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Weihnachten auf dem Town Square. Lichterketten über den Straßen und um die Schaufenster der Geschäfte. Musik schallt aus offenen Ladentüren und scheppernden Lautsprechern rund um den Platz. Es klingt, als käme alles vom selben Sammelalbum, und es gibt kein Entkommen, für niemanden. Wenn man lange genug bleibt, glaubt man irgendwann, es mit einer Endlosschleife zu tun zu haben. Ich bin schon lange genug hier.

Die Menschen haben es eilig, und ich stelle mir vor, wie ihnen die Kreditkarten rechteckige Löcher in die Taschen brennen. Überall dieselbe Botschaft: Glück zu verkaufen – aber Beeilung, bevor die Rezession noch ernster macht! Ich wünschte, ich hätte Brian gebeten, mich an einem anderen, ruhigeren Ort zu treffen. Ich hasse es, neben dem Eingang eines Fast-Food-Ladens zu stehen, den ich nie betreten würde. Im Übrigen geschieht es mir recht, wenn er nicht auftaucht. Er schien sowieso nicht gerade begeistert zu sein, mich zu treffen.

Wir hatten das Head-Up-Centre kaum verlassen, als ich Brian schon eine SMS schickte. KÖNNEN WIR UNS UM 18.30 VORM SUPERSNAX TREFFEN? Nach einer halben Stunde hatte ich eine Antwort – SICHER –, die mir allerdings mehr wie ein Achselzucken vorkam. Am liebsten hätte ich zurückgeschrieben: VERGISS ES! Dabei war ich nach mehreren SMS, die er mir in den Tagen nach unserem Spaziergang zum Fluss geschrieben hatte, sicher gewesen, dass er mich treffen wollte. HOFFENTLICH IST DIE SACHE MIT SEAN IN ORDNUNG oder MELDE DICH, WENN DU ZEIT HAST! BIST DU OKAY? – solche Sachen. Ich hatte nicht geantwortet, aber die SMS nicht gelöscht. Jetzt gerade lösche ich sie eine nach der anderen, und es klingt wahrscheinlich verrückt, aber das Handy kommt mir jedes Mal ein bisschen leichter vor.

»Na, Eala?«

Er ist so plötzlich aufgetaucht, dass mir fast das Handy aus der Hand gefallen wäre. Es ist nur nicht ganz der Brian, den ich kenne. Sein Kopf ist rasiert, und ich bin mir nicht sicher, ob ich es mag.

»Alles paletti.« Wenn ich nicht aufpasse, rutscht mir das manchmal einfach so heraus.

»Mein Weihnachtshaarschnitt«, sagt er, woraus ich schließe, dass ich meine Zweifel doch ein bisschen zu deutlich gezeigt habe.

»Es sieht anders aus«, sage ich.

»Mit anderen Worten, es gefällt dir nicht.«

»Haarscharf an der Wahrheit vorbei«, sage ich, was für meine Verhältnisse ganz schön schlagfertig ist. Er schaut lächelnd über den hell erleuchteten Platz. Man kann sehen, dass ihm der Weihnachtsrummel gefällt.

»Ich würde mir gern die Krippe in der Kathedrale anschauen«, sagt er. »Hast du Lust?«

»Das soll wohl ein Witz sein. Du bist kein religiöser Fanatiker, oder?«

»Natürlich nicht. Aber mein Großvater hat die ganzen Holzarbeiten für die Krippe gemacht, gleich als wir von Cork hierhergezogen waren. Er war ein verdammt guter Schreiner.«

»Na dann«, sage ich und spüre, wie seine Hand kurz meinen Rücken berührt, bevor wir uns gegen den Strom der Weihnachtsbummler in Richtung Kathedrale aufmachen. Ein Teil von mir denkt: Was glaubt er, wer er ist, dass er mich so berührt?, während sich der andere, der Angie-Teil, beschwert: Warum hält er mich nicht gleich richtig fest? Zum Glück gibt es um uns herum so viel Lärm, dass unser Schweigen auch ganz normal sein könnte. Angie warnt mich trotzdem: Verjag ihn jetzt bloß nicht mit deiner Unglücksgeschichte, Eala!

