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Halb elf. Ich gehe wieder nach unten. Im Keller reden Mam und Dad, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, dass es ein ganz normales Erwachsenengespräch ist. Es funktioniert nicht. Ich höre immer nur Jimmys »Die mögen mich nicht«. Er ist nur ein Kind, sage ich mir, Kinder vergessen solche Dinge schnell, das weißt du doch. Und wenn sie zum ersten Mal ihr schönes neues Zimmer sehen, wahrscheinlich erst recht. Den Fernseher, die Xbox, den CD-Player, den Hometrainer und all die anderen tollen Sachen.

Dads neues Zimmer liegt nicht wirklich im Keller. Es ist eher eine kleine Souterrainwohnung, die zur Hälfte unter der Erde und zur Hälfte darüber liegt. Es ist also nicht so, dass wir ihn in ein Verlies gesteckt hätten. Trotzdem fanden wir die Idee erst grässlich. Aber der Beschäftigungstherapeut, der extra kam, um mit uns über Dads »Wohnsituation« zu sprechen, fand, dass er dort am meisten Platz hätte.

Unser Haus sieht von außen groß aus, aber die Zimmer sind klein, und es ist ein bisschen verwinkelt mit vielen Stufen und kleinen Treppen. Das Zimmer ist ein großer offener Raum mit Fenstern nach vorn und hinten und einer Tür zum Garten. Es ist eigentlich der hellste Raum im Haus und war mehr oder weniger schon vor dem Unfall bezugsfertig. Und das Verrückteste ist, dass Dad ihn noch selbst renoviert hat.

»Ich versauere da oben in meinem Arbeitszimmer, ich brauch dringend einen Tapetenwechsel«, hatte er eines Tages im letzten Sommer verkündet. »Die Frage ist nur noch: das Souterrain oder Paris.«

»Ich kann dir übers Internet einen Flug buchen«, sagte ich.

»Und ich spendiere einen Reiseführer«, fügte Mam hinzu.

»Haha. Was sind wir mal wieder ein witziger Haufen!«

Drei Monate lang verbrachte Dad jede freie Minute da unten. Er riss eine Trennwand ein und isolierte die Außenwände. In eine Nische baute er ein kleines Bad mit Dusche. Sean half ihm bei den schwereren Sachen, und ich übernahm einen Teil der Anstreicharbeiten. Es folgten tagelange teils frustrierende, teils komische Erfahrungen mit Selbstaufbauregalen, dann war das neue Arbeitszimmer so weit. Nur Dad war es nicht.

Er verschob den Umzug immer wieder auf die Zeit, wenn er endlich die Peter-der-Panzer-Reihe fertig hätte. Dazu muss man wissen, dass er normalerweise erst eine Figur erfand, danach fünf bis sechs Plots ausarbeitete und die Sache dann in ein paar Monaten zu Ende brachte. Natürlich gab es Zeiten, in denen es langsamer voranging und man sah, dass ihm die Arbeit Mühe machte. Nicht dass er in solchen Phasen nur noch vor sich hin gebrütet hätte, aber man konnte ihn schon mal minutenlang ins Kaminfeuer im Wohnzimmer starren sehen. Wenn ich ihn dann fragte, woran er denkt, spielte er den witzigen Franzosen: »Ah, les profonditées de léxistence!«

Der letzte Band der Peter-der-Panzer-Reihe war so ein Fall, wo er Mühe hatte, zumal ihm ein paar andere wichtige Dinge dazwischenkamen. Es kamen Werbeaufträge herein, die er wegen der guten Bezahlung nicht ablehnen konnte. Der Erscheinungstermin eines wichