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Dad hat Angst. Er steht mit nach vorn geschobenen Schultern und hängenden Armen im Flur. Unter seinem grünen Parka trägt er eins der blauen französischen Trikots, die er immer so geliebt hat. Aber nicht das Glücksbringertrikot von 1998. Das mussten sie ihm nach dem Unfall vom Körper schneiden. Er sieht aus wie ein Schüler, der vorm Büro des Direktors darauf wartet, dass er reingerufen wird, um sich seinen Tadel abzuholen. Solange ich denken kann, hat er seine Haare millimeterkurz geschnitten, aber in den letzten Wochen sind sie gewachsen. Seine schwarz glänzenden wuscheligen Locken sind von Grau durchzogen, aber so lang, dass sie die lange Narbe über der rechten Schläfe verdecken würden, sind sie nicht. Auch die kahle Stelle oben auf dem Kopf ist noch zu sehen, seine Zidane-Tonsur, wie er sie nannte.

»Jimmy ist da«, sagt Mam, und ich sehe, dass sie genauso erschüttert ist wie ich, als klar wird, dass er unser Haus nicht wiedererkennt. »Sieht er nicht gut aus?«

Sie erschrickt, und ich weiß, warum. Es passiert einem immer wieder, dass man mit ihm spricht, als wäre er ein Kind. Aber man kann auch nicht mit ihm sprechen wie mit einem Zweiundvierzigjährigen. Es ist, als müsste man versuchen, eine neue Sprache irgendwo dazwischen zu erfinden.

»Hallo, Jimmy«, sage ich, und schon gehen mir die Wörter aus.

»Guten Tag.« Sein kindlicher Ton gibt mir einen Stich ins Herz.

Seine Stimme klingt unsicher und brüchig. Toms Stirn drückt sich gegen meinen Hals, und ich weiß nicht, ob der Schweiß dazwischen seiner oder meiner ist.

»Ich hol die restlichen Tüten aus dem Auto«, sagt Mam. »Ist Sean da?«

»Muss bald hier sein«, lüge ich und verfluche ihn im Stillen.

»Sean«, sagt Jimmy, und seine Miene hellt sich auf.

Immer wenn wir Sean erwähnen, fragt Dad, wann er ihn treffen kann. Er weiß nicht mehr viel über Sean, außer dass er groß ist und gut im Fußball und dass er Computerspiele mag und solche Sachen. Mam denkt, dass Dad irgendwie die Vorstellung von einem perfekten Kumpel im Kopf hat. Sie hat Sean vorgewarnt, und ich schwöre, dass ich ihn in Stücke reiße, wenn er nicht seine Rolle spielt. Ich wechsle das Thema.

»Tom ist müde, weil er den ganzen Abend herumgetobt hat«, sage ich. »Er kann einen ganz schön auf Trab halten.«

»Wacht er bald auf?«, fragt Jimmy im Flüsterton. »Kann er schon sprechen?«

Im Rehazentrum hat Tom nie einen Laut von sich gegeben. Aber wir haben ihn nicht oft mitgenommen, die Besuche haben ihn zu sehr beunruhigt. Darum hat er Dad seit ungefähr zwei Monaten nicht mehr gesehen.

»Sprechen? Er hört überhaupt nicht mehr auf«, sage ich und merke plötzlich, dass ich Dad gar nicht geküsst habe. Wenn wir ihn in der Reha besucht haben, habe ich das jedesmal getan.

Für mich war dort alles einfacher. Das Begrüßungsküsschen, mit ihm reden, sogar die Spiele. Gleiche Klötzchen finden, um die Hand-Augen-Koordination zu trainieren. Oder Wortspiele wie für kleine Kinder, die ihn wieder zum Sprechen bringen sollten. Unsere Besuche dauerten immer nur ein paar Stunden, und wir waren auch nicht jeden Tag dort. Außerdem wusste man, dass es sozusagen einen Notausgang gab. Es macht mich nicht froh, dass ich meinte, einen zu brauchen, aber so war es. Jetzt gibt es keinen Notausgang mehr. Außer für Sean.

Ich gebe Dad einen Kuss auf die Wange, aber es ist Jimmy, bei dem ich mich auf dem Weg zur Küche mit meinem freien Arm unterhake, nicht mein alter Dad. Ich wünschte mir, ich könnte der Zweijährige sein, der all das einfach nur verschläft. Jimmy geht nicht mehr wie früher. Er macht ein paar Schritte, die perfekt wirken, aber dann zieht er die Schuhspitze für einen Schritt über den Boden. Im Rehazentrum sprachen sie von einer leichten halbseitigen Lähmung. Das Merkwürdige ist, dass mir diese Art zu gehen so vertraut vorkommt. Ich weiß nur nicht, warum.

