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»Man sagt, für Männer sei es schwierig, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, und ich schätze, da ist was dran. Was allerdings das Musical betrifft, so müssen wir der traurigen Wahrheit ins Auge sehen, dass hier beide Geschlechter von dem Problem betroffen sind: Die guten Sängerinnen und Sänger sind keine guten Schauspielerinnen und Schauspieler, und umgekehrt ist es leider nicht besser.«

Miss O’Neill lehnt am Klavier vor der Bühne der Aula und hält uns mehr oder weniger dieselbe Rede wie letztes und vorletztes Jahr. Sie ist nur lockerer als sonst und klingt dadurch gleich viel freundlicher. Ein bisschen kommt es mir vor, als wollte sie uns vorspielen, wie ihr Leben sein könnte, wenn es nicht so wäre, wie es nun mal ist.

»Wir haben diesmal mehr Zeit für die Proben, deshalb werden wir uns in den ersten Sitzungen aufs Schauspielerische konzentrieren. Unser Ziel ist es, eine Rolle nicht nur zu spielen, sondern mit ihr eins zu werden. Wir fangen mit ein paar kleinen Rollenspielen an.«

Die haben wir allerdings letztes Jahr auch schon gemacht, und richtig was gebracht hat es nicht. Miss O’Neill klatscht in die Hände, als wollte sie Tote aufwecken, und ich spüre ein leichtes innerliches Zittern, wie so oft in letzter Zeit. Ich habe wieder mal keinen guten Tag.

»Michael, Marie und Jill – mit euch fangen wir an!«

Die drei schlurfen nach vorn, stehen da, starren auf den Boden und versuchen es Miss O’Neill recht zu machen, alles wie gehabt. Sie spielen Vater-Mutter-Kind, und die Eltern haben herausgefunden, dass ihre Tochter leider mit einem Hallodri ausgeht. Während ich ihnen zusehe, überkommt mich wieder das miese Gefühl, mit dem ich heute Morgen aufgewacht bin. Ich spüre einen festen Knoten im Magen und einen dumpfen Schmerz im unteren Rücken. Ich fühle mich wie zwischen Donnergrollen und dem Blitz, der erst noch kommen muss.

Ich frage mich, was ich eigentlich hier verloren habe. Welches Recht habe ich, zu singen und zu tanzen? Warum, um Himmels willen, habe ich die Hauptrolle angenommen? Wenn ich ganz ehrlich wäre, müsste die Antwort lauten: aus Wut. Aus einer stummen Wut, weil es Dad gut geht und ich wieder mal nichts dafür kann. Was geschehen ist, ist ohne mein Zutun geschehen.

»Wir haben einen Tagesplatz für ihn«, verkündete Mam vor ein paar Wochen.

»Wo?«, fragte ich.

»Sie nennen sich Head-Up-Centre«, sagte sie. »Schon mal gehört? Es ist eine Einrichtung speziell für solche Fälle, in dem Gebäude hinter dem alten Tanzsaal an der Rock Street. Er kann jeweils dienstags und donnerstags für ein paar Stunden hin.«

Ich kannte die Einrichtung nicht, aber mir gefiel der Name nicht, und was den Ort betraf, war ich mal wieder das kleine Mädchen von vor vielen Jahren, das sein Dreirad nicht sah, obwohl es direkt vor seiner Nase stand. Ich meine, ich war schon tausendmal in der Straße gewesen, aber ich hatte noch nie ein Schild oder sonst einen Hinweis auf dieses Centre gesehen. Oder war da gar kein Schild? Behandelten sie die Hirngeschädigten lieber im Verborgenen?

»Und was macht er da?«, fragte ich.

Die Kaffeebecher, die sie gerade spülte, wurden schon seit Jahren innen nicht mehr richtig sauber, und ausgerechnet jetzt sollten sie es komischerweise werden.

