16

Als ich sah, dass Mam Fiona Sheedy mitnehmen wollte, sagte ich, ich würde mit Martin im Mercedes mitfahren. Sean saß da schon auf dem Rücksitz unseres Autos. Der Parkplatz des Gerichts liegt an einer Einbahnstraße, und wir haben den Feierabendverkehr erwischt. Mir macht die Verspätung nichts aus. Ich hab’s nicht eilig, nach Hause zu kommen.

Martin fährt schon immer diesen dicken Mercedes, und als ich noch klein war, bin ich wahnsinnig gern bei ihnen mitgefahren und habe so getan, als wäre ich eine Prinzessin oder sonst ein Filmstar. Ich mochte es, wie diese Autos dahinglitten, wie leise sie im Vergleich zu unserem klapprigen Kombi waren. Ich saß auf dem Rücksitz und quasselte nonstop mit meiner unsichtbaren Freundin. Einmal drehte sich Kathleen vom Beifahrersitz um und fragte, wie meine Freundin denn heiße, und ich sagte in aller Unschuld, ihr Name sei Angie. Was immer sie und Martin in dem Augenblick dachten, keiner von beiden kann böse geworden sein, sonst hätte ich wohl nicht alles andere von diesem Ausflug vergessen. Und sie hörten auch nicht auf, mich nach Strich und Faden zu verwöhnen.

Zurzeit haben wir vieles gemeinsam, Martin und ich. Er dachte, er wäre Dads bester Freund, aber Dad hat immer noch Angst vor ihm. In den letzten Wochen hat er zweimal versucht, das Eis zu brechen, aber es hat nichts gebracht. Ganz genauso ist meine kindische Idee, ich wäre Dads Liebling, wie eine Seifenblase zerplatzt. Sicher, ich hatte mehr Zeit mit ihm verbracht als Sean, auch mehr mit ihm gesprochen. Aber jetzt kommen mir all diese Stunden wie verpasste Gelegenheiten vor.

Wenn ich mich zu erinnern versuche, was ich über seine Kindheit weiß, fallen mir immer nur ein paar lustige Begebenheiten ein, denn mehr hat er nie erzählt. Die Geschichte, wie er und seine Kumpel beim Äpfelklauen erwischt wurden, weil der Obstgarten hinter der Mauer tiefer lag als die Straße draußen und sie nicht wieder zurückklettern konnten. Oder wie sie mal einen ihrer Kumpel überredeten, mit dem Schirm von einer hohen Mauer zu springen, um zu sehen, ob der Schirm als Fallschirm taugte. Er tat’s nicht. Der Kumpel hat sich den Knöchel verstaucht und den Ellbogen verschrammt. Solche Sachen.

Wir bewegen uns stockend auf die Einmündung in die Hauptverkehrsstraße zu. Der Himmel über den Straßenlaternen färbt sich dunkel. Wir fahren ein Stück und werden gegenüber dem Einkaufszentrum vor der Einmündung wieder aufgehalten. Ich starre auf das mehrstöckige Parkhaus daneben, und plötzlich fällt mir eine Situation mit Dad vor sieben, acht Jahren ein. Als er mich garantiert belogen hat.

Es ging um noch so eine lustige Begebenheit. An dem Tag, als er sie mir erzählte, war er in Cork gewesen, um ein paar Leute zu treffen, mit denen er an einem kleinen Zeichentrickfilm arbeitete. Er war um sechs Uhr morgens losgefahren und kam erst gegen Mitternacht zurück. Ich hatte mir den ganzen Tag Sorgen gemacht. Damals hatte ich diese fixe Idee über Parkhäuser. Wenn wir irgendwo waren und in so einem Parkhaus parkten, kriegte ich Panik, dass wir nicht rechtzeitig herauskamen, bevor das Parkhaus zumachte. Ich hatte Angst, dass wir über Nacht eingeschlossen wurden. Dad besaß damals noch kein Handy, und ich hatte mir den ganzen Tag vorgestellt, wie er weit weg von zu Hause in einem dunklen, verschlossenen Parkhaus saß. Als er dann in mein Zimmer kam, musste ich weinen, und er versuchte, mich mit einer seiner lustigen Geschichten aufzuheitern.

Es ging um den verschrobenen alten Mann in der Straße, in der er und seine Kumpel nachmittags immer Fußball spielten. Die meisten Leute dort machten kein großes Theater, wenn der Ball mal in ihren kleinen Vorgarten fiel. Aber der alte Mann, Bert, war anders. Er beschlagnahmte jeden Ball, der über seine Mauer flog. Und dieser Bert war nicht nur ein bisschen verschroben. Er weidete sich regelrecht am Unglück der Jungs, wenn sie wieder mal einen Ball verloren geben mussten. Die beschlagnahmten Bälle legte er ins Küchenfenster, das zur Straße hinausging. Am Ende lagen da gut sichtbar ungefähr zehn davon.