»Hast du Hunger, Jimmy?«, frage ich.

»Ja«, sagt er, und ich sehe, dass die Küche noch so eine fremde neue Welt für ihn ist. Dabei muss er im Lauf der Jahre wer weiß wie oft darin gekocht haben, meistens in der »Hausfrau-des-Jahres«-Schürze, die er sich nach seinem eigenen Entwurf hatte bedrucken lassen. Die Zeichnung über dem Spruch zeigt eine erschöpfte Frau mit Lockenwicklern und einer Zigarette, die ihr von der Unterlippe hängt. Neuerdings trage ich die Schürze.

»Was magst du essen?«

»Irgendwas«, sagt er, aber fast im gleichen Atemzug fragt er: »Gibt’s Schokokekse? Und Milch?«

»Da bin ich mir ziemlich sicher – aber nicht zu viele Kekse, okay?«

Verdammt, da ist wieder dieser Ton, als wäre er ein Kind. Er senkt den Kopf und ist beleidigt. Die Sache ist die, dass Dad ziemlich zugenommen hat. Vor dem Unfall hat er oft gejoggt und zweimal die Woche mit seinen Kumpels Fußball gespielt. Das hat ihn in Form gehalten. Jetzt sprengt sein Bauch fast das blaue Fußballtrikot.

»Zieh deine Jacke aus und mach’s dir gemütlich!«, sage ich.

Er sitzt am Tisch, bestaunt mit offenem Mund die Küche, und ich möchte schreien. Du musst dich doch an irgendetwas hier erinnern! An den cremefarbenen Herd, in dem du dunkles Brot gebacken hast. Die Regale für den Wein, die du neben der Tür angebracht hast. Die Kühlschrankmagnete, die du ständig gekauft hast: »Du musst nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten – aber es hilft!« Oder: »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe gern auf morgen!«

»Hier, Jimmy. Es gibt leider nur noch ganz wenige.«

Er ist enttäuscht, dass nur zwei Schokokekse auf dem Teller liegen. Dann kommt Mam angehetzt, als ginge wieder mal ein ganz gewöhnlicher Tag zu Ende. Sie hört den Anrufbeantworter ab, setzt den Wasserkessel auf und redet, nur um etwas zu sagen.

»Bis Abbeyleix war der Verkehr gar nicht so schlimm … aber dann ging die Tankanzeige an, und wir mussten von der Autobahn runter nach Urlingford … dort gibt’s jetzt ein nettes italienisches Lokal, das ich noch gar nicht kannte …«

Ich weiß nicht, wie sie das schafft. Und Dad folgt jedem ihrer Worte, als würde sie was unglaublich Wichtiges erzählen.

Die Leute halten Mam für kalt, weil sie glauben, dass sie viel zu nüchtern und sachlich mit dem umgeht, was passiert ist. Man kann es ihnen an den Augen ablesen, dass sie das denken. Aber Mam war noch nie der Schmusetyp. Und mir ist es lieber so, egal was die Leute denken. Mam war auch nie das große Muttertier. Sie hatte ihr eigenes Leben und musste nicht jede Minute für uns da sein. Da war immer auch ihr Job beim Sozialamt. Oder ihre Leidenschaft für den Chor, in dem sie gesungen hat. Oma Rogan war auch so. Praktisch, unabhängig und dauernd auf Trab.

Oma Rogan starb, als ich acht war. Ich kannte sie nicht so gut. Sie war schon vor Jahren weit weg nach New York gezogen, gleich nachdem ihr Mann gestorben war. Ich habe sie vielleicht drei- oder viermal in meinem Leben gesehen. Mam fuhr ein paarmal nach New York, aber sie mochte den Mann nicht, mit dem ihre Mutter dort gelebt hat. Er war ihr zu laut und zu reaktionär. Sie und ihre Mutter waren sich einig, dass sie sich uneinig waren. Oma Rogan lebte ihr Leben weiter und Mam ihres. Typisch Mam.

Jetzt sehe ich ihr zu, wie sie sich in der Küche bewegt, und ich merke, wie sie sich verändert hat. Sie hat nie was Besonderes mit ihren langen blonden Haaren gemacht, und sie ist auch keine von den Frauen, die einen Haufen Schminke benutzen oder teure Kleider tragen. Ich fand immer, das brauchte sie alles nicht. Aber jetzt spannt sich die Haut über ihre Wangenknochen und ihre Stirn, dass man schwören könnte, sie hat sich Botox spritzen oder sonst was machen lassen. Sie sieht nicht mehr echt aus. Ihr Gesicht sieht aus, wie sich meins anfühlt: steif und wund vom So-Tun, als würde man lächeln.