»Oh, zum Beispiel … Entspannungsübungen … Du weißt schon … sie lernen, miteinander umzugehen und … Die Sache ist die, dass sie keine öffentliche Unterstützung bekommen, das heißt, im Augenblick sind ihre Möglichkeiten noch beschränkt … aber sie sind dabei, mehr Geld aufzutreiben. Sie haben diesen Wohltätigkeitsladen an der Long Mall.«

In dem Laden war ich sogar ein paarmal gewesen. Ich hatte nur nicht gewusst, um welche Art von Wohltätigkeit es dort ging. Alles, woran ich mich erinnerte, waren der muffige Geruch der gebrauchten Kleider, die sie verkauften, und eine schmale asiatische Frau, die hinter der Theke saß und in einem Buch las. Jill war auch dabei gewesen und hatte sich geekelt. »Das könnten Kleider von Toten sein!« Sie steht allerdings auch mehr auf Sachen, die gerade angesagt sind.

»Fiona glaubt, dass er so weit ist.«

Ich trocknete gerade die Teller ab, die sie schon gespült hatte, und hätte am liebsten einen genommen und quer durch die Küche gepfeffert. Ich tat’s natürlich nicht. Stattdessen startete ich einen meiner vergeblichen Angriffe auf Miss U.

»Sie wird erst Ruhe geben, wenn Dad irgendwo weggeschlossen ist«, sagte ich.

»Bitte, Eala!«

Sie wischte sich mit dem nassen Handrücken über die Stirn, und ein paar Tropfen Wasser verirrten sich auf ihre Wangen. Die Tränen, die sie weinen sollte, aber nicht weint, hörte ich Angie sagen.

»Sieh mal, unser miserables Gesundheitssystem sieht wenig bis gar nichts für jemanden wie Jimmy vor, und genau da versuchen diese Leute einzuspringen. Ihm wird das helfen, was sie anbieten. Und uns auch.«

Sie redete noch weiter, aber ich hörte nicht mehr zu. Für mich klang alles, was sie sagte, wie eine Entschuldigung dafür, dass sie ihn dann noch weniger sehen würde als sowieso schon, seit sie wieder arbeitete. Ich hätte schreien können vor Wut, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich das Recht dazu hätte. Was tat ich denn für Dad? Nichts. Weil ich es nicht konnte. Oder nicht mehr. Jedenfalls machte er mich, wenn er in meine Nähe kam, nur aggressiv.

Sean kam an dem Abend spät wie immer, so gegen halb elf. Ich weiß nicht, wo er hingeht oder was er tut, seit er nicht mehr mit Brian abhängt. Und ich habe nicht den blassesten Schimmer, warum sie sich verkracht haben. Vielleicht ist es auch gut so. Jedenfalls trinkt Sean nicht mehr, und ich sehe auch nie Anzeichen dafür, dass er kifft.

An dem Abend kam er also gegen halb elf, setzte sich zu uns ins Wohnzimmer und sah so elend aus wie immer. Mam war immer noch aufgekratzt und kam bald wieder aufs Thema zurück: Wie eine Frau namens Foran die Einrichtung zwei Jahre, nachdem ihr Sohn ein Hirntrauma erlitten hatte, gegründet und nach und nach deren Angebot ausgebaut hatte. Wie die Rezession es natürlich noch schwieriger machte, an staatliche Gelder zu kommen, und so weiter und so fort. Ich sagte nichts. Aber meine Blicke signalisierten Sean, was ich von der Sache hielt. Er übernahm dann die Attacke.

»Er wird also mit einem Haufen Spastis am Tisch sitzen und Körbe flechten«, sagte er. »Und wozu soll das gut sein? Zu gar nichts. Du willst ihn nicht hier haben, darum geht’s. Dienstag und Donnerstag sind doch deine freien Tage, oder? Sehr praktisch, muss man schon sagen.«

»Untersteh dich, diese Leute Spastis zu nennen!«, zischte Mam.

»Hab ich doch gerade.«

Das erste Rollenspiel endet, als niemandem mehr etwas einfällt. Eltern und Tochter stehen nur noch da, sagen nichts und haben nicht mal Augenkontakt. Ich denke: Von allem, was sie in den zehn Minuten gemacht haben, kommt das der Wirklichkeit am nächsten.

