30
Brian wohnt am Stadtrand, in einer Sackgasse, in der nur Bungalows stehen. Gleich hinter ihrem liegt der Golfplatz. Als ich in die Straße einbiege, kann ich über die ganze vom Mond beschienene hügelige Anlage sehen. Dahinter liegt der Fluss. Ich weiß nicht, warum, aber bei dem Anblick fühle ich mich plötzlich einsam. Ich muss weiter und schauen, dass ich schnell an Jills Haus vorbeikomme. Ich wette, sie hält von ihrem Zimmer aus nach mir Ausschau. Ich denke kurz daran, mich hinter die Mauer zur Straße zu ducken, und lasse es, weil es einfach zu kindisch wäre. Ich weiß, was sie von ihrem Fenster aus sehen würde, wenn ich es täte: einen Rucksack, meinen, der sich knapp unterhalb der Mauerkante vorwärtsbewegt, während ich selbst unsichtbar bleibe. Bei dem Gedanken daran muss ich kichern. Ich gehe vorbei und schaue auch nicht, ob Jill am Fenster steht.
Mam wollte mich herbringen. Sie war so froh, dass ich heute gut drauf war und ganz normal bei Jill übernachten wollte, dass es ihr nichts ausmachte, als ich sagte, ich würde lieber zu Fuß gehen. Manchmal frage ich mich, wie sie meine morgendliche Schlaftrunkenheit genauso übersehen kann wie meine Unruhe, bevor ich abends meine Schlafpille eingeworfen habe. Oder warum ihr Sean nichts von seinem Verdacht erzählt. Ich habe das Gefühl, dass er mich die ganze Zeit beobachtet, und weil ich ihm zutraue, dass er in meiner Abwesenheit mein Zimmer durchsucht, gehe ich auf Nummer sicher. Die Tabletten sind in meinem Rucksack, den ich überall mit hinschleppe.
Brians Bungalow ist der letzte in der Sackgasse und der größte. Er hat mehr Fenster zur Straße als alle anderen, und als ich das Tor zur Einfahrt öffne, sind alle beleuchtet. Auf dem Rasen plätschert ein Springbrunnen. Auf den ersten Blick sieht es aus, als würde ein griechischer oder römischer Jüngling in das Becken pinkeln, in dem er steht, und es ist so komisch, dass ich wieder kichern muss. Als ich weitergehe, sehe ich, dass das Wasser aus einer langen schmalen Vase in seinen Händen kommt.
Vor der Haustür hole ich ein paarmal tief Luft. Ich habe keine Angst. Ich habe tagsüber keine Pillen genommen, damit ich zwei nehmen konnte, bevor ich mich auf den Weg hierher gemacht habe. Es war genau die richtige Idee. Ich hab mich vollkommen im Griff, als ich den Rucksack abnehme, mir mit der Hand durchs Haar fahre, den Reißverschluss meiner Jacke ein Stück aufziehe und einen weiteren Knopf an meiner Bluse aufmache. Es ist gut, endlich den Rucksack loszuwerden. Verrückt, wie schwer eine Flasche Wodka sein kann.
Gestern in der Probe habe ich die Maria wie in einem Britney-Spears-Video gespielt, mit anzüglichen Bewegungen und dem totalen Anmachblick. Derek war fix und fertig. Er konnte sich nicht auf seinen Text konzentrieren, und ihm fiel auch keine passende Retourkutsche ein. Dafür hatte ich hinterher Miss O’Neill am Hals. Sie nahm mich nach der Probe zur Seite.
»Ich schätze es, dass du eine neue Seite an Maria zu finden versuchst, aber für meinen Geschmack geht das ein bisschen zu weit.«
»Sie ist so naiv, dass es lächerlich ist«, sagte ich. »Das bin einfach nicht ich.«
»Wir haben alle unsere naiven Momente, Eala, glaub mir«, sagte sie. »Und im Übrigen ist Schamlosigkeit nicht sexy, sondern billig.«
»Ich weiß sowieso nicht, warum ich mitspiele«, sagte ich, und es musste klingen, als sollte sie mir sagen, warum. Was hat sie an sich, das mich so aus der Reserve lockt? Sie zeigt nie irgendwelche Gefühle, egal was passiert. Und trotzdem war ich nah daran, vor ihr zusammenzubrechen.
