32
»Alan Rice spielt diesen Zuckerpass, wo der Torhüter nicht weiß, soll er rauslaufen oder auf der Linie bleiben, und der Innenverteidiger schreit ihn an …«
Sean liegt mit den Händen im Nacken quer über dem Fußende meines Bettes und geht das komplette Spiel der Tipperary-A-Jugend-Liga durch, das sie früher am Nachmittag gewonnen haben. Sein erstes Spiel seit Monaten. Sie machen Boden auf den Tabellenführer gut. Es sind fünf Punkte Rückstand bei zwei noch ausstehenden Spielen. Das heute haben sie mit einem Tor in der letzten Spielminute gewonnen.
»… aber Brian sprintet dazwischen, spielt den Torhüter aus, und wir haben drei Punkte.«
Sean eben. Sensibel wie eine Bulldogge.
»Tom ist an der Seitenline rumgesprungen und hat Löcher in die Luft geboxt wie nicht ganz bei Trost. Es war toll, wieder mitzuspielen. Mir war gar nicht klar, wie sehr mir das gefehlt hat.«
»Das soll jetzt nicht zufällig ein Gleichnis sein, oder so?«
Sean hievt seine müden Glieder in eine aufrechte Position und schaut seiner rätselhaften Schwester in die Augen. Wir müssen dringend über Mam reden und über das Geheimnis, von dem sie noch nichts weiß, aber ich bringe es noch nicht fertig, davon anzufangen. Es ist, als stünde ich schon in voller Montur auf dem Basketballfeld und wäre so nervös, dass ich mir wünschte, es würde noch nicht angepfiffen.
»Seh ich wie Jesus aus?«, sagt er. »Wieso Gleichnis?«
»Dass ich zum Beispiel endlich aufstehen soll und aufhören, Trübsal zu blasen?«
»He, entspann dich! Ich hab vom Spiel gegen Saint Michael’s erzählt. Was ein Gleichnis ist, würde ich nicht mal erkennen, wenn ich mich aus Versehen draufsetze.«
Auf einmal komme ich mir kindisch vor. Als wir noch Kinder waren, versuchte ich manchmal einen kleinen schmutzigen Trick und haute ihm mit meiner knochigen Faust seitlich gegen den Oberschenkel. Es muss ziemlich wehgetan haben, und jetzt versuche ich es wieder. Er schreit auf.
»Au! Mensch, die tun so schon genug weh.«
Er verzieht das Gesicht und lacht, dann besinnt er sich auf seinen eigenen alten Trick und will mir das Ohr verdrehen. Ich ducke mich unter die Bettdecke, er folgt mir, und ich komme wieder unter der Decke vor. Er kommt mir nach, ich ducke mich wieder, und immer so weiter, der totale Quatsch, aber wir können nicht mehr aufhören, bis wir beide auf dem Rücken liegen und uns vor Lachen nicht mehr einkriegen. Aber als ich irgendwann wieder den Kopf hebe, setzt sich Sean auf und wird ganz ernst.
»Da ist was, was ich dir erzählen möchte, Eala.« Er kann sich offensichtlich nicht entscheiden, ob er auf dem Bett sitzen bleiben oder lieber im Zimmer herumlaufen soll. »Es hat mit … mit Win zu tun.«
»Lass, Sean!«
»Nein, es ist wichtig«, sagt er. »Also, Win hat ihren Eltern jetzt gesagt, wer der Vater ihres Kindes ist: der Typ, der das Altenheim leitet, in dem sie gearbeitet hat. Er ist verheiratet und hat Kinder. War verheiratet …«
»Woher weißt du das alles?«
»Von Brian«, sagt er. Dann untersucht er eine Schürfwunde an seinem Schienbein, und ich zucke zusammen, als er seine Trainingshose hochschiebt und ich sehe, wie hässlich die Wunde ist. Ihm scheint sie aber nicht viel auszumachen. »Er hat mir auch von der verbotenen Spritztour mit Sham Healy erzählt.«
»Und du kannst ihm das verzeihen?«
Er zuckt mit den Achseln und steht auf. Auf dem Weg zur Tür hinkt er erst ein bisschen, aber nach ein paar Schritten geht er wieder normal.
»Ich erzähl’s dir nur. Übrigens ist er immer noch interessiert, wenn du’s auch bist.«
»Nichts, was Brian sagt oder tut, kann wiedergutmachen, was mit Dad passiert ist.«
Er steht in der Tür, aber etwas hält ihn davon ab zu gehen. Er wirft nur einen schnellen Blick auf den Flur und die Treppe. Seine Hände sind tief in den Taschen seiner blauen Trainingshose vergraben. Erst jetzt fällt mir auf, dass er einen von Dads Trainingsanzügen der französischen Nationalmannschaft trägt.