»Okay«, sagt Miss O’Neill. »Das war schon sehr gut. Und jetzt Eala und …« Hinter mir wird gekichert und gelacht. Miss O’Neill klatscht wieder ohrenbetäubend laut in die Hände, und ich spüre einen Stich weit hinten im Gehirn. »… und Derek.«

Sie hatte ursprünglich zwei Kandidaten für die männliche Hauptrolle und hat lange geschwankt. Die Frage war, Benno Brophy oder Derek Rice. Benno ist einer von den stillen Typen, die ihr eigenes Ding machen. Er sieht gut aus, ist aber schüchtern. Ich vermute, dass er die Rolle gar nicht wirklich haben wollte, weil er einfach nicht gern im Rampenlicht steht. Derek dagegen ist verrückt danach. Er nimmt Tanz- und Gesangs- und Schauspielstunden, seit er laufen und sprechen kann. Letztes Jahr, als Brian für die Hauptrolle ausgesucht wurde, fing er sich kurz darauf einen Virus ein und konnte gar nicht mitmachen. So ist er. Entweder er steht im Mittelpunkt, oder er seilt sich ab.

Ich stehe auf und nehme meinen Platz neben Miss O’Neill ein. »Junge und Mädchen. Er ist zu ihrer Verabredung am Abend vorher nicht gekommen, sie weiß, dass er sich mit einer anderen getroffen hat. Eala, du bist der Junge. Und Derek, ernsthaft bitte und keine Mätzchen, ja?«

Aber er zieht schon die Schwulennummer ab: Hand auf der Hüfte, schlaffes Handgelenk und flatternde Wimpern. Wirklich überrascht bin ich aber nicht. Sein eigener Bruder, Frankie, der jetzt auf ein College in Dublin geht, ist schwul, und solange er noch hier wohnte, war Derek einer seiner fiesesten Peiniger.

»Du bist so originell, Derek«, flüstere ich ihm zu. Was nur dazu führt, dass er noch dicker aufträgt.

»Nicht – so – exaltiert – Derek!«, warnt Miss O’Neill, ein Wort frostiger als das andere.

Er tut, was sie sagt. Aber nur ansatzweise. Ich kann gar nicht sagen, wie mir sein Getue auf die Nerven geht. Jetzt redet er auch noch tuntig. Stopf ihm das Maul!, sagt Angie. Stich zu und dreh das Messer schön langsam um! Und ich tu’s.

»Frankie scheint nicht die einzige Tunte in eurer Familie zu sein. Gesangsstunden, Tanzstunden – alles ganz schön schwul für einen Kerl, findest du nicht auch, Derek?«

Er kann es nicht fassen, und ich selbst bin sprachlos vor Schreck. Noch nie hab ich so was von mir gegeben. Auch noch nie so gedacht. Jill wird meinetwegen rot und schaut weg. Ich weiß nicht, was ich jetzt noch tun oder sagen soll.

»Eala packt die Keule aus«, sagt Derek. Dann grinst er mich unverschämt an. »Man sieht sich immer zweimal.«

»Vielen Dank, die Herrschaften, für dieses kleine Lehrstück in Sachen Homophobie«, sagt Miss O’Neill.

Sie ist angewidert von dem, was ich gerade abgezogen habe, aber nicht halb so sehr wie ich selbst. Ich wünsche mir plötzlich, ich könnte ihr erzählen, was ich von Dads Vergangenheit erfahren habe, ihr sagen, wie ich an dem kühlen Abend im Bernabéu gezittert habe und seitdem innerlich weiterzittere. Aber ich kann es nicht.

»Okay, lassen wir’s für heute gut sein«, sagt sie. »Morgen Abend probieren wir’s noch mal. Vielleicht könnt ihr dann zur Abwechslung so tun, als wärt ihr Erwachsene.«

»Und Sie, Miss O’Neill, machen Sie auch mit? Wenn ja, als wer?«, fragt Derek.

»Ich lasse mir über Nacht das Gehirn amputieren«, sagt sie, während sie vom Klavierstuhl aufsteht, auf dem sie inzwischen sitzt, »und dann tue ich so, als wäre ich Derek Rice.«

Das findet er nicht witzig, aber er ist klug genug, nicht wütend zu werden. Die Hauptrolle ist ihm wichtiger als sein Stolz. Wir gehen auseinander. Jill folgt mir, und an der Tür holt sie mich ein. Wir haben seit Wochen nicht mehr miteinander geredet. Sie scheint sich auch jetzt nicht sicher zu sein, ob sie mit mir reden will, und ich mache ihr die Entscheidung nicht leichter. Ich sage nichts. Ich gehe einfach weiter. Sie wird die Graziella spielen, die Anführerin der Jet-Mädchen. Es ist eine Rolle, die Angie meiner vorziehen würde. Weil Graziella das stärkere Mädchen ist. Als Maria muss ich nur blödsinnig eifersüchtig sein.