Wir steigen die Treppe der Kathedrale hinauf. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt hier war. Vorne im großen Kirchenschiff bewegt sich eine Schlange auf die Krippe hinter dem Altar zu, hauptsächlich junge Paare mit Kindern, glückliche Familien, die mir meine eigene Einsamkeit schmerzlich bewusst machen. Wir stellen uns ans Ende der Schlange. Vor uns steht ein kleines blondes Mädchen etwa in Toms Alter. Sie schaut immer wieder mit dem allersüßesten Lächeln durch die Beine ihres Vaters zu mir zurück. Ich möchte gern, aber ich kann mich nicht zu einem Lächeln aufraffen, was die Kleine erst neugierig macht und dann traurig werden lässt. Prompt fühle ich mich schlecht, weil ich ihr die Laune vermiest habe.

Wir erreichen die lebensgroße Krippe, und Brian schaut den Leuten vor uns über die Schulter. Auch mir gelingt es, hin und wieder einen Blick auf die grell bemalten Figuren zu erhaschen. Ich sehe Josef und Maria, ein paar Schafe, einen Esel. Dann führt mich Brian ins Innere, und wieder spüre ich seine Hand, diesmal auf meiner Schulter. Ich hatte damit gerechnet, das Jesuskind mit ausgestreckten Armen in der Krippe liegen zu sehen, so als würde es erwarten, hochgenommen und getröstet zu werden. Aber das kleine geflochtene Körbchen ist leer.

»Das Jesuskind ist gar nicht da«, rutscht es mir heraus.

»Es ist noch nicht geboren«, sagt Brian, und ich habe das komische Gefühl eines Déjà-vu. »Sie legen es erst am Weihnachtsmorgen hinein.«

Und jetzt fällt es mir wieder ein: Ich habe dieselbe Frage schon einmal gestellt und genau dieselbe Antwort erhalten. Ich weiß auch noch, wann: im Jahr des Dreirads. Und es ist keine schöne Erinnerung.

Es war Heiligabend, und Dad wollte mit Martin und den anderen Fußballern noch auf einen Drink in die Kneipe. Mit Mam war ausgemacht, dass wir uns alle an der Krippe treffen, und ich war doppelt enttäuscht, als er nicht auftauchte: kein Jesuskind in der Krippe und dann auch kein Dad. Dass Mam außer sich war, gehört zu dem Teil der Geschichte, bei dem ich mir hundertprozentig sicher bin, dass es sich genau so abgespielt hat. Beim Rest habe ich leise Zweifel, ob ich mir nicht Dinge einbilde, weil ich weiß, was ich inzwischen weiß. Beziehungsweise weil ich weiß, was ich alles nicht weiß.

Jedenfalls waren wir nach meiner Erinnerung früh wieder zu Hause, und Mam steckte uns in die Badewanne, damit uns der Weihnachtsmann nicht ungewaschen erwischte. Ich weiß noch, dass Sean und ich ganz aus dem Häuschen waren von ihren Geschichten, wie nah der Weihnachtsmann auf seiner Reise zu uns schon war. Und dann kam plötzlich Dad ins Badezimmer, total albern und ganz wackelig auf den Beinen. Er versuchte, Mam, die ihn kein bisschen komisch fand, zum Lachen zu bringen, aber es klappte nicht. Dann erzählte er uns, er hätte einen Schlitten am Himmel gesehen, und versuchte, Mam in den Arm zu nehmen und … Hat sie wirklich gesagt, woran ich mich erinnere? Warum musst du dich jedes Mal ausgerechnet an Heiligabend volllaufen lassen, Jimmy? Hier ist die Erinnerung zu Ende, keine Chance, mehr aus meinem Gedächtnis herauszuholen.

Aber angenommen, es war so – wie soll man es sich dann erklären? Trank er, um den Schmerz und die Einsamkeit der Heiligabende im Heim und im Gefängnis zu vergessen? Dass Weihnachten die traurigste Zeit für ein Waisenkind überhaupt sein muss, kann man sich ja vorstellen.

Ich fühle mich nicht mehr wohl und sehe zu, dass ich aus dem Gedränge herauskomme. Brian scheint es gar nicht zu bemerken. Ich spüre Panik in mir aufsteigen und denke: Warum bin ich nicht schnell nach Hause gegangen und hab noch eine von Dads Pillen genommen, bevor ich hierhergekommen bin? Mein Atem stockt, als hätte ich den Kopf unter Wasser. Als ich das Gedränge hinter mir habe, warte ich auf Brian. Er braucht länger, als mir lieb ist. Ich betrachte ein Bild an der Wand über mir. Es zeigt eine Station des Kreuzwegs. Die Jungfrau Maria hält den toten Jesus in ihren Armen. Ich würde am liebsten gehen, als Brian endlich kommt.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt er, und er sieht mich so aufmerksam an, dass ich mich abwende. Drama Queen, höre ich Angie sagen. Oder nein, es war nicht Angie. Ich sage mir, dass es gar keine Angie gibt.

»Können wir irgendwohin, wo es ruhig ist?«

»Es ist Weihnachten, Eala. Heute ist es nirgends ruhig.«

»Wir könnten es im Bridge Café versuchen.«

»Sicher«, sagt er. Aber er klingt enttäuscht.

Wir gehen über die Blackcastle Bridge, als uns eine Frau mit jeder Menge Einkaufstüten entgegenkommt. Wir lassen sie zwischen uns passieren und schließen die Lücke auch nicht wieder, als sie längst vorüber ist. Wir könnten Fremde sein, die zufällig gleich schnell in derselben Richtung unterwegs sind. Er denkt wahrscheinlich, was ich auch denke: Was zum Teufel tue ich hier?

Das Café heißt schon eine ganze Weile Le Pont, aber man nennt es immer noch Bridge Café. Der neue Name wird einfach nicht angenommen. Es ist klein und trotzdem nicht allzu voll. Wir finden sogar Plätze am Fenster zur Straße. Das Le Pont ist pseudo-französisch eingerichtet, mit rotweiß karierten Tischdecken und Kerzen auf den Tischen. Sie spielen Musik, aber wenigstens keine Weihnachtslieder. Edith Piaf singt gerade »Hymne à l’Amour«. Ich kenne es, weil Mam eine Piaf-CD besitzt, die sie eine Zeit lang dauernd aufgelegt hat. Sie sang immer mit, und Dad rief gespielt verzweifelt: »Wer hat die Katze ins Haus gelassen?« Manchmal jagte sie ihn dann mit dem Geschirrtuch und …

Lass das, Eala, das Leben von damals ist vorbeiaus, tot und begraben!

Ich verschränke die Arme aus Angst, meine Hände könnten zittern. Brian bestellt zwei Kaffee. Es sitzen vielleicht ein Dutzend andere Leute hier, hauptsächlich Paare, und alle sind mit sich selbst beschäftigt. Brian nippt an seinem Kaffee, und ich betrachte mein Spiegelbild im Fenster. Kurze dunkle Haare und eine Kapuzenjacke, große, Hilfe suchende Augen und ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Schon wieder Dad. Erst die Katze, jetzt das Regenwetter. Lass mich in Ruhe, Dad!

»Was ist los, Eala?«, fragt Brian.

»Ich hätte dir keine SMS schicken sollen«, sage ich. »Du kannst das hier nicht brauchen, und wahrscheinlich machst du dir sowieso nichts aus mir.«

»Du weißt, dass das nicht wahr ist.«

»Nein, eigentlich weiß ich es nicht.«

Er legt eine Hand mit der Handfläche nach oben auf den Tisch wie eine Einladung, und ich nehme sie an. Dann lege ich los, als hätte er mit einer Starterpistole geschossen.

