29
Dad ist jetzt eine Woche weg. Wir besuchen ihn nicht, das könnte ihn verwirren. So lautet die Theorie. Die Wahrheit ist, dass er froh war fortzukommen. Er hat’s mir am Abend zuvor gesagt. Das und ein paar andere Wahrheiten über unser Zuhause, die alles nicht leichter gemacht haben. Was ich getan habe, war auch keine so gute Idee: Ich hab ihn gezwungen, sich die Zidane-DVD anzusehen.
Diese Schlaftabletten halten auch nicht immer das, was auf der Packung versprochen wird. Oder jedenfalls hält die Wirkung nicht lange an. Bei mir wirken sie schnell, wenn ich eine davon mit dem Antidepressivum zusammen nehme. Sie haben einen eklig chemischen Geschmack, aber nach dem sehnst du dich, wenn du weißt, dass du davon bald einschläfst. Ein paar Stunden später bist du dann wieder wach, und die Versuchung, noch eine einzuwerfen, ist groß, aber ich hab ihr nur ein einziges Mal nachgegeben. Am Morgen nach einer Schlaftablette bist du groggy, aber nach zweien stehst du komplett neben dir und hast das Gefühl, die Welt um dich herum hätte ein Echo.
All das sage ich mir heute Abend, damit ich, wenn ich später aufwache, kein zweites Mal nachgebe. Ich muss morgen so normal wie möglich sein. Mich gut benehmen und gut aussehen. Ich dachte, ich könnte Jill bitten, mir ein paar von ihren Girlie-Klamotten zu leihen, aber sie wird schon Theater machen, wenn sie hört, worum ich sie hauptsächlich bitte. Wenn sie’s je hört. Ich schiebe es immer noch vor mir her, sie anzurufen, dabei ist es gleich elf. Ich versuche immer noch, an andere Dinge zu denken, um nicht zum hundertsten Mal zu wiederholen, was ich sagen werde, wenn ich mich endlich traue, sie anzurufen.
Aber noch mal zu Dad an dem Abend, bevor er ausgezogen ist. Wir waren unten in seinem Zimmer. Am Fußende des Bettes stand sein kleiner Rollkoffer, den Mam und er schon gepackt hatten. Dad lag auf dem Bett, ob glücklich oder traurig, war schwer zu sagen. Er hatte seine Tabletten genommen und schwankte zwischen aufgekratztem Reden und ausdauerndem Gähnen. Ich hatte auch was eingeworfen. In der Tasche meiner Jeansjacke hatte ich die Zidane-DVD, die ich in seinem Zimmer ausgegraben hatte. Cruel to be kind, dachte ich, so heißt’s doch in dem Song, oder? Ich saß im Sessel neben seinem Bett wie ein Besucher im Krankenhaus.
»Du bist schon reisefertig?«, sagte ich.
»Reisefertig, ja.«
»Es macht dir nichts aus zu gehen, stimmt’s? Ich meine, es ist ja auch nur für zwei Wochen.«
»Nein, es macht mir nichts aus«, sagte er gähnend und sich streckend. »Ich muss mal raus aus der Bruchbude.«
»Du könntest nach oben ziehen, wenn du wolltest.«
Er drehte sich vom Rücken auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen und schaute in den abendlichen Regen. Ich sah nur noch seinen Rücken.
»Ich meine das ganze Haus«, sagte er. »Es ist so alt. Hast du ihm schon mal zugehört?«
»Nachts. Das Knacken. Das Klopfen und Gurgeln in den Leitungen. Bald wird die ganze Bude zusammenkrachen.«
»Das Haus hier kracht ganz bestimmt nicht zusammen.«
Jetzt schaute er sich im Zimmer um. Die Bilder an den Wänden, den Fernseher, die Regale mit den DVDs – er schaute alles an, nur mich nicht.
»Kommt Marta noch mal zurück?«, fragte er.
»Wenn du wieder zu Hause bist.«
»Sie kommt aus einem kleinen Dorf in den Bergen. Es fehlt ihr sehr«, erzählte mir Dad. »In dem Dorf gibt es nur drei Straßen, die Obere Straße, die Mittlere Straße und die Untere Straße. Sie bauen dort Wein an, und über dem Dorf steht eine alte Ruine, die nennen sie Dreimädchenschloss.«
»Klingt schön.« Wenn es so schön ist, dachte ich, warum verziehst du dich nicht dahin, Marta?
