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Martin ist seit einer Dreiviertelstunde hier, und Dad ist immer noch nicht aufgetaucht. Von unten ist nichts zu hören, und im Wohnzimmer wird es schwieriger, ein Gespräch in Gang zu halten. Mam versucht, interessiert auszusehen, wenn Martin mit immer noch einer Dad-Geschichte gegen die Stille ankämpft. Das ganze Getue um schöne Erinnerungen nervt sie. Sie hat’s mir gesagt. Dad zuliebe müssen wir nach vorn schauen und uns nicht mit der Vergangenheit aufhalten, so sieht sie das.
Ich sehe es anders. Ich möchte jede noch so kleine Geschichte über Dad hören. Ich sehe in letzter Zeit vieles anders als sie, aber das behalte ich für mich. Andererseits führe ich lange Streitgespräche mit Angie, der unsichtbaren Freundin aus meiner Kindheit, wenn sie was gegen Mam sagt. Wieso weint sie überhaupt nicht mehr, Eala?, fragt sie mich. Oder: Wieso verbringt sie so wenig Zeit mit ihm? Ich muss mit dieser Angie-Geschichte aufhören. Es ist zu verrückt. Besonders wenn ich ihrem Vater gegenübersitze.
Martin ist klein und drahtig und einer von den Leuten, die ständig mit dem Fuß wippen oder mit den Fingern auf Armlehnen oder Tische trommeln, und wenn nicht, müssen sie sich strecken, um ihre verspannten Nackenmuskeln zu lockern.
»Wir haben gegen Clonmel Town gespielt, das letzte Spiel der Rückrunde, und wir brauchten ein Unentschieden, um Meister zu werden«, erzählt er. »Wir liegen ein Tor zurück, und plötzlich ruft Jimmy …«
Mam hat Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen, und ich kann sehen, wie die von unten heraufdringende Stille sie quält. Auch Martin merkt, was los ist.
»Tut mir leid, Judy, ich rede Unsinn«, sagt er. Er zieht an einem Finger, bis es knackt, und der Schmerz treibt ihn in einen neuen Redeschwall. »Wir hatten nie Streit, Jimmy und ich, nie. Die ganzen Jahre nicht. Oder doch, ein einziges Mal. Aber davon ist nichts hängen geblieben.«
Mams hohe Wangenknochen überziehen sich mit einem dunklen Rot. Schwer zu sagen, ob sie verärgert ist oder verlegen. Die Situation wird immer schwerer auszuhalten: drei Menschen, die überlegen, was sie sagen könnten, ohne dass es peinlich wird. Martin versucht es wieder.
»Es ist eine Schande, wie wenig für Jimmy getan wird«, sagt er. »Wie soll er gesund werden, wenn er nicht alles bekommt, was er an Reha-Maßnahmen und Spezialbehandlungen …«
»Es geht ihm hier sehr gut«, unterbricht ihn Mam.
Manchmal hat sie diesen Ich-bin-euch-haushoch-überlegen-Blick. Von »Judys hauteur« sprach Dad, wenn er mal wieder seine Französischnummer draufhatte. Jetzt bedenkt sie Martin mit so einem Blick, und er weiß nicht, warum.
»Trotzdem, wenn ich irgendwas tun kann«, sagt er. »Wenn ihr noch jemanden braucht, einen Pfleger oder einen Betreuer, ich kann das übernehmen, kein Problem.«
»Es ist keine Frage des Geldes«, sagte Mam.
Ich verstehe nicht, warum sie ihn so behandelt. Er hat ausnahmsweise keinerlei nervöse Zuckungen.
»Eala, kannst du mal nachsehen, ob er kommen will?«
Martin schaut mich an, als wollte er mich fragen, was er falsch macht. Ich stehe auf und gehe zu Dads Zimmer. Auf der schmalen Treppe nach unten kann ich die bedrückende Stille beinahe körperlich spüren. Ich sehe das Flimmern des Fernsehers unter der Tür. Er ist also eingeschaltet, denke ich, und schlagartig wird mir klar, wie absurd es ist, dass ich zu Hause herumschleiche, als hätte ich Angst davor, was ich als Nächstes entdecke. Dann klopfe ich leise an die Tür und trete ein.