»Meine Großtante war Schauspielerin«, sagte sie. »Nie wirklich berühmt oder so, aber sie hat ihr Leben lang auf der Bühne gestanden. Am liebsten spielte sie in turbulenten Komödien mit viel Körpereinsatz, auch als sie schon in den Achtzigern und mit einer schweren Arthritis geschlagen war. Bei ihrem letzten Stück musste ich sie von der Garderobe zur Bühne bringen, oder besser gesagt, tragen. In den Kulissen hat sie mir dann ihren Gehstock gegeben, und ich habe sie bis zu ihrem Stichwort am Arm gehalten. Du hättest sehen sollen, wie sie danach auf der Bühne herumgesprungen ist: wie ein junges Mädchen. – Es muss einen Platz geben, wo wir unseren Gehstock wegschmeißen können, Eala. So einfach ist das.«
Den Gehstock wegschmeißen – genau das werde ich jetzt tun. Ich drücke auf den Klingelknopf von Brians Haustür. Jemand startet ein Auto und fährt es aus der Einfahrt weiter vorn in der Straße. Ich trete näher an die Tür und klingle hartnäckiger. Er hat’s offenbar nicht eilig, mir aufzumachen. Durch die gefrostete Scheibe neben der Haustür sehe ich jemanden sich bewegen, zögern, sich bewegen – dann öffnet er die Tür.
»Ach, Eala.«
Ich bringe kein Wort heraus. Was sagt man zu jemandem, den man so hasst und so liebt? Er ist schuld, dass mein Vater ein Zombie ist, er hat mich zur Lachnummer gemacht …
»Du siehst aus, als wär dir kalt«, sagt er. »Komm rein!«
Ich versuche ein Lächeln, das sich so falsch anfühlt, wie es ist. Ich gehe an ihm vorbei, und er schließt die Tür hinter mir. Wie soll er dich begehren wollen, wenn du ihn anschweigst, Eala?, fragt Angie. Der Eingangsbereich des Hauses ist von oben bis unten geblümt: große Blüten auf den Relieftapeten, kleinere im Muster des Teppichs, selbst in den Garderobenspiegel ist eine riesige Tulpe eingeätzt. Und hinter mir steht Brian und schaut mir über die Schulter hinweg in die Augen. Er ist verwirrt. Es ist Zeit, zur Sache zu kommen.
»Deine Mutter hat’s mit Blumen?«, sage ich und muss dabei lachen.
Nicht witzig. Eala!
»Ja.«
Ich öffne den Rucksack und hole den Wodka heraus.
»Hast du was, womit man das hier mischen kann?«
Erst jetzt fällt mir auf, wie blutunterlaufen und geschwollen seine Augen sind. Er hat ein Papiertaschentuch in der Hand und rubbelt sich damit die Nase. Wie romantisch ist das denn?
»Klar«, sagt er verschnupft und mit einem Gesicht, als wäre ihm die eigene Stimme zu laut. »Ich kann nur nicht mittrinken. Antibiotika – ich hab eine Nebenhöhlenentzündung.«
»Ein Drink wird dich aber nicht umbringen?«
»Hoffentlich nicht. Ist Orangensaft okay?«
»Wenn du kein Red Bull dahast ...«
»Ich glaub, das wär keine so gute …«
»Das war ein Witz, Brian. Entspann dich!«
Er niest ins Taschentuch, und als er die Nase wieder sauber gerubbelt hat, sieht er aus wie Rudolf, das Rentier. Die Blumen überall machen mir Kopfweh. Gerade beginnen sie sich wie in einer leichten Brise zu bewegen.
»Wollen wir hier übernachten?«, frage ich.
»’türlich nicht«, sagt er. »Sorry, ich bin nicht ganz auf der Höhe. Komm mit ins Wohnzimmer, ich hab den Kamin an.«
Noch mehr Blumen, an den Wänden, auf den Teppichen und Vorhängen, die Polstermöbel sind geblümt, und in einer Kristallvase auf dem Kaminsims stehen sogar echte Lilien mit weit offenen Mäulern. Ihre orangenen Staubgefäße hat man entfernt. Nichts in dem Haus ist unaufgeräumt oder schmutzig. Es läuft Musik, irgendwas Ernstes, Singer/Songwritermäßiges. In einem Ständer neben dem großen Flachbildfernseher steht eine Akustikgitarre.
»Du hast mir nie erzählt, dass du Gitarre spielst.«
»Spiel ich auch nicht. Die gehört meinem Vater.« Ein peinliches Geständnis, das ihm sofort leidtut, weil ich es so witzig finde. Ich wollte, ich wäre nicht so aufgekratzt.
»Aber er ist keiner von den traurigen alten Typen, die ihre Elvisnummern ins Netz stellen?«
»Er ist auf You Tube«, sagt Brian und setzt sich in einen der beiden Sessel statt mit mir aufs Sofa, wie ich es erwartet hatte. Ich bleibe stehen. »Mit ein paar Johnny-Cash-Songs. Ziemlich schlecht. – Ich hol den Orangensaft.«
Er steht auf und verschwindet. Lässt mich mit meinem Rucksack und der Flasche allein. Toller Gastgeber, sagt Angie. So wie ich mit meinen Sticheleien gegen seine Eltern ein toller Gast bin, denke ich.
