11

Ich kann nicht glauben, was ich sehe, als wir in den Garten kommen. Brian liegt am Fuß der Mauer zu Mrs Caseys Garten. Er ist bewusstlos und blutet heftig aus der Nase. In einem Strauch an der Mauer hängt einer von Dads Turnschuhen. Ich kann Dad nicht sehen, aber immer noch hören. Er ist im Nachbargarten und heult mit Argos um die Wette. Dann hört man die hässlichen Geräusche eines Kampfes.

Sean kauert neben Brian. Er schreit.

»Brian! Wach auf, Brian!«

Dann springt er auf und schreit wieder.

»Jimmy! Komm da raus! Er reißt dich in Stücke!«

Er macht einen Satz, krallt sich an der Mauerkrone fest und zieht sich hinauf. Inzwischen bin ich bei Brian. Er regt sich nicht. Ich drehe ihn auf die Seite. Sein Nasenrücken ist schief, als wäre er gebrochen. Mam kommt mit Papiertaschentüchern und versucht, das Blut zu stoppen. Drüben bei Mrs Casey herrscht das pure Chaos.

»Jimmy, hör auf! Nein, schlag ihn nicht!«

In Seans Schreie mischen sich die von Mrs Casey. Sie lehnt sich aus einem Fenster im ersten Stock. Ihre gefärbten roten Haare stehen ab, als stünde sie unter Strom. Sie sieht aus wie eine wahnsinnige zahnlose Handpuppe.

»Raus! Raus aus meinem Garten. Lassen Sie meinen Hund in Frieden, Sie brutaler Mensch!«

Sean springt in ihren Garten, und ich ziehe mich auch an der Mauer hoch. Ich zerschramme mir die Knie am rauen Verputz, aber ich achte nicht darauf.

Sie kämpfen in der Mitte des überwucherten Rasens. Dad schwingt einen dieser langen Bambusstöcke, an denen man wuchernde Pflanzen festbindet. Er schlägt nach Argos, und der Schäferhund schnappt nach seinen Armen. An den Ärmeln seines weißen Real-Madrid-Trikots und überall auf dem Rücken des Hundes ist Blut. Dann ist Sean da und zieht Dad weg. Der Hund schnappt auch nach Sean, aber der weicht zur Seite aus. Dad schlägt wieder auf Argos ein.

»Ich rufe die Polizei!«, kreischt Mrs Casey und verschwindet im Innern des Hauses.

Sean hat Dad inzwischen fest im Griff und zieht ihn zur Mauer zurück. Argos bellt und knurrt noch, aber vom Kämpfen hat er offenbar genug. Ich lasse mich die Mauer hinunterrutschen. Mir ist schlecht. Was, wenn Mrs Casey wirklich die Polizei ruft? Was passiert dann mit Dad?

Brian sitzt jetzt, und Mam stützt ihn. Er ist wieder bei sich. Sie hält ihm ein ganzes Knäuel rot gefleckte Papiertaschentücher unter die Nase. Er ist blass und sieht aus, als könnte er gleich wieder ohnmächtig werden. Mam schaut in meine Richtung, aber über mich hinweg: Dad hängt halb über der Mauerkrone, und seine Trainingshose ist so weit heruntergerutscht, dass man seinen halben nackten Hintern sieht. Ich möchte schreien, so lächerlich ist das alles. Er versucht, seinen rechten Arm zu halten, und verzieht das Gesicht vor Schmerz. Mam starrt zu ihm hin, als wäre er ein Fremder.

»Eala, übernimmst du bitte Brian?«, sagt sie, als gäbe es keinerlei Grund zur Panik. »Sie müssen beide ins Krankenhaus.«

Ich nehme Mams Platz ein, und sie geht zu Dad, der es mit Seans Hilfe von der Mauer heruntergeschafft hat. Argos winselt, als führte er ein Selbstgespräch darüber, ob er den Kampf denn nun gewonnen hatte oder nicht. Brian ist so schlaff und zittert so heftig, dass ich seinen Oberkörper kaum aufrecht in Sitzposition halten kann. Seine glasigen Augen scheinen nichts zu sehen.