Ich hörte zu, wie Dad die Geschichte erzählte, und mein Magen wurde zu einem kleinen festen Knoten. Ich wusste, was als Nächstes passieren würde: Eines Tages sahen Dad und seine Kumpel, wie Bert einkaufen ging und den Haustürschlüssel stecken ließ. Dad war der Jüngste, also sollte er ins Haus gehen und die Fußbälle zurückholen. Freiwillig natürlich. Also ging er rein. Und Bert kam überraschend zurück. Dad kauerte vier Stunden unter dem Küchentisch, bis er sich wieder rausschleichen konnte.

Die Geschichte stimmte – außer dass sie nicht Dad passiert war. Er hatte sie mir ein Jahr zuvor aus einem Buch vorgelesen. Es war keins seiner eigenen Bücher gewesen. Und jetzt erzählte er alles, als hätte er es selbst erlebt. Noch bevor er damit fertig war, platzte ich damit heraus.

»Aber Dad, das ist eine Geschichte aus einem Buch, das du mir vorgelesen hast, ›Der Fußballdieb‹.«

Er rieb sich die Müdigkeit aus den Augen.

»Äh, ja, weißt du«, sagte er, »der Mann, der das Buch geschrieben hat, hat zufällig denselben Agenten wie ich, und wir haben uns ein paarmal in London getroffen. Wir sind im selben Alter, haben als Kinder dieselben Comics gelesen, dieselben Filme gesehen und all das, und eines Abends saßen wir zusammen beim Bier und haben uns alte Geschichten erzählt. Und nun ja, die von Bert hat ihm besonders gut gefallen, und er hat mich gefragt, ob er sie in einem Buch verwenden darf.«

»Aber das Buch hättest du lieber selber schreiben sollen«, sagte ich. »Hat er dir wenigstens was dafür bezahlt?«

Er lachte und zog mir die Decke unters Kinn, dann gab er mir einen Kuss auf die Stirn.

»Vielleicht hätte ich was verlangen sollen, ja«, sagte er. »Aber weißt du, ich hab darüber noch nie mit jemand gesprochen. Vielleicht ist es besser, wenn es ein Geheimnis bleibt. Unser Geheimnis, okay?«

Was ungefähr so war, als hätte er mich gefragt, ob ich eine ganze Tafel Schokolade für mich allein haben wollte. Es waren solche Dinge, die mich glauben ließen, ich sei sein Liebling.

Warum ist mir die Geschichte eigentlich erst jetzt eingefallen? Hab ich sie bisher vor mir selbst versteckt? Wenn ja, stecken tief in meinem Gehirn vielleicht noch mehr davon? Und ich stelle mir noch ganz andere Fragen: Waren diese »lustigen Begebenheiten« womöglich alle erfunden? War alles, was er uns jemals von sich erzählt hat, eine einzige große Lüge?

»Hast du schon irgendwas über Dad rausgefunden?«, frage ich Martin.

Ich weiß nicht, ob es die Frage selbst ist oder die Plötzlichkeit, mit der ich sie stelle, was ihn mehr beunruhigt. Der stockende Verkehr scheint mit einem Mal seine ganze Aufmerksamkeit zu erfordern. Oder er tut so, als ob. Er schaut aus dem Seitenfenster und trommelt aufs Lenkrad. Ich soll sein Gesicht nicht sehen.

»Also hast du?«

»Ich hab darüber noch nicht mit Judy gesprochen, Eala.«

»Bitte, Martin, sag!«

Ich spiele meine Rolle aus »Annie«, das Waisenmädchen, das seinen reichen Wohltäter um den Finger wickelt. Ich bin vielleicht nicht Dads Liebling, aber ganz bestimmt Martins. Ich bin seine Angie. Ein verrückter Gedanke, aber wahr. Ich höre gerade nicht ihre Stimme, aber ich sehe sie vor mir, und sie sieht nicht wirklich glücklich aus.