»Wir waren im Head-Up-Centre, wo Dad ein paarmal in der Woche hingeht. Sie hatten dieses Benefizkonzert, und da war dieser Typ, ich weiß nicht, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, den haben sie vor einer Disco verprügelt, und jetzt geht er am Stock, aber der ist so was von genial am Klavier, und alles, woran ich denken konnte, war, dass Dad bitte nicht auch auf die Bühne kommen soll. Dabei war’s sonnenklar, dass er nicht kommt, weil er auch gar nichts mehr kann …«

Ich weine, und Angie kommentiert: Wow, was für eine Show! Vielleicht hat sie recht. Ich weiß gar nichts mehr. Vielleicht übertreibe ich wirklich.

»Und dieser Typ – Alan – spielt auch noch eine unglaublich coole, jazzige Version von ›Tomorrow‹, und mein Herz … Ich war überhaupt nicht mehr bei mir. Die ganze Zeit hab ich gedacht, dass ich diejenige sein sollte, die da oben für Dad auftritt, ich mit meiner roten Perücke, ich, die ›Tomorrow‹ singt, weil er’s an dem Unglücksabend ja verpasst hat. Und es war alles meine Schuld, weil ich nicht wollte, dass sie zur Aufführung kommen, erst am letzten Abend, und den hat es dann nicht mehr gegeben. O Gott, bin ich eine bescheuerte Drama Queen. Ich mach dir Angst, stimmt’s?«

»Du machst mir keine Angst«, sagt Brian und ergreift mit beiden Händen meine Hand. »Das mit deinem Dad tut mir so leid …«

Ich würde ihm gern auch von all dem anderen erzählen, was mir zu schaffen macht, aber ich habe mein Glück schon genug herausgefordert. Die Berührung seiner Hände fühlt sich zu gut an, als dass ich was riskieren möchte. Gerade ist noch ein Paar hereingekommen und hat sich an den Nachbartisch gesetzt. Mir sind sie zu nah. Sie sind mir auch einander zu nah. Sie geben sich Küsschen und kneten sich mit weit geöffneten Augen die Hände. Wahrscheinlich denken sie, die Begeisterung füreinander wird für immer anhalten. Martin und Kathleen müssen das auch mal gedacht haben. Mam und Dad auch.

Dann windet sich Brian auf seinem Stuhl und kramt ein kleines, flaches, in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen aus der Jackentasche. Er legt es neben meiner Tasse auf den Tisch.

»Zu Weihnachten«, sagt er. »Ich hoffe, es gefällt dir.«

»Aber … ich hab gar nichts für dich.«

»Ich hab auch nichts verdient«, sagt er.

»Warum sagst du so was?«

»Vielleicht bin ich auch eine kleine Drama Queen«, sagt er mit einem Lächeln. »Willst du’s nicht aufmachen?«

Ich tu’s, richtig ungeschickt, mit Fingern, die das Papier zerpflücken. Es ist ein silbernes Armband, viel teurer als das aus Perlen, das er mir vor so langer Zeit kaputt gemacht hat, dass ich es schon vergessen hatte. Und das hier wird auch kaputt gehen, sagt Angie. Alles geht kaputt. Was immer zwischen dir und Brian ist, es wird auch kaputtgehen. Irgendwann hat er deine Schniefgeschichten satt, und du und dein Dad, ihr tut ihm nur noch leid. Dann bringe ich sie endlich zum Schweigen. Ich nehm das jetzt, sage ich zu ihr, und es ist mir so was von egal, ob ers mir aus Liebe schenkt oder aus Mitleid, weil ich nicht klarkomme.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Brian.«

Er zuckt mit den Achseln, und ich weiß nicht, was ich tun soll, aber dann werde ich von Romeo und Julia am Nachbartisch inspiriert. Ich lehne mich vor und küsse ihn auf die Lippen.