»Bist du okay, Brian?« Dumme Frage, aber was soll ich sonst sagen?

»Jimmy hat mich ausgeknockt«, sagt Brian, und natürlich habe ich das die ganze Zeit gewusst. Ich wollte es nur nicht wahrhaben.

Dad sitzt an die Mauer gelehnt und will weder aufstehen noch, dass Mam sich seinen verletzten Arm ansieht. Ich kann nicht hören, was er zu ihr sagt. Dann kommt Sean zu Brian und mir. Er kniet neben Brian nieder und sagt:

»Sorry, ich hätte dich nicht mit ihm allein lassen sollen.«

Brian sieht aus, als wollte er einen verschwommenen Gedanken zu fassen kriegen. Er wankt, aber ich halte ihn fest.

»Wir haben ein bisschen herumgekickt«, sagt er, »und auf einmal hat ihn das Bellen genervt. Und als Nächstes wollte er dann den Hund retten. Sie hält ihn gefangen, hat er gesagt, und ich wollte ihn aufhalten, aber …«

Jetzt bin ich es, der die Gedanken nicht auf die Reihe kriegt. Ich halte Brian fester, als es nötig wäre, weil sonst ich umkippen würde. Der ganze Irrsinn ist meine Schuld! Du bist müde, wirfst achtlos ein paar Worte hin, und dann passiert so was. Ich muss es Mam erzählen, ihr erklären, dass es einen Grund dafür gibt, dass Dad so ausgerastet ist. Dass es nicht sein Fehler war. Jedenfalls nicht nur.

Brian versucht aufzustehen, und wir helfen ihm. Er nimmt mir das feuchte Knäuel Taschentücher ab, und prompt läuft das Blut wieder und tropft ihm auf sein Che-Guevara-T-Shirt. Er wirft die Taschentücher weg und benutzt das T-Shirt, um das Blut zu stoppen.

»Ist Jimmy in Ordnung?«, fragt er.

Schau dir das blasse, zerschlagene, aber immer noch gut aussehende Gesicht noch mal genau an!, höre ich Angie sagen. Tus, denn es ist das Letzte, was du jemals von Brian Dunphy sehen wirst!

»Er hat eine Fleischwunde am Arm«, sagt Sean. Dann höre ich ihn leise »Psycho« murmeln. Gleich darauf dreht er sich um und schreit Dad an: »Du bist ein Psycho!«

»Sean, halt den Mund und hol die Autoschlüssel!«, sagt Mam.

Er stürmt ins Haus, und im nächsten Augenblick ist Dad auf den Füßen.

»Sean, hör zu! Ich wollte Argos befreien, und er hat mich angegriffen.«

Er hat den Schmerz vergessen. Sein Arm hängt regungslos herunter. Sein weißes Fußballtrikot und seine blaue Trainingshose sind voller Blut, Schweiß und Erde. Sein Gesicht ist auch schmutzig. Er sieht aus wie der betrunkene Dick, den wir früher am Tag getroffen haben, er hat sogar denselben bettelnden Blick.

»Judy«, sagt er. »Warum hat Argos mich angegriffen? Ich wollte ihn doch nur irgendwo aufs Land bringen, wo er hingehört.«

»Er hat’s nicht verstanden«, erklärt ihm Mam. In ihrer Stimme liegt nicht viel Wärme. »Wir müssen ins Krankenhaus, damit sie dich und Brian in Ordnung bringen.«

»Ich geh nicht zurück ins Krankenhaus«, protestiert er. »Du magst mich nicht mehr, darum geht’s, hab ich recht?«

»Es ist ein anderes Krankenhaus, und wenn sie dich verarztet haben, kommst du gleich wieder mit nach Hause, okay?«

Sie legt den Arm um ihn, und er ergibt sich. Dann taucht Sean an der Gartentür zu Dads Zimmer auf.

»In der Einfahrt steht ein Streifenwagen«, sagt er. »Was sollen wir machen?«

»Ich rede mit ihnen«, sagt Mam.