Dad lächelt, als wäre er froh, mich zu sehen. Ich kann sogar spüren, dass er sich freut. Vorsicht, sage ich mir im Stillen, er ist nur erleichtert, dass es nicht Martin ist! Brian und Sean sind auch da. Brian, der sich halb aus seinem Sessel erhoben hat, sieht aus wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb. Seans Blässe spielt schon leicht ins Grünliche.
»Alles klar, Eala?«, sagt Dad im Flüsterton. »Ist der Mann weg?«
Sean vergräbt das Gesicht in den Händen.
»Der Mann ist dein Freund, Jimmy«, sagt Brian und kassiert dafür einen Kümmer-dich-um-deinen-eigenen-Kram-Blick von mir.
»Er würde gern dein neues Zimmer sehen«, mache ich einen Versuch.
Dad scheint darüber nachzudenken, aber er fingert schon an seiner Digitaluhr. Als sie kurz piept, erschrickt er und springt auf. Die beiden Jungs und ich sind in Alarmbereitschaft.
»Ich muss aufs Klo«, sagt er.
Er geht in seinem komischen Gang in Richtung Bad. Immer noch zieht er alle paar Schritte den einen Fuß nach. Wir wissen nicht, was kommt, aber wenigstens kann er sich nicht im Bad einschließen. Es gibt weder einen Riegel noch einen Schlüssel, weil ihn selbst so einfache Dinge wie das Aufschließen einer Tür in tiefe Ratlosigkeit stürzen können. Als er im Bad verschwunden ist, legt Sean los.
»Jede Nacht fängt er damit an: ›Der Mann ist im Haus!‹ Ich frag ihn, wer der Mann ist, und er: ›Ich kann mich nicht erinnern.‹ ›Ist es Martin?‹ ›Ich weiß nicht.‹ Ich frag ihn, wo genau der Mann ist, in welchem Zimmer, und er: ›Oben irgendwo!‹ Jedes Mal sagt er das. ›Oben irgendwo!‹«
Zum ersten Mal fällt mir auf, dass Dad, seit er zu Hause ist, nie weiter oben war als im Erdgeschoss. Dann merke ich, wie Brian mich von der Seite anstarrt, und mir wird noch unbehaglicher, als mir sowieso schon ist.
»Ziehst du jetzt ganz hier ein?«, frage ich ihn.
Ich habe ihn noch nie rot werden sehen. Ich hätte nicht gedacht, dass er überhaupt rot wird. Aber wenigstens scheint die Röte schnell wieder zu verschwinden.
»Nur wenn du darauf bestehst«, sagt er und bereut es im selben Augenblick. Er ist nun dunkelrot angelaufen. Er kann mich nicht ansehen, und die Angie in mir wünscht sich, er täte es mit seinen braunen Augen und sähe jemanden anders als das kleine Mädchen, das ich mit meinen sechzehn Jahren noch bin, jemanden, den er toll findet.
»Ich helfe nur Sean«, sagt er. »Und Jimmy.«
Aus dem Bad dringt das Geräusch der Toilettenspülung. Kurz darauf steckt Dad den Kopf durch die Tür.
»Der Scheißreißverschluss klemmt«, sagt er mit einem blöden Grinsen. »Ich hab mir fast den …«
»Okay, Jimmy, wir haben verstanden«, sagt Sean und geht ihm helfen.
Die Fernbedienung für den Fernseher liegt auf halbem Weg zwischen Brian und mir auf dem Fußboden. Ich starre sie an, während sich Sean an Dads Reißverschluss zu schaffen macht. Aus den Augenwinkeln kann ich sehen, dass Brian die Fernbedienung auch anstarrt.
