht ertragen kann.
»Geh und schau dir den Film mit an!«, sagt sie. »Ich setz nur noch den Eintopf auf, dann komm ich nach.«
»Sicher?«
Sie nickt und wendet sich wieder den Karotten zu. Sie hackt mit dem Messer auf sie ein, dass der Toaster auf der Granitplatte wackelt. Ich höre die Geräusche noch im Wohnzimmer, wo Jimmy in seinem Sessel lümmelt. Er schaut nicht auf, als ich komme. Seine Augen sind auf den Fernseher gerichtet, aber er schaut nicht wirklich zu. Tom sitzt vor ihm auf dem Fußboden und hält den kleinen Fußball fest, den wir ihm gekauft haben. Ich setze mich neben Sean aufs Sofa. Wir sehen uns ein paar Sekunden lang an. Ich weiß nicht, was wir uns mit unseren Blicken sagen wollen. Jimmy holt Luft wie jemand, der todmüde ist. Ich frage mich, ob er wieder auf dem Hausboot ist und nur wartet, dass der ganze Wahnsinn von vorne losgeht.
Sean war letzte Woche in Martins Wohnung, um die Unterlagen abzuholen: Fotokopien der gefälschten und der echten Geburtsurkunde, Zeitungsausschnitte aus der Zeit der polizeilichen Untersuchungen 1972 und des Prozesses 1982. Als ich zum ersten Mal das Titelseitenfoto von Thierry und Cath sah, war ich verblüfft. Thierry sah kein bisschen wie Zidane aus. Er war groß, ja, aber dünn, schlaksig, mit dieser Spätsechziger-Afrofrisur. Am ähnlichsten waren noch die Augen, dunkel, schön und irgendwie unergründlich. Cath wirkte neben ihm winzig, und man konnte sehen, dass sie mal eine Schönheit gewesen war, aber es war schon kein Glanz mehr in ihren müden Augen, und ihre blonden Haare hingen in angefressenen Strähnen herunter.
Jimmy gähnt die ganze Zeit, und ich denke an die schrecklichen Dinge, die er durchmachen musste. Die dauernde Angst, die seine paranoiden Eltern ihm eingepflanzt hatten, den Horror der Nacht, als sie verunglückten und verbrannten. Ich denke daran, wie verrückt es ist, als Kind dauernd seinen Namen wechseln zu müssen. An den doppelten Wahnsinn, später noch mal eine neue Identität annehmen zu müssen, weil man ihm sonst die Jahre im Gefängnis angekreidet hätte. Für mich ist es ein Wunder, dass er so viele Jahre durchgehalten hat, ohne dass man ihm auch nur eine Spur von Verbitterung oder Wut auf die Welt angemerkt hätte. Er hat es nicht zugelassen, dass so was unser Leben vergiftete. Wer braucht Superhelden, wenn er so jemanden zum Vater hat?
Niemand schaut jetzt mehr den Film. Jimmy hat die Augen geschlossen. Tom ist auch müde. Sean schaut aus dem Fenster in die einsetzende Dämmerung. Aus der Küche hört man nichts, aber Mam ist noch nicht gekommen. Jimmy zuckt. Dann setzt er sich plötzlich auf und fingert an seiner Armbanduhr.
»Alles in Ordnung, Jimmy?«, fragt Sean und schaut wieder aus dem Fenster, als gäbe es draußen was Spannendes zu sehen.
»Scheiße, nein«, sagt Jimmy, und Tom zeigt mit dem Finger auf ihn und schüttelt den Kopf.
»Hau ab, Scheiße noch mal!«, sagt Jimmy.
»Seiße Jimmy«, sagt Tom und versucht, zur Küche zu flitzen, aber ich schnappe ihn mir.
»Es ist gut, Tom«, sage ich. »Jimmy macht nur Spaß. Und das hässliche Wort sagen wir nicht mehr, okay?«
Plötzlich hat Jimmy Tränen in den Augen. Er starrt Tom an, der ängstlich das Gesicht verzieht. Dann kommt Mam. Sie hat eine Hand zur Faust geballt und fest in ein Geschirrtuch gewickelt. Die andere presst sie gegen die Schläfe.