»Menschen sollten nicht irgendwo leben müssen, wo sie nicht leben wollen. Tiere auch nicht. Der arme alte Argos. Ich hätte ihn nicht schlagen dürfen.«
Ich stand vom Sessel auf und ging zum Fenster. Dann zog ich die DVD heraus.
»Ich möchte dir was zeigen.«
»Was?«
Tief drinnen wusste ich, dass ich etwas Verantwortungsloses tat, aber alles, was ich denke und fühle, ist im Augenblick eben nur tief in mir drinnen, tief unter dem Nebel in meinem Kopf. Ich ging zum Fernseher und legte die DVD ein.
»Du bist dünn, aber ich kann trotzdem nicht durch dich durchsehen«, sagte er mit hoher, aufgeregter Stimme.
Ich ging auf Szenenauswahl und pickte irgendeine Szene heraus. Die Musik war cool, Drums und eine starke Basslinie über einem Elektrosound. Ich trat beiseite.
»Ist das der Mann, Jimmy?«
Dads Augen wurden groß. Sein Mund stand offen, als würde er gleich anfangen zu sabbern. Er sah erschrocken aus. Blöd. Sieh doch nicht immer so blöd aus, Dad! Er fingerte an seiner Armbanduhr, drückte die Knöpfe. Aber er konnte die Augen nicht vom Bildschirm losreißen. Zidane im schwarz-weißen Real-Madrid-Trikot. Es ist ein Flutlichtspiel. Die Kamera folgt nicht dem Spiel, nur ihm, jeder seiner Bewegungen. Seine Augenhöhlen sind kleine dunkle Seen im glänzenden Weiß. Er macht diesen Trick, wo er den Ball mit der Sohle mitnimmt, und stürmt dann los. Manchmal sieht man keinen der anderen Spieler und auch kein Publikum. Er schaut. Er schaut die ganze Zeit und scheint Dinge zu sehen, die außer ihm niemand sehen kann.
»Ist er das?«, fragte ich.
Er schaute mich an, als wollte er sagen: Warum tust du mir das an? Dann wurde sein Gesichtsausdruck härter.
»Wenn er hierherkommt, bring ich ihn wieder um, ich schwör’s«, sagte er.
»Wieder?« Das Wort rutschte mir schnell heraus, aber dann brauchte ich eine Weile, bis ich weiterreden konnte. »Es ist in Ordnung, Jimmy, du kannst es mir sagen. Es ist unser Geheimnis. Sag mir, woran du dich erinnerst.«
»Feuer auf dem Wasser?«
Ich kniete mich neben das Bett und packte ihn am Arm.
»Versuch dich an mehr zu erinnern!«, sagte ich. »Was hat der Mann getan, dass du ihn umgebracht hast?«
»Ich weiß nicht. Ich war noch klein, wirklich klein, Eala«, sagte er. »Es geht mir schlecht, Eala. Mir wird schwindlig. Schalt das aus, bitte!«
Er verzog das Gesicht und schluchzte schwer. Ich sah, dass ich ihn quälte und dass er mir das übel nahm. Ich konnte ihm nicht noch mehr Fragen stellen.
»Jimmy, das ist ein Film über Zinédine Zidane«, sagte ich. »Er ist ein berühmter französischer Fußballer. Er hat in einem Weltmeisterschaftsendspiel zwei Tore geschossen und wurde in einem zweiten vom Platz gestellt. Er ist am Leben, Jimmy. Du hast ihn nicht umgebracht. Du kennst ihn nur vom Fernsehen, du bist ihm nie begegnet.«
»Er macht auch Bücher. Oben im Haus.« Er flüsterte und schaute dabei zur Decke. »Er ist böse.«
»Jimmy …«
»Ich bin auch nicht gut. Ich mache Dinge kaputt und verletze Menschen. Was bin ich für ein Mensch, Eala?«
»Du bist ein guter Mensch. Ein lieber Mensch.« Ich kniete neben dem Bett und konnte mich nicht bewegen, weil ich wusste, dass ich dann ins Dunkel stürzen würde. Hatte ich richtig verstanden? Er hatte als Kind einen Mann umgebracht? Wer konnte das gewesen sein? Und warum hatte er das getan? Er begann, an einem der gestickten Gänseblümchen herumzuzupfen, die mit ein paar Stichen lose an der Bettdecke befestigt waren.
»Was passiert mit mir, wenn ich die Nerven verliere, Eala?«
»Wir verlieren alle mal die Nerven.«
»Alan nie«, sagte er. »Und ich auch nicht, wenn ich mit ihm zusammen bin. Oder mit Marta.«
»Das ist gut«, sagte ich.