Ich stelle den Rucksack aufs Sofa und nehme einen schnellen Schluck aus der Flasche. Und weil Zeit dafür ist, noch einen zweiten. Als Brian wieder auftaucht, spüre ich den Wodka gerade in meinem Magen ankommen und muss ein paarmal schlucken, damit er mir nicht wieder hochkommt. Ich setze mich, bevor ich umfalle. Ich lehne meinen Kopf weit hinten gegen die geblümte Sofalehne und lasse einen leichten Schwindel vorübergehen, bevor ich wieder die Augen öffne.
Brian sitzt mir gegenüber im Sessel, vor uns auf dem Sofatisch stehen zwei Gläser und zwei Flaschen. Ich weiß weder wie er in den Sessel noch wie die Gläser und Flaschen auf den Tisch gekommen sind. Ich setze mich auf und versuche, mich normal zu benehmen. Mein Fuß beginnt den Rhythmus der Musik zu klopfen, und ich muss hinsehen, um ihn zu stoppen. Noch eine Tablette würde vielleicht helfen.
»Hast du was zum Knabbern?«, frage ich.
»Klar. Aber ich kann dir auch Pommes machen oder so was.«
»Nein, was zum Knabbern ist okay.«
Er ist so erleichtert, wie ich es bin, dass er noch mal in die Küche verschwindet. Ich krame im Rucksack nach einer Tablette und huste, um das Knacken der Folie zu übertönen, als ich sie aus der Verpackung drücke. Mit einem Schluck Orangensaft spüle ich sie hinunter. Es ist ein Sirup zum Verdünnen, und er ist so süß und konzentriert, dass ich ihn fast über den Sofatisch spucke. Als Brian zurückkommt, mische ich gerade die Drinks.
»Wir haben nur Chips mit Roastbeef-Geschmack«, sagt er, und ich muss mich anstrengen, um beim Eingießen nicht zu zittern.
Ich stütze mich auf den Sofatisch, um sicherzugehen, dass ich die Flasche richtig absetze.
»Ich weiß nicht, ob ich es bin oder der Tisch, aber einer von uns schwankt«, sage ich. Was folgt, ist noch so ein dämliches Kichern. »Den solltet ihr zurückgeben. Also den Tisch.«
»Ich hab ihn selbst gemacht«, sagt er.
Er geht wieder auf den Sessel zu, aber ich mache ihm so offensichtlich wie möglich Platz auf dem Sofa. So als wollte ich sagen: Setz dich her und halt mich fest! Er gehorcht, aber nur zögernd. Ich hebe mein Glas, und er greift nach seinem.
»Cheers«, sage ich.
»Eala, können wir sprechen?«
»Klar.«
Der Orangensaft nimmt dem Wodka die Schärfe, und die dritte Tablette macht mich ruhiger. Oder waren’s vier?
»Ich meine, bevor du noch mehr davon trinkst?«
»Hör zu, Brian, da gibt’s nichts zu sagen«, sage ich, und der Satz fällt mir leicht, weil ich ihn so oft geübt habe. »Es war nicht deine Schuld, ich meine das Auto, die Bodenschwellen und was Dad passiert ist. Da gibt’s nichts zu verzeihen, wenn’s das ist, worauf du hinauswillst, okay?« Und dann spiele ich den entscheidenden Trumpf aus. Ich sage etwas, das ihm beweisen soll, dass ich nicht noch eine dumme Tussi bin, die sich ihm an den Hals werfen will. »Du bist nicht mein bête noire oder so.«
»Dein was?«
»Bête noir. Das ist französisch.«
»Ich hatte kein Französisch.«
»Ich hab diese Hausarbeit über den Holocaust geschrieben …«
Hör auf!, sagt Angie. Er guckt dich schon an, als hättest du zwei Köpfe.
»… und Dad hat mir geholfen. Von ihm hab ich den Ausdruck. Bête noire, das heißt so viel wie ›schwarzes Ungeheuer‹, irgendwas, wovor man schreckliche Angst hat oder dem man allein die Schuld gibt oder so. Für die Nazis waren die Juden die bêtes noires irgendwie. Oder Moment, andersrum, ich …«
»Eala? Du bist nicht du selbst.«
»Alle sagen das – Was glaubt ihr eigentlich, wer ich sonst bin?«
Im Flur klingelt das Telefon. Das kann nicht Mam sein, oder doch? Jill würde mir das nicht antun, oder? Mich verraten? Vielleicht hätte ich mein Handy nicht ausschalten sollen, damit ich es merke, wenn Mam mich sucht.