»Ist der Film gut?«
»Er ist Mist«, sagt Dad. Er steht zu schnell auf, und seine Augen irren durch den Raum. Die gespreizten Finger suchen tastend Halt an der Armlehne seines Sessels. »Alan muss nicht nach Limerick umziehen. Er darf im neuen Head-Up-Haus in der Stadt wohnen, warum darf ich das nicht?«
»Wir haben auf der Fahrt darüber geredet«, sagt Mam. Sie ist so blass, dass die leichte Röte um ihre Augen wie seltsame Wimperntusche aussieht.
Tom beginnt zu schreien.
»Du hast geredet«, sagt Dad. »Aber du hast nicht zugehört.«
Ich versuche, Tom zu beruhigen, aber er will zu Mam. Er läuft zu ihr, aber sie nimmt ihn nicht auf den Arm. Sean schaut wieder aus dem Fenster. Oder er findet das Spiegelbild dessen, was hier abgeht, leichter auszuhalten.
»Das hier ist dein Zuhause, Jimmy«, sagt Mam. »Wir sind deine Familie, nicht Alan.«
»Ich hab dir gesagt, dass ich nicht hierher zurückwill. Da kommt so ein Schmerz«, sagt Jimmy und schlägt sich so fest mit der Faust in den Magen, dass es mir wehtut. »Jedes Mal wenn ich hierherkomme, kommt der Schmerz da drin. Und in meinem Kopf. Ich gehör nicht in das Haus hier. Ich weiß nicht, warum, aber es bringt mich durcheinander. Ich komm mir vor wie …« Sein Gesicht verzieht sich zu einer verzweifelten Grimasse. »… wie ein Idiot. Als könnte ich nichts richtig machen, als gäb’s mit mir immer nur … Ärger. Wenn ich nicht hier bin, streitet ihr dann auch die ganze Zeit? Ja? Sag!«
Dann klingelt es an der Tür, und Sean ist mit einem Satz vom Sofa aufgesprungen und an mir vorbei, und irgendwie muss es da einen Sog geben, denn ich weiß zwar nicht, warum, aber ich folge ihm. Draußen steht Clem Healy und schaut von unter seiner Kapuze zu uns auf. Er zittert vor Angst und wirft immer wieder Blicke über die Schulter. Seine Unterlippe zittert, als könnte er jeden Augenblick losheulen.
»Was willst du?«, fragt Sean.
»Kann ich reinkommen?«
Er wischt sich die laufende Nase am Ärmel ab und tritt von einem Fuß auf den andern. Ich frage mich, ob er was von dem Pulver geschnupft hat, mit dem sein Vater handelt. Wahrscheinlich nicht. Seine Augen sind nicht unstet genug. Sie schauen eher traurig, so traurig, dass er einem fast leidtun könnte. Er hält einen MP3-Player fest, als wäre es alles, was er auf der Welt besitzt.
»Kann ich Mr Summerton sprechen?«
»Woher weißt du, dass er hier ist? Wie lange hast du unser Haus beobachtet?«
»Nur ein paar Tage. War er irgendwo anders?«
Ich sehe, wie viel Mühe es Sean kostet, seine Fäuste in Schach zu halten. Es zerreißt ihn fast. Clem sieht an uns vorbei. Vom Ende des Flurs starrt Mam ungläubig auf den Jungen, der unser aller Leben zerstört hat. Clem rutscht die Kapuze nach hinten und gibt seinen knochigen rasierten Kopf und seinen mageren Hals frei. Er scheint zu dem Schluss gekommen zu sein, dass ich die Einzige bin, die ihm zuhört. Er hält mir den MP3-Player hin.
»Ich konnt nicht kommen, als mein Dad noch da war«, erzählt er mir. »Der gehört Mr Summerton. Ich hätt ihn früher bringen sollen. Ich hab’s auch gewollt.«
Die Abendkälte ist in den Flur gedrungen. Ich nehme den MP3-Player. Clem senkt den Kopf. Das Display hat einen Sprung, und die Kopfhörer sehen aus, als wäre auf der einen Seite jemand draufgetreten. Sean nimmt mir den MP3-Player ab und sieht sich den Schaden an. Er versucht, das Gerät einzuschalten, aber nichts passiert. Es kommt mir selbst albern vor, aber ich bin immer noch traurig, dass wir nie erfahren werden, was der letzte Song war, den Dad gehört hat.