»Es wäre schön, wenn Alan mit mir in die Reha käme. Ich werde ihn vermissen«, sagte er. »Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn er nach Limerick zieht.«
Er zupfte an den Fäden, die das Gänseblümchen hielten, und plötzlich hielt er es in der Hand. Er schaute mich schuldbewusst an, dann drückte er’s mir in die Hand.
»Ich hab’s nicht absichtlich gemacht.«
Es ist seltsam, wie man sich in so einer Situation zusammenreißen und die Tränen zurückhalten kann, obwohl man später, wenn man allein ist, total zusammenbricht. Seit Dad weg ist, fühle ich mich jeden Tag schlechter. Trotz der Tabletten. Und was, wenn sie alle sind? Wenn mein Plan aufgeht, brauche ich mir wenigstens darüber keine Sorgen mehr zu machen. Er muss aufgehen. Mir fällt einfach nichts anderes ein, was Dad aus dieser Albtraumwelt geschredderter Erinnerungen erlösen und ihm wieder ein richtiges Leben geben könnte. Einen Grund zum Leben.
Ich nehme eins der Kissen von unter meinem Kopf und lege mich auf die Seite, dann schließe ich die Augen und halte das Kissen, als wäre es mein in eine weiche Decke gewickeltes Baby. Ich stelle mir vor, wie Mam austickt, wenn sie hört, dass ich schwanger bin. Aber dann bestehe ich darauf, dass ich das Baby behalte, und aus ihrem anfänglichen Zweifel wird pure Begeisterung. Dad ist erst nur fasziniert, aber ganz allmählich verwandelt sich die Faszination in die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Er liebt mein Baby und erkennt, dass er selbst Kinder hat. Dass ich eins dieser Kinder bin und dass er mich genauso liebt. Wenn er so weit ist, werde ich ihm auch sagen, dass sein dunkles Geheimnis bei mir sicher ist, begraben und versiegelt für immer.
Ich würde gern meine Schlaftablette nehmen und den Traum weiterträumen, aber erst muss ich dafür sorgen, dass er wirklich wird. Und dazu muss ich Jill anrufen. Und danach Brian. Ich scrolle Jills Nummer und drücke die grüne Taste.
»Eala?«
»Na, wie …wie geht’s?«
Reiß dich doch zusammen!, sagt Angie. Du nuschelst ja!
»Sorry, dass ich so spät noch anrufe.«
»Es ist halb zwölf«, sagt Jill schläfrig. »Bist du okay? Hast du was getrunken?«
»Was?«
Jetzt werd nicht gleich sauer!, sagt Angie.
»Nein, nein, ich bin nur ein bisschen müde. Aber schlafen kann ich trotzdem nicht, und da … Ich dachte nicht, dass es dir was ausmacht, wenn ich anrufe.«
»Tut’s auch nicht. Ich hab nur einen Schreck gekriegt.«
Ich weiß nicht, wer mehr danach klingt, als ob er was eingeworfen hätte, sie oder ich.
»Alles klar bei dir?«, sage ich.
»Ja, sehr gut. Ruhig.«
»Sind Win und Richard schon in Dublin?«
»Nein. Erst nächste Woche.«
»Es ist schade«, sage ich. »Ich meine, dass sie jetzt doch zurückgehen, nicht, dass sie noch nicht zurückgegangen sind.«
»Eala, du klingst komisch. Soll ich rüberkommen?«
»Nein, nein. Mach dir keine Sorgen, ich bin nur ein bisschen durch den Wind.« Und dann kriege ich doch noch die Kurve: »Aufgeregt halt.«
»Aufgeregt? Warum?«
»Ich geh mit Brian.«
»Hab’s schon gehört«, sagt sie. »Er wird dir das Herz brechen, Eala, ich hab dich gewarnt.«
»Du bist auch drüber weggekommen.«
»Das war was anderes.«
Für meinen Geschmack hätte sie das jetzt nicht zu sagen brauchen.
»Eala, da gibt es was, das du über ihn wissen solltest. Ich wünschte, ich müsste es dir nicht erzählen …«
»Ich weiß alles, was ich über Brian wissen muss, glaub mir«, sage ich, aber im Stillen denke ich: Woher weiß sie, dass Brian in dem Auto war, das gegen die Ufermauer gerast ist?