»Das wird meine Mutter sein«, sagt Brian. »Sie wollte jeden Abend anrufen.«
»Geh nicht dran!«
»Ich muss. Sonst ruft sie mich am Handy an, bis ich drangehe.«
»Dann schalt’s aus.«
»Das geht nicht. Sie macht sich Sorgen und kriegt die Panik, wenn ich nicht drangehe«, sagt er und springt schneller auf, als ich ihn festhalten kann, was das Nächste gewesen wäre, was ich getan hätte, wenn mein Gehirn noch in der Lage gewesen wäre, die Botschaft rechtzeitig an die Hände zu schicken.
»Es dauert nicht lange.«
Er schließt die Tür hinter sich. Von mir aus. Ich gieße mir Wodka nach. Ohne Orangensaft diesmal. Ich verstehe nicht, was er da draußen sagt, aber ich spüre die Ungeduld in seinem Ton. Ich schlucke den Wodka, der wieder hochsteigen will, und gieße noch mal nach und kippe auch den. Ich kicke die Schuhe von den Füßen und strecke mich auf dem Sofa aus. Schluss mit dem Gequatsche!, sagt Angie. Wenn er zurückkommt, kein Gequatsche mehr! Ich angle mir ein geblümtes Sofakissen und halte es fest. Ich versinke in einen Tagtraum. Oder Nachmittagstraum, was auch immer. Ich halte Brian. Ich halte mein Baby. Ich summe »Tomorrow« und »Somewhere« und »Tonight«. Ich bin an einem Fluss, er strömt ruhig dahin …«
»Eala?«
Brian kniet neben mir. Ich versuche, die Arme um ihn zu schlingen, aber sie gehorchen mir nicht. Mir ist kalt. Meine Bluse ist bis zum Gürtel aufgeknöpft. Ich kann seine drei Gesichter nicht zu einem zusammenbringen. Der Sofatisch ist leer. Wie ist das passiert? Einer meiner Arme hebt sich. Ich kann mich nicht erinnern, ihm eine entsprechende Botschaft geschickt zu haben. Er fällt schwer auf Brians Schulter.
»Himmel, Eala, was …«
»Angie«, sage beziehungsweise lalle ich. »Nenn mich Angie! Ich weiß auch das von Win und dem Baby. Aber keine Angst, ich erzähl’s niemandem, okay? Es ist unser Geheimnis, und was wir hier machen, ist auch unser Geheimnis, okay?«
Ich kann den Kopf nicht lange hochhalten und lasse ihn wieder sinken. Ich taste nach meinem Kissen, meinem Baby, aber es ist nicht da. Macht nichts, werd ich’s eben finden, wenn ich wieder aufwache. Ich hab aus Versehen eine Schlaftablette genommen, das war’s, was schiefgelaufen ist. Aber wenn ich ausgeschlafen hab, geht’s mir spitze. Spitze.
»Du Mistkerl hast ihr was in den Drink gemischt, gib’s zu!«
»Du spinnst, Mann. Sie ist irgendwie nicht bei sich. Sie war schon so, als sie gekommen ist.«
Wie nicht bei sich?, denke ich. Und was ist das für ein Krach? Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen. An der Tür kämpfen Sean und Brian, aber ihre Bewegungen sind absurd langsam, als kämpften sie unter Wasser. Sean trifft Brian mit der Faust am Kinn, aber Brian schlägt nicht zurück.
»Mann, Sean, wenn ich so was gemacht hätte, würd ich dich dann anrufen?«, fleht er. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sollen wir einen Arzt rufen?«
»Und was ist mit ihrer Bluse, du Schwein?« Sean schlägt wieder zu, diesmal ohne zu treffen.
Ich schiele an mir herunter. Die Bluse ist wieder zugeknöpft, nur sind die Knöpfe in den falschen Löchern. Ich fange an zu kichern. Dann versuche ich, den Kopf zu heben, und spüre den Wodka in mir hochsteigen. Was, wenn er auf dem falschen Weg wieder zurückfließt?
»Helft mir!«, sage ich, aber ich weiß nicht, ob sie mich hören. »Helft mir!«
Sie sind so mit ihrem Kampf beschäftigt, dass sie mich vergessen haben. Aber ich will nicht, dass sie wegen mir kämpfen.
»Helft mir!«
Warum hören sie nicht? Bitte, hört mir doch zu!
Ich befinde mich außerhalb meines Körpers und schaue von oben auf das Mädchen auf dem Sofa und die zwei Jungs, die einander zu Boden ringen wollen. Ich steige immer höher und bekomme es mit der Angst zu tun, weil ich doch in meinen Körper zurückmuss. Außer dass es gar nicht mehr ich bin, die da unten auf dem Sofa liegt. Es ist Angie. Ich steige höher und höher, und was, wenn ich nicht mehr in meinen Körper zurückkomme?
Wer bin ich dann?