»Verschwinde, Clem!«, sagt Sean.
Der Junge weicht vor ihm zurück. Oder nein, es ist nicht Sean, vor dem er zurückweicht. Jimmy ist uns nachgekommen. Ich bin mir sicher, dass er nicht weiß, wer Clem ist, trotzdem ist er misstrauisch. Mam kommt zur Tür und legt die Hand auf die Klinke.
»Du solltest gehen«, sagt sie zu Clem, aber der beobachtet Jimmy, und seine Unterlippe beginnt wieder zu zittern.
»Es tut mir so leid, Mr Summerton«, sagt er.
»Was tut dir leid?«, fragt Jimmy und kommt näher.
»Dass ich Ihnen wehgetan hab.«
»Das warst du? Du hast meinen Kopf kaputt gemacht?«
Mam versucht, die Tür zuzuziehen, aber Jimmy macht einen schnellen Schritt nach vorn und gibt Clem eine Ohrfeige. Der Junge läuft nicht weg. Er wartet auf den nächsten Schlag, als hätte er gelernt, dass vor Schlägen abhauen keinen Wert hat. Jimmy holt noch einmal aus, aber Sean packt seinen Arm.
»Lass es, Jimmy«, sagt er beschwörend. »Er ist es nicht wert.«
Clem laufen jetzt die Tränen über die Wangen. Er gibt seltsam erstickte Laute von sich, als kämpfte er einen verzweifelten Kampf gegen alle Tränen, die sich in seinem kurzen unglücklichen Leben in ihm angestaut haben. Jimmy versucht, Sean abzuschütteln. Tom kommt mit seinem Fußball aus dem Wohnzimmer gerannt und bleibt wie angewurzelt stehen, als er Sean und Jimmy miteinander kämpfen sieht.
Er sieht plötzlich aus, als müsste er wieder auf die Toilette.
»Tom Angs’«, weint er.
Und Jimmy gibt auf. Er schaut auf Tom herunter und streckt die Hände nach ihm aus. Tom zuckt zusammen, aber er rennt nicht zu Mam oder mir. Er weiß nicht, was er tun soll. Seine Augen sind riesig groß, die flehenden Augen eines Kindes. Dann bemerke ich, dass Mam genauso aussieht. Wir sehen alle so aus, sogar das stotternde Häufchen Elend auf unserer Treppe.
»Hast du zu Hause noch jemanden?«, fragt Mam, während sie Tom auf den Arm nimmt, um ihn zu trösten.
»Nein. Wo sie Dad eingesperrt haben, ist Sham abgehauen. Vielleicht kommt jetzt Mam zurück.«
»Weißt du, wo sie lebt?«
Er schüttelt den Kopf. Jimmy hat sich zur Treppe ins Souterrain zurückgezogen.
»Wir werden sie finden«, sagt Mam, die Tom auf dem Arm hüpfen lässt, damit er sich beruhigt. »Geh nach Hause!«
»Danke, Mrs Summerton.«
»Ich hätte ihn nicht schlagen sollen«, sagt Jimmy, und Sean geht zu ihm.
»Es ist okay, Jimmy«, sagt er. »Du hast ihm nicht wehgetan. Stimmt’s, Clem?«
»Nein, mir geht’s gut, alles klar.«
»Ich hätte mich aus der Situation zurückziehen sollen«, sagt Jimmy.
Die Worte kommen ihm über die Lippen, als hätte er sie geübt. Wir trauen unseren Ohren nicht.
»Das ist das, was ich lernen muss, sagt Dr. Reid. Wenn du spürst, dass es stressig wird, zieh dich aus der Situation zurück, such dir einen ruhigen Platz, wo du sitzen kannst … und … und noch was …«
Er fingert an seiner Uhr, bis es piepst, aber ich erschrecke nicht, es macht mich nur traurig. Er dreht sich um und verschwindet auf der Treppe zu seinem Zimmer. Clem sollte auch verschwinden, aber er merkt es nicht.
»Ich hab’s gut gemacht, stimmt’s?«, fragt er Mam.
Sie gibt ihm keine Antwort, und er wendet sich wieder an mich.
»Ich hab’s doch gut gemacht?«
»Ja«, sage ich. »Das hast du.«
Jetzt endlich geht Clem die Stufen hinunter. Als er unten ist und ich schon die Tür zumachen will, bückt er sich und hebt Toms grünen Traktor auf. Er schubst die Vorderräder an und schaut zu, wie sie sich drehen. Als sie stehen bleiben, macht er’s noch mal. Er schaut zu mir hoch und lächelt wie ein Schaf. Wir treffen uns auf halbem Wege, und er gibt mir den Traktor.
»Eala?«, ruft Sean von drinnen. »Alles okay, Eala?«
»Alles paletti!«
Clem schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ich hab nicht gewusst, dass du Eala heißt«, sagt er. »Ich hab nicht mal gewusst, dass das ein Name ist.« Er schaut in die Richtung, wo der Unfall passiert ist. Man kann die Stelle von hier aus nicht sehen, trotzdem spüre ich, dass er sie gerade vor sich sieht. Ich weiß nicht, wohin das jetzt führen soll, aber ich weiß, dass es dort etwas geben muss, das zählt.
»Eala ist das irische Wort für Schwan«, erkläre ich ihm.
»Er wollte aufstehen, und ich hab seinen Kopf gehalten und gesagt: ›Nicht bewegen! Sie dürfen sich nicht bewegen!‹, aber er hat’s immer weiter versucht. ›Eala singt heute Abend‹, hat er gesagt. ›Eala singt heute Abend.‹ Ich hab nicht gewusst, was das heißen soll. Dann ist er ohnmächtig geworden, und eine Frau ist gekommen und hat geschrien: ›Du warst schuld, ich hab’s gesehen!‹, und da bin ich abgehauen.«
Ich bringe kein Wort heraus, und Clem denkt, ich verachte ihn dafür, was er getan hat.
»Ich kann nichts dafür, Eala«, sagt er. »Sham war hinter mir her, weil ich was zu billig verkauft hatte. Hab die Preise verwechselt und fünfzehn genommen statt fünfzig.«
Ich kann immer noch nichts sagen, und Clem dreht sich um und geht. Von der Straße schaut er noch mal zu mir her. Ich hebe die Hand und bekomme ein zaghaftes Winken zurück. Wie betäubt gehe ich die Stufen zur Haustür hinauf und sage mir, dass ich diejenige war, an die Dad zuletzt gedacht hat, und dass das genau die Art Kleinmädchengeheimnis ist, von dem ich dachte, dass es damit für immer aus sei, die Art Geheimnis, das man für immer bewahrt.
Mam und Sean stehen immer noch im Flur. Jetzt sind wir zu dritt. Ich bei der Haustür, Sean am Übergang zum Wohnzimmer und Mam bei der Tür zur Treppe ins Souterrain. Tom hat den Kopf auf Mams Schulter gelegt und die Augen geschlossen. Er atmet tief Mams Duft ein und nimmt ihn mit in den Schlaf.
Ich möchte zu Jimmy hinunter. Sean schaut in Richtung Mam, und ich ahne, dass er dasselbe vorhat. Aber wir alle wissen, dass es Mam ist, die runtermuss und eine Entscheidung treffen. Von draußen dringen die schaurigen, beinahe menschlichen Klagelaute einer Katze herein. Ich gehe zu Mam und hebe die Arme, um ihr Tom abzunehmen. Ich spüre, wie die Zeit mir die Arme wieder nach unten drücken will, und eine Sekunde wiegt schwerer als die andere. Sie legt mir Tom an die Schulter und geht die Treppe hinunter. Ich höre unten die Tür aufgehen und ihre sanfte Stimme.
»Jimmy?« Keine Antwort. »Jimmy? Wo …« Ich höre, wie sie durchs Zimmer geht, dann durch die Tür zu seinem Bad und einen gepressten Schrei.
»Kommt runter! Er ist weg! Er ist weg!«