»Das glaube ich eben nicht, Eala. Win hat mir erzählt …«
»Ich weiß es«, sage ich. »Brian hat’s mir erzählt, okay? Er war blöd und hat einen großen Fehler gemacht, was soll’s.«
»Aber wie kannst du mit jemandem gehen, der so … so verantwortungslos ist und sich um nichts und niemanden schert?«
»Ich will’s einfach.«
Trag dicker auf!, sagt Angie.
»Ich hab’s so satt, niemanden zu haben.«
»Du müsstest nicht so oft allein sein, das weißt du. Ich frag dich andauernd, ob du mit ins Kino oder sonst wohin gehst.«
Wenn du mit verschreibungspflichtigen Medikamenten vollgepumpt bist, arbeitet dein Gehirn langsamer – was nicht immer schlecht ist. Wenn dir die Gedanken im Höchsttempo durch den Kopf jagen, bringst du sie schwer wieder auf die Reihe und scheiterst an den einfachsten Sachen. Und das hier ist eine einfache Sache: Win, Brian und Richard – wie konnte ich nur so blind sein?
Win hat mir erzählt … Jill redet nicht von dem Autounfall, sondern von Wins Schwangerschaft. Plötzlich sehe ich ein Bild vor mir: Es ist Silvester, wir sitzen auf dem Schaufenstersims von Mrs Caseys Laden, und Brian sagt mir, ich soll Jill nicht glauben, wenn sie schlecht über mich spricht. Und Win auch nicht, das ist ihm wichtig. Wahrscheinlich hat Win dafür gesorgt, dass er so schnell und unerwartet mit Jill Schluss gemacht hat. Ihn gewarnt, dass er die Finger von ihrer kleinen Schwester lassen soll.
»Eala? Sag doch was!«
Wie lange hat sie wohl auf eine Antwort von mir gewartet? Ich stehe auf und gehe durchs Zimmer, um mein Gehirn in Gang zu bringen und nicht gleich wieder wegzudriften.
»Bin wieder da. Ich dachte, ich hätte Tom gehört«, sage ich. »Also es gibt da was, worum ich dich bitten möchte.«
»Ja?«
Sie sagt nicht Klar! oder Geht in Ordnung!, sondern Ja?, als würde sie im Stillen denken: Bin gespannt, mit was die Verrückte als Nächstes kommt.
»Morgen Abend … ich erzähl Mam, dass du mich zum Übernachten einlädst, geht das in Ordnung?«
Keine Antwort. Ganz ruhig, Eala!, sagt Angie. Spiel die süße, unschuldige Maria aus der »West Side Story«!
»Es ist nicht Brians Idee, Jill«, sage ich. »Und ich hab nicht die Absicht, mit ihm … du weißt schon, was ich meine. Ich bin verknallt, aber nicht blöd.«
Ich lache, und es klingt wie ein Girlie-Lachen. Aber ich muss nachlegen.
»Bitte, Jill! Die ganze Zeit, seit …«
Nein, Angie, ich bring jetzt nicht Dad ins Spiel!
»… ich hab noch nie was von dir verlangt, Jill, bitte lass mich jetzt nicht hängen! Mich zieht’s jeden Tag ein bisschen mehr runter.«
»Eala?«
»Es geht in Ordnung, ja?«
»Okay«, sagt sie. »Aber es gefällt mir nicht. Ich mach mir Sorgen um dich. Du bist die ganze Zeit schon nicht mehr du selbst.«
Nicht du selbst. Ich hasse diese Phrase, aber ich lasse sie ihr durchgehen.
»Das weiß ich doch. Aber das wird wieder. Ich schaff das. – Danke, Jill!«
Ich mache schnell Schluss. Mein Herz überschlägt sich fast. Mein Mund ist staubtrocken. Das ist er zurzeit allerdings immer. Ich nehme meine Schlaftablette und trinke ein Halbliterglas voll Wasser dazu. Mir wird schwummrig, und ich muss mich hinlegen. Das Bett ist wie ein Boot, das sich von der Vertäuung losgemacht hat. Ich habe noch fast alle SMS, die Brian mir nach dem Silvesterabend geschickt hat. Ein paar davon lese ich jetzt. Die Art, wie er um ein Treffen bettelt, gibt mir den Mut, ihn anzurufen. Ein Freizeichen, dann ist er dran.
»Eala.«
»Brian, hör nur zu und sag Ja oder Nein, okay? Sind deine Eltern schon in Marokko?«
»Sie fahren morgen früh.«
»Kann ich morgen bei dir übernachten?«
»Du meinst, hier schlafen …«
»Ja oder nein?«
»Äh … sicher … wenn du …«
»Ich komm um neun.«