»Ich nenn ihn nicht mehr Dad, nicht mal, wenn ich an ihn denke«, sagt er. »Ich nenn ihn Jimmy.«
»Seit wann?«
»Gestern Abend war ich bei Martin. Fiona war auch da. Sie ist mehr oder weniger bei ihm eingezogen. Na ja, wir haben eben über alles gequatscht.«
»Und sie hat dir gesagt, dass du ihn nicht mehr Dad nennen sollst?«
»Nein, so war’s nicht. Sie hat über Leute geredet, mit denen sie schon zu tun hatte und denen was Ähnliches passiert war wie uns. Sie hat was gesagt, das echt ins Schwarze getroffen hat, finde ich. Sie sagt, solche Leute kriegen die Sache mit ihrem Vater oder wem auch immer erst auf die Reihe, wenn sie diesen Menschen anders sehen, irgendwie so, als wäre er ein lang verschollener Onkel oder ein Cousin, den sie noch nie getroffen haben …«
»Für dich ist er jetzt also eine Art entfernter Verwandter?«
»Überhaupt nicht. Aber als ich nach Hause gekommen bin, ist mir eine von den Judge-Dredd-Geschichten eingefallen, und irgendwie war auf einmal alles klar.«
»Mit anderen Worten, du hast die Antwort in einem Comic gefunden.«
»Vielleicht, ja«, sagte er. »Judge Dredd hat doch diesen Klon – das heißt, eigentlich sind sie beide Klone, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls, dieser Klon, Rico, ist einer von den Bösen, und am Ende gibt’s den großen Showdown, und Judge Dredd killt Rico in diesem Apartmenthaus und …«
»Dad ist jetzt also einer der Bösen?«
»Natürlich nicht. Aber als dann die Rettungsleute kommen und Ricos Körper abtransportieren wollen, sagt Judge Dredd: ›Nein, ich mache das‹, und dann …« Sean schluckt, bevor er weiterreden kann. »… dann sagt er: ›He ain’t heavy, he’s my brother.‹«
»Das war ein Popsong, stimmt’s?«, sage ich. »Er ist auf einer von Dads Oldie-CDs.«
»Ja. Es ist kitschig irgendwie, ich weiß. Aber es ist trotzdem wahr. Ich meine, man will vielleicht nicht sein ganzes Leben mit seinem Bruder verbringen, aber man würde für ihn durchs Feuer gehen, oder?«
Ins späte Nachmittagslicht draußen mischt sich ein Hauch von Bronze. Von weit entfernt sind die Geräusche eines geschäftigen Sonntags auf dem Town Square zu hören. Meine Beine und Arme sehnen sich danach, gestreckt zu werden. Sean steht immer noch in der Tür. Es ist fast so, als wüsste er, dass wir noch nicht miteinander fertig sind.
»Sean, ich denke, wir sollten ihr erzählen, dass Dad im Gefängnis war.«
Er scheint kein bisschen überrascht zu sein. Er nickt.
»Sie ist sowieso nah dran, es rauszufinden«, sagt er, und mir geht es anders als ihm. Ich bin überrascht. »Die Detektei ist der Spur Georges Durars nachgegangen und hat auch was über den Prozess rausgekriegt. Martin wollt’s ihr schon erzählen, aber ich hab ihm gesagt, dass ich das übernehme. Ich finde, es ist meine Sache irgendwie.«
»Wir erzählen’s ihr zusammen«, sage ich, und er ist einverstanden, vielleicht sogar froh.
Schwer vorzustellen, dass wir jemals wieder aufeinander losgehen werden, wie wir’s so lange getan haben. Aber Zoff wird’s natürlich immer mal geben. Wie überall. Von ganz unten hört man es trampeln, dann schlägt eine Tür zu, und jemand spielt mit einem Ball. Tom.
»Sean! Fu’ball ’pielen! Fu’ball!«
»Ich komme!« Sean verdreht die Augen, aber er lächelt dabei. »Weißt du, was ich gedacht habe? Dass ich jetzt für drei Länder spielen kann: Irland, England und Algerien. Vielleicht sogar Frankreich. Cool, was?« Er lacht. »Obwohl wir natürlich erst die Tipperary-Liga gewinnen müssen.«
Dann ist er weg, ein Trommelwirbel auf den Treppenstufen, der noch in mir nachhallt, als er längst unten angekommen ist. Es ist Zeit, sich wieder unter Menschen zu begeben. Zeit, Jill anzurufen, um zu sehen, wie es ihr nach der neuesten Wendung im Drama um ihre Schwester geht. Wir haben in den letzten Tagen ein paar SMS hin- und hergeschickt, und fairerweise muss ich zugeben, dass sie Win kein einziges Mal erwähnt hat. Eigentlich hatte ich gedacht, es würde Wochen dauern, bis ich die Energie aufbringe, mit ihr zu reden. Und ehrlich gesagt habe ich für den Anruf auch noch einen anderen Grund.