»Werden sie mich mitnehmen?«

Mam antwortet nicht. Sie macht sich von Dad los und lässt ihn stehen. Er ist verstört. Im Gehen richtet sie ihre Frisur und ihre Kleider, und ich bin nahe daran, sie zu fragen, wie sie in so einer Situation an ihr Aussehen denken kann. Vielleicht sieht sie es mir an, jedenfalls fange ich mir einen Eisesblick ein, als wollte sie sagen: Untersteh dich! Dann zieht sie das Handy aus der Tasche ihrer Strickjacke.

»Eala, bring Brian ins Haus und gib ihm einen Pulli!«, sagt sie. Und zu Sean: »Und du schaffst ihn rein und wäschst ihm den Arm!«

Ihn? Genauso gut hätte sie es sagen können, so kalt und bitter hat sie geklungen. Im Bernabéu ist es jetzt totenstill. Ich kann Argos’ keuchenden Atem hören und spüre, wie mich die abendliche Kälte packt. Unser Sommer ist vorbei.

Wir gehen hintereinander her in Jimmys Zimmer. Niemand spricht. Ich warte die ganze Zeit darauf, dass Dad sich bei Brian entschuldigt, aber er tut es nicht. Er sitzt in einem Sessel am Fenster, während Sean seine Wunden säubert. Sean ist nicht gerade zimperlich, aber ich sage nichts. Brian sitzt auf dem Bett, und ich wische ihm das Blut aus dem Gesicht und vom Hals. Ich passe auf, dass ich ihm nicht wehtue. Er hat sich zwei kleine Taschentuchstöpsel in die Nasenlöcher geschoben. In seine Augen kommt wieder Leben, und er sieht dämlich aus. Aber nicht hässlich. Ich helfe ihm in einen von Dads Reißverschlusspullis, und es ist, als würde ich ein erschöpftes Kind anziehen.

Draußen in der Einfahrt spricht Mam mit den Polizisten, die neben ihrem Streifenwagen stehen. Ihre Strickjacke spannt unter den vor der Brust verschränkten Armen. Ein paar Strähnen haben sich von der grünen, zu ihren Kleidern passenden Haarspange gelöst und bewegen sich in der leichten Brise, die inzwischen aufgekommen ist, vor ihrem Gesicht. Mam lächelt. Sie sieht unglaublich gut aus. Beide Polizisten sind jung und versuchen gar nicht erst zu verbergen, wie fasziniert sie von ihr sind. Schließlich gehen sie zu dritt hinüber zu Mrs Casey.

»Suchen Sie den Mann?«, fragt Dad im Flüsterton.

»Halt’s Maul, Jimmy!«, sagt Sean.

Ich stehe am Fenster und warte, dass sie zurückkommen. Oder wer weiß, vielleicht will ich auch nur Brian nicht anschauen, weil ich weiß, dass Angie recht hat und ich nicht mehr viel von ihm sehen werde. Für meinen Geschmack dauert es viel zu lange, bis die Polizisten wieder ins Auto steigen und langsam aus der Einfahrt manövrieren. Aber sie fahren noch nicht weg. Mam wartet draußen, sie schaut die Straße hinauf und hinunter, und ich frage mich, warum. Die Antwort lautet: Fiona Sheedys kleiner roter Toyota Starlet biegt in die Einfahrt.

Natürlich, denke ich, Tom. Jemand muss auf ihn aufpassen, während wir zum Krankenhaus fahren. Ich würde ihn lieber mitnehmen, aber das wäre nicht fair. Er hat schon genug mit Unfällen und Krankenhäusern zu tun gehabt. Wenigstens hat er die Geschichte heute verschlafen, und darüber bin ich froh. Du bist nicht mehr »die Zusatzüberraschung«, Tom, denke ich. »Die Zusatzüberraschung« ist jetzt Dad. Und der Himmel weiß, was die nächste Überraschung sein wird.

Mam kommt zum offenen Fenster neben dem Bett.

»Gehen wir!«, sagt sie. »Wir bekommen eine Polizei-Eskorte durch die Stadt. Wird bestimmt lustig.«

Noch nie hat sie in so einem zynischen Ton geredet. Ich höre die Polizeisirene heulen, obwohl die Polizisten sie noch gar nicht eingeschaltet haben.