Draußen auf dem Flur gehen Derek und seine Kumpel voraus, und er hat schon wieder Oberwasser.

»Die O’Neill ist eine alte Lesbe, ich wette, ihr ganzes Leben ist ein Rollenspiel«, sagt er.

Die Lacher seiner hormongesteuerten Kumpel hallen von den Wänden wider. Einer von ihnen haut einem anderen freundlich auf den Kopf, und die ganze bescheuerte Bande rennt aus der großen Eingangstür ins Freie wie Hunde, die nach einem Knochen jagen.

»Was für ein Haufen Loser!«, sagt Jill.

Wenigstens kommt sie mir nicht mit dem letzten Kapitel ihrer Win-und-ihr-kleiner-Schreihals-Geschichte. Ich mustere sie verstohlen von der Seite und merke, dass sie heute nicht die Drama Queen gibt. Sie strahlt eher Zufriedenheit aus. – So viel dazu, wie sehr sie den kleinen Waisen Richard vermisst. Ich hätte große Lust, ihre Seifenblase aus Zufriedenheit platzen zu lassen.

»Vielleicht sind wir alle Loser«, sage ich.

Sie lächelt. »Weißt du, was Win am meisten vermisst, seit sie nicht mehr an der Schule ist?«, fragt sie. »Erst heute Morgen hat sie’s wieder gesagt: dass sie nicht mehr beim Musical dabei sein kann. Schon witzig, oder?«

»Ist sie wieder da?«, frage ich und weiß im selben Augenblick, dass es ein Fehler war.

Als wir die große Eingangstür erreichen, drücke ich dagegen, aber zu meinem Ärger geht sie nicht auf. Dann übernimmt Jill, und es geht ganz einfach. Nach innen. Warum bin ich bloß so durcheinander? Und warum wird mir draußen in der Nachtluft auch noch schwindlig?

»Du wirst es nicht glauben, Eala«, sagt Jill, »aber es ist, als wären wir plötzlich eine komplett andere Familie. Alles dreht sich nur noch um Richard. Mam und Dad sind extra nach Dublin gefahren, um Win und ihn nach Hause zu holen. Stell dir vor, wir werden uns um ihn kümmern, während sie aufs College geht!«

Ich gebe mir keine große Mühe, begeistert zu klingen.

»Toll.«

»Ja«, sagt sie. »Dad strahlt nur noch, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kommt, und wenn Richard schon schläft, muss er trotzdem hin und wenigstens nach ihm schauen.«

Sie schnieft, und ich tue so, als würde ich es nicht bemerken. Es ist bitterkalt. Die Bäume auf beiden Seiten des Wegs zum Schultor sind kahl. Sie werden abends von unten angestrahlt und sehen in der Nacht so zerbrechlich aus, dass man sich fragt, ob sie die Kälte überleben. Mir ist kalt, wenn ich sie nur sehe.

»Ich muss …« Ein Stück hinter dem Schultor bleibt Jill plötzlich stehen. Sie wirkt nervös. »Ich treffe Benno an der Schwimmhalle«, sagt sie und schaut an mir vorbei zum Schultor zurück.

»Du bist mit Benno zusammen? Davon hast du mir gar nichts …«

»Ich hab dir jede Menge SMS geschickt, aber du hast dir offensichtlich nie die Mühe gemacht, sie zu lesen.«

Ich schaue auch über die Schulter, um zu sehen, was es da hinten Interessantes gibt. Die Schwimmhalle liegt nicht in der Richtung. Unter den Lichtkugeln auf den hohen Pfeilern des Schultors steht, die Hände in den Taschen, die Schultern eingesunken, das Kinn im Schal um seinen Hals vergraben: Brian. Tolle Pose, denke ich.

»Gehst du mit ihm?«, fragt Jill.

»Nein.«

»Lass es dabei, Eala, um deinetwegen lass es dabei!«

Jill biegt in den schmalen Weg in Richtung Schwimmhalle ein und hat es sichtlich eilig.

»Können wir reden?«, fragt Brian, der auf mich zugekommen ist.

»Nein«, sage ich, bleibe aber stehen und weiß nicht, warum.

»Über Sean«, sagt er.