»Ist er weg, Eala? Der Mann?«, fragt Dad, als Sean fertig ist.
»Bald«, sage ich. »Du musst ihn nicht treffen. Vielleicht nächstes Mal?«
Dad zuckt mit den Achseln, und ich gehe zur Tür. Sean folgt mir und schließt die Tür hinter sich. Wir stehen am Fuß der Treppe, aber mir kommt es vor, als stünden wir am Grund eines ausgetrockneten Brunnens. Sean weicht meinem Blick aus.
»Was ist?«
»Könntest du heute Nacht unten schlafen?«, fragt er. »Ich brauch mal eine Pause. Ich bin fix und alle.«
»Du meinst, ihr müsst euch dringend mal wieder zuknallen?«
Er lehnt sich gegen die Wand, und ich sehe, dass er wirklich fertig ist.
»Es dauert Stunden, bis er einschläft, und der Hund drüben macht mich wahnsinnig mit seinem Gekläff die halbe Nacht.«
»Okay«, sage ich gedehnt, als wäre es ein Problem für mich. Aber es ist keins. »Aber bau keinen Mist, Sean. Bitte!«
»Bestimmt nicht. Ich hab’s Mam versprochen. Danke, Eala!«
Wann hat er sich zum letzten Mal bei mir bedankt? Hat er’s überhaupt schon mal getan? Wenn ja, kann ich mich nicht daran erinnern.
»Wir kriegen ihn wieder hin. Zu hundert Prozent«, sagt er. »Wir müssen.« Aber da ist ein Anflug von Angst in seiner Stimme, der mich erschreckt.
»So, wie wir alle wieder zu hundert Prozent sein werden, wie wir waren – träum weiter!«, sage ich und bin davon mindestens so überrascht wie er. Ich sehe, dass er erst antworten möchte und dann beschließt, seinen freien Abend lieber nicht aufs Spiel zu setzen. Er geht die Treppe hoch, und ich folge ihm.
»Ich sag Mam Bescheid, bevor wir gehen«, sagt er.
Aber kurz bevor wir oben sind, bleibt er plötzlich stehen. Wir bleiben beide stehen. Wir sind nur ein paar Schritte von der Wohnzimmertür entfernt. Sie steht einen Spaltbreit offen, und wir hören Mams Stimme.
»Das Leben geht weiter«, sagt sie. »Es hat keinen Sinn, sich mit der bescheuerten Schuldfrage aufzuhalten.«
Martins Stimme ist so leise, dass wir ihn nicht verstehen, aber was er sagt, scheint Mam nicht zu gefallen. Ich kann die Spannung zwischen den beiden bis in die Magengrube spüren. Sean drückt sich an mir vorbei die Treppe hinunter. Danke, Sean, du bist mir eine große Hilfe!
»Die Gerichtsverhandlung?« Ein Dezibel mehr, und Mam würde schreien. »Was soll die Gerichtsverhandlung auch nur für einen von uns ändern? Nichts. Überhaupt nichts. Meinst du, wegen so was schicken sie einen kaputten Jungen ins Gefängnis? Bestimmt nicht. Und wenn, wofür wäre das gut?«
Von unten schaut Sean zu mir herauf. Ich denke: Wenn der Junge ungeschoren davonkommt, dreht Sean durch. Dann nehme ich die letzte Stufe und erreiche die Tür im selben Moment, als Mam sie von der anderen Seite aufreißt und meinen Namen schreit.
»Eala!«
Dann sieht sie mich. Sie zieht mich zu sich, und es ist, als stieße man gegen eine Mauer, so steif ist sie. Hinter ihr im Wohnzimmer steht Martin und lässt hilflos die Schultern hängen. So könnte er ausgesehen haben, als er erfuhr, dass er Angie verloren hatte. In seinem Gesicht steht eine Frage, die ihm niemand beantworten kann.