»Da ist diese Agentur, die vor ein paar Jahren einen Typen in England für mich aufgespürt hat«, erzählt er. »Ich wollte ein Haus kaufen, und dieser Typ hatte es geerbt, war aber nie aufgetaucht. Die Agentur hat ihn dann gefunden. Und ja … jetzt hab ich die Leute gebeten, der Sache mit Jimmys Papieren nachzugehen, einfach um zu sehen, was dabei rauskommt.«

»Agentur – du meinst eine Detektei?«

»Es ist nicht so dramatisch, wie es sich anhört, wirklich. Hauptsächlich gehen sie Hinweisen in Akten nach, in Registern. Die gibt’s ja für alles: Geburten, Hochzeiten, Todesfälle. Es ist eine öde Arbeit, und sie dauert.«

»Aber sie haben was gefunden?«

»Nicht wirklich.«

Wir stehen hinter dem ersten Auto vor der Einmündung. Der Fahrer ist zu ängstlich, um in die große Straße einzufahren, obwohl er genügend Zeit dazu hätte. Martin hupt. Er tut so was sonst nicht. Er lehnt sich zurück und macht kreisende Kopfbewegungen gegen seinen verspannten Nacken.

»Diese Leute, die Agentur, sie kennen sich mit solchen Dingen aus«, erklärt er. »Sie machen sich keine großen Hoffnungen, was zu finden.«

»Du meinst, wir werden nie wissen, wer Dad war … ist?«

»Das steht zu befürchten.«

»Das heißt, wir kriegen auch nie das Geld von der Versicherung, stimmt’s?«

»Selbst wenn wir seine wahre Identität klären können, werden sie wohl nicht zahlen müssen«, sagt Martin.

Das Auto vor uns fährt jetzt doch, und wir sind endlich auch heraus aus dem Stau. Auf der Gegenfahrbahn rauschen die Autos an uns vorbei. Ich schaue in die Gesichter der Fahrer und Mitfahrer. Sind sie alle die, die sie vorgeben zu sein? Ich versuche, die herauszupicken, die ihre Identität gewechselt haben könnten, aber die Autos huschen zu schnell vorbei, als dass ich mich für jemanden entscheiden könnte.

»Wie können diese Agenturleute so sicher sein, dass sie nichts finden?«, frage ich. Vielleicht zahlt die Versicherung, vielleicht nicht. Trotzdem will ich wissen, wer mein Vater ist. Jeder hat das Recht, das zu wissen, oder etwa nicht?

»Sie haben schon so viele solche Recherchen gemacht, dass sie ein Gespür dafür haben, welche davon in einer Sackgasse enden. Und sie haben auch ein Gespür dafür, warum.«

Martin vermeidet immer noch den Blickkontakt mit mir, das macht mich unsicher, und die lange Pause, die er einlegt, tut ein Übriges.

»Sie sagen, das Justizministerium hat ihm vielleicht eine neue Identität verschafft. Oder er hat sich irgendwo falsche Papiere gekauft.«

»Und was heißt das jetzt?«

»Das heißt, dass es ein halbes Dutzend Möglichkeiten gibt, was dahintersteckt, mindestens.«

»Er hat irgendwas Schlimmes getan, oder?«

»Oder es ist ihm was Schlimmes angetan worden«, sagt Martin.

Dads große Angst fällt mir ein.

»Darum geht’s, wenn er von dem Mann spricht, stimmt’s?«

Martin sieht mich kurz an. Ich weiß, dass Mam ihm von Dads »Obsession« erzählt hat, wie sie es nennt. Martin scheint froh zu sein, dass wir gerade wieder anhalten müssen und er etwas dazu sagen kann.

»Vielleicht auch nicht. Fiona Sheedy hat eine Theorie, worum es dabei gehen könnte, und ich glaube, sie hat vielleicht recht.« Vor Miss Understanding gibt es kein Entrinnen. »Sie sagt, der Mann könnte gut Jimmy selbst sein. Der alte Jimmy.«

»Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Doch, ich denke schon. Tief drinnen ist Jimmy vielleicht vage bewusst, dass er früher ein anderes Leben hatte. Dass er mal ein anderer Mensch war, wenn du so willst. Es könnte sein, dass er diesen Menschen für jemanden vollkommen anderen hält, eine Art Schatten, von dem er glaubt, er sei immer in seiner Nähe. Wenn es so ist, muss ihn das ja verstören.«

»Aber es erklärt nicht seine gefälschte Geburtsurkunde«, halte ich dagegen.

»Nein«, sagt er. »Aber hör zu, Judy braucht das mit dem Geld von der Versicherung nicht zu wissen. Noch nicht, okay? Sie hat heute schon genug durchgemacht.«

Wir überqueren die Blackcastle Bridge. Der River Walk drüben liegt im Dunkeln. Keine Schwäne auf dem Wasser heute Abend, jedenfalls keine, die ich sehe. Ich sollte Martin bitten, hinter der Brücke links abzubiegen, damit wir nicht an der Unfallstelle vorbeikommen. Aber ich tu’s nicht. Seit fast einem Jahr meide ich schon den Ort, wo Dads altes Leben zu Ende ging. Was nicht immer einfach ist, besonders wenn ich mit Jill oder sonst wem unterwegs bin und mir schon blöd vorkomme, wenn ich darauf bestehe, lieber einen langen Umweg zu machen. Ich komme mir vor wie ein Kind, das auf dem Heimweg von der Schule keine Ritze zwischen den Platten auf dem Bürgersteig berühren will. – Und jetzt gerade denke ich: Wozu das Ganze, wenn ich in meinen Träumen sowieso jede Nacht dort bin?

»Warum hat er uns das angetan, Martin?«, frage ich. »Ich meine, schlimm genug, dass er’s Sean und mir nicht gesagt hat. Aber warum nicht Mam? Ich dachte immer, sie wären sich so nah, so …«

»Denk daran, was für einen Start ins Leben er hatte, Eala«, sagt er. »Wie unsicher ihn der frühe Verlust seiner Eltern gemacht haben muss. Im Unterbewusstsein muss da immer die Angst geblieben sein, ausgerechnet von denen, die ihm am nächsten sind, im Stich gelassen zu werden. Und dann trifft er Judy und hat vielleicht Angst, sie zu verlieren, wenn er ihr von seinem Geheimnis erzählt.«

»Aber sie sind so viele Jahre zusammen, und er sagt trotzdem nichts? Es muss was richtig Schlimmes sein, das er uns verheimlicht hat. Das ist die einzige Erklärung.«

»Nein, da gibt es durchaus noch andere.«

»Nämlich?«

Martin wird wieder abweisend. Er lehnt sich weit nach vorn und macht wieder diese komischen Kreisbewegungen mit dem Kopf. Ich weiß nicht, ob es die Wut auf mich oder auf sich selbst ist, die ihn plötzlich nach einer Entschuldigung für Dads Verhalten suchen lässt.

»Wie wär’s damit: Jimmy hatte keine Familie, also ist er im Waisenhaus groß geworden, wo dir gar nichts anderes übrig bleibt, als eine Mauer um dich herum zu errichten, weil du sonst nicht überlebst. Darum sprichst du nicht über dich, nicht über deine Vergangenheit und nicht über deine Gefühle. Und dann lernt jemand wie Jimmy Judy kennen, und irgendwann sieht es aus, als wäre sie die Richtige, was es ihm noch schwerer macht, sich zu öffnen. Einfach weil er so viel zu verlieren hat. Dann heiraten sie, und Sean und du kommen zur Welt, und er hat noch mehr zu verlieren.«

»Wenn er Mam wirklich geliebt hätte, hätte er ihr vertraut, egal wie schlimm seine Geschichte war«, sage ich scharf.

Wir sind wieder dabei, uns ineinander zu verhaken.

»Er hat Judy geliebt, glaub mir, das weiß ich.«

Wie kannst du dir da so sicher sein, verdammt?, denke ich, aber ich halte mich zurück. Ich möchte Martin nicht auch noch auf meine schwarze Liste setzen. Sie ist so schon lang genug. Wir fahren durch die Friary Street, und als wir das große Tor vor seinem Haus passieren, nutzt er die Chance, ein unverfängliches Thema anzuschlagen.

»Ich zieh hier aus, in eine der neuen Wohnungen, die ich draußen beim Golfplatz gebaut habe. Kann die Dinger dort sowieso nicht verkaufen bei der bescheuerten Rezession.«

»Aber warum denn?«, frage ich ehrlich überrascht. »Dein Haus ist doch toll.«

»Zu viele Erinnerungen. Ich hätte auf Jimmy hören sollen.«

»Er hat gesagt, dass du ausziehen sollst? Wann?«

»Schon gleich nachdem Kathleen gegangen war«, sagt er und lächelt. »›Wuthering Heights‹ hat er das Haus genannt. ›Und du bist kein Heathcliff‹, hat er gesagt. Er konnte schon Dinger raushauen, nicht wahr?«

»Kann man wohl sagen.«

»Und er hatte so was von recht. Ich hatte den Entschluss, aus dem Haus auszuziehen, kaum gefasst, da hat sich schon alles anders angefühlt. Hab ich mich anders gefühlt. Erst konnte ich mir gar nicht erklären, warum, aber dann kam ich drauf: Angie war weg. Ich hatte sie endlich gehen lassen. – Wir hätten damals nie in dem Haus bleiben dürfen.«

Mir kommt ein merkwürdiger Gedanke. Martin hat Angie gehen lassen – und sie ist zu mir gekommen. Der hell erleuchtete Town Square huscht vorüber, und wenig später sehe ich, dass Mrs Caseys Laden offenbar früher geschlossen hat als üblich. Dann erreichen wir die Unfallstelle, und ich sitze aufrecht, wie erstarrt, die Hand am Haltegriff der Beifahrertür, als würde gleich sonst was passieren. Aber es passiert nichts. Es ist, als wäre hier noch nie etwas passiert, das irgendeinen vorüberkommenden Autofahrer oder Passanten interessieren könnte.