Ich war zwei Wochen nicht mehr in der Schule, und weil ich weiß, wie wichtig Miss O’Neill die Musicals nimmt, glaube ich kaum, dass sie mich noch mitmachen lässt. Noch weniger ist zu glauben, dass ich wirklich wieder auf die Bühne will, aber genau das will ich. Die Songs kommen mir schon wieder von allein in den Sinn. »Tonight«, »Somewhere«, »I Feel Pretty«. Also scrolle ich Jills Nummer und rufe an. Erst kann sie gar nicht sprechen. Ich höre es eine Weile schluchzen und schniefen und dann nichts mehr.
»Jill, bist du das? Jetzt wein doch nicht!«
»Oh, Eala, ich bin so froh, dass du nicht …«
Das Schluchzen und Schniefen beginnt von vorn. Treib mich nicht wieder unter die Bettdecke, Jill!, denke ich.
»Dass ich was nicht, Jill?«
»Du weißt schon … dass du keine Überdosis …«
»Ich wollte mich nicht wegknallen. – Ist es das, was sie über mich sagen?«
»Du warst so ganz anders, dass ich nicht wusste, was ich denken soll.« Wieder eine Pause mit Schluchzen. »Du Arme hast so viel durchmachen müssen.«
So bemitleidet zu werden nervt mich. Trotzdem kann ich ihr nicht böse sein. Ich hab so schreckliche Dinge über Win und ihr Baby gesagt, und sie hat mich nie aufgegeben.
»Jill, hör zu, du warst gut zu mir, das vergess ich dir nicht, aber jetzt tu mir den Gefallen und bemitleide mich nicht«, sage ich. »Ich möchte nicht mit dem Wort ›Opfer‹ auf der Stirn herumlaufen, okay?«
»Klar.«
»Also, wie geht’s Win?«, frage ich, weil ich weiß, dass sie das möchte und es ein fairer Deal ist.
Jill zögert. Es ist, als wollte sie mir ihr Herz ausschütten, hätte aber Angst, ich könnte wieder ausrasten.
»Sie ist zurück nach Dublin, und Dad ist, nun ja, so, wie er immer war. Sogar noch schlimmer. Diesmal will er nicht mehr mit ihr sprechen, weil sie den verheirateten Typen nicht um Unterhalt angehen will. Es ist ein großes Durcheinander.«
Zu meiner Überraschung belässt sie es dabei und seufzt nicht weiter wie sonst immer.
»Wie geht’s mit den Proben?«, frage ich und bin blödsinnig nervös dabei.
»Bestimmt besser, wenn du wieder da bist.«
»Aber ich bin schon so lange draußen. Hat Miss O’Neill die Rolle nicht neu besetzt?«
»Nein … noch nicht. Sie sagt, sie wartet damit bis zu den Ferien.«
»Wahrscheinlich tu ich ihr auch leid.«
»Eala, die Rolle ist wie für dich gemacht.«
»Ja, für mich die kleine Drama Queen.«
»Genau«, sagt sie, und ich muss lachen. »Kommst du am Montag in die Schule, Eala? Sag, dass du kommst!«
»Ja«, sage ich. »Ich kann’s gar nicht erwarten, endlich wieder Buchhaltung zu haben.«
Ich kann mich nicht erinnern, wie lange es her ist, dass ein Gespräch mit Jill nicht im Streit geendet hat. Es fühlt sich gut an, nicht mehr kämpfen zu müssen. Nicht mit Jill und nicht mit mir.
Also bin ich, wenn ich will, immer noch dabei. Ich krieche noch für eine Weile unter die Decke und tauche in die wohlige Wärme ein, von der ich schon vergessen hatte, dass es sie gibt. Das Glück dauert ungefähr sechzig Sekunden, dann höre ich Tom die Treppe heraufkommen. Niemand kann mit so wenig Armen und Beinen so viel Lärm machen. Dann ist er an meiner Tür. Er ist eine einzige kleine Kugel Schweiß, seine Haare sind ein nasser Wischmopp. Seine Augen sind so groß, als sähe er überall nur wahnsinnig aufregende Dinge.
»Fu’ball ’pielen?«
»In fünf Minuten bin ich unten, okay?«
Ich stehe auf und ziehe die muffige Bettwäsche ab. Dann öffne ich das Fenster und schüttle die Teile eins nach dem andern aus. Staub fliegt auf, kleine Partikel, die eine leichte Brise zum Tanzen bringt.