Ich erinnere mich, wie sie mir mal von dem Novembertag erzählte, an dem sie und Dad geheiratet haben. Wie bitterkalt es war, als sie ins Freie gingen, um in einem Hotelgarten die Hochzeitsfotos machen zu lassen. Und wie ihr Gesicht den ganzen anschließenden Empfang über zu einem wahnsinnigen Lächeln gefroren blieb. Dad, der zugehört hatte, sagte: »Wenn ich ehrlich sein soll, Eala: Ich dachte, ich hätte nicht deine Mutter, sondern eine der Hexen aus ›Macbeth‹ geheiratet!«

»Aufgegessen«, sagt Dad. »Ich hab noch Hunger.«

»Wie viele Kekse waren das?«, fragt Mam. Dann wischt sie ihm ein paar Krümel aus dem Mundwinkel und zieht schnell die Hand zurück, als sie merkt, was sie tut.

»Nur einer«, sagt er todernst.

Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Er ist ein Kind, das noch einen Keks möchte, sage ich mir, und nicht mein Vater, der meiner Mutter eine Lüge auftischt. Alles hat auch eine komische Seite, stimmt’s?

»Du bist ein Schwindler, Jimmy«, sage ich. »Es waren zwei.«

»Vielleicht zwei kleine«, sagt er leise.

Dann senkt er wieder den Kopf. Jetzt kommt das mit der Armbanduhr. Aus der Reha weiß ich, dass es ein Zeichen dafür ist, dass er sich aufregt und dass man ihm bald was von seinen Medikamenten geben muss, damit er sich wieder beruhigt. Die übergroße Digitaluhr, mit der er bei seinen Laufrunden immer die Zeit gestoppt hat, ist so ziemlich das Einzige, was bei dem Unfall heil geblieben ist. Jetzt will er sie Tag und Nacht nicht mehr abnehmen. Und wenn er gestresst ist, beginnt er die kleinen Knöpfe zu drücken und draufzuschauen, als wäre er für irgendwas zu spät dran oder würde auf irgendjemanden warten. Er hat diesen Ausdruck im Gesicht wie jemand, der zum Galgen geführt wird. Sein Blick fliegt zwischen der Uhr und der Keksdose auf dem Tisch hin und her.

»Dann nimm noch einen, Jimmy«, sage ich.

Plötzlich fährt er aus seiner gekrümmten Haltung auf und stößt mit dem Ellbogen die Keksdose vom Tisch, absichtlich. Ich habe immer noch Tom auf dem Arm und kann die Dose nicht auffangen. Gleich darauf bricht die Hölle los. Der Knall beim Aufprall der Dose auf den harten Fliesenboden hat Tom geweckt. Er wirft einen Blick auf Jimmy und fängt an zu schreien. Tom klammert sich an mir fest, dass er mich fast erwürgt, und seine Schreie erschrecken Jimmy, der aufsteht und die Flucht ergreifen will.

»Es ist doch nur D…« Fast rutscht mir das Wort heraus. »Es ist doch nur Jimmy.«

»Ich hab’s nicht gewollt«, sagt Jimmy.

Wir haben ihn im Rehazentrum in Panik geraten sehen, aber das hier ist was anderes. Das ist zu Hause. Wir müssen hier leben.

Tom hebt den Kopf von meiner Schulter und sieht Jimmy an. Er hat die Stimme wiedererkannt, da bin ich mir sicher. Dann sieht er mich an, als könnte ich ihm die Sache erklären. Aber ich kann es nicht. Ich halte ihn, so fest ich kann, ohne ihm wehzutun.

Mam legt den Arm um Jimmy und schiebt ihn weg vom Tisch. Ihr Gesicht ist grau. Vielleicht sind wir alle grau im Gesicht. So fühlt es sich jedenfalls an. Wir sind die Gespenster der Familie, die vor dem Unfall hier gewohnt hat.

»Tom ist erschrocken, das ist alles«, sagt Mam und dirigiert Dad zur Tür. »Komm, wir schauen uns dein Zimmer an, Jimmy!«

Er schaut über die Schulter zurück zu Tom und mir.

»Die mögen mich nicht«, sagt er.

»Natürlich mögen sie dich, Jimmy«, sagt Mam, dann sind sie fort.