»Denkst du, Mam und Dad werden sich trennen?«, frage ich.

»Judy tut alles für deinen Dad«, sagt er.

Ich warte, aber mehr kommt nicht von ihm.

Nur von Angie: Das kleine Waisenmädchen Eala und ihr Sugardaddy. Wie falsch war diese Waisenmädchenschnulze, in der ich die Hauptrolle gespielt habe, eigentlich? Was soll die Geschichte eines jungen Mädchens, das mit einem alten Mann leben wird? Ich habe Magenschmerzen, wenn ich weiterdenke. Und Dad war auch so ein schutzloses Kind, das plötzlich Waise geworden war. War irgendetwas geschehen, das ihm den Mund verschlossen hat? Konnte er deshalb nie über die Heime reden, in denen er gelebt hat? Oder über die Menschen, die sich um ihn gekümmert haben? Die sich um ihn hätten kümmern sollen?

Wir biegen in unsere Einfahrt und parken neben Miss Understandings Auto. Ich hasse es, wenn sie mit Mam allein ist. Ich traue ihr nicht. Ich sollte reingehen und ihre kleine Unterhaltung stören, aber ich bin zu erschöpft. Dad taucht kurz am Vorderfenster seines Zimmers auf. Dann die Ice Queen. Sie starrt mich an. Martin hebt die Hand zu einem kleinen, zögerlichen Gruß, dann sind die beiden wieder weg.

»Pass auf Sean auf, Eala!«, sagt Martin. »Ich hab Angst, er macht irgendeinen Unfug. Diese Healys sind gefährlich, und das Letzte, was Judy braucht, sind Probleme mit diesem Gesindel.«

Er schaut mit großen traurigen Augen zum Wohnzimmerfenster. Man kann Mam sehen, wie sie auf dem Sofa sitzt und an die Decke starrt, während Tom neben ihr auf und ab hüpft. Sie sieht total erschöpft aus. Ich kann Miss U nicht sehen, aber ich weiß, dass sie das Reden übernommen hat, weil Mam andauernd nickt, als wäre sie mit allem einverstanden, was ihr Gegenüber sagt.

»Kommst du mit rein?«, frage ich, während ich den Sicherheitsgurt löse. Aber das Gefühl der Erleichterung, das ich dabei verspüre, hält nicht lange an. So groß der Mercedes auch ist, ich fühle mich darin wie eingesperrt. Ich bekomme plötzlich nicht genug Luft, und meine Finger wissen nicht mehr, wo der Türgriff ist.

»Nein.« Martin schüttelt den Kopf. »Ich hab noch im Büro zu tun.« Er sieht nicht aus, als würde er sich darauf freuen.

Als die Tür aufgeht, lehne ich mich dagegen und falle fast aus dem Wagen. Martin merkt es nicht. Er beobachtet immer noch Mam. Die Luft, die ich so dringend gebraucht habe, ist so kalt, dass ich sie auf jedem freien Fleckchen Haut spüre.

»Wart Mam und du zusammen, bevor Dad aufgetaucht ist?«, frage ich.

»Wir waren noch Kinder, und es hat gerade mal zwei Monate gehalten«, sagt er mit einem bedauernden Lächeln. »Wenn du denkst, dass ich heute klein bin, hättest du mich damals sehen sollen. Ich war ein Jahr älter als Judy und hab ausgesehen wie ihr kleiner Bruder.«

»Das Gefühl kenn ich«, sage ich.

»Pass auch auf dich auf, Eala!«, sagt er, und das Beste, was mir dazu einfällt, ist, zum Abschied kurz die Hand zu heben.

Ich warte, bis der Mercedes auf die Straße biegt und davonfährt. Ein oder zwei Minuten vergehen. Die heraufziehende Kälte lockt mich ins Haus, die Straßenlichter locken mich nach draußen zu einem kleinen Spaziergang, einer kleinen Flucht. Ich folge den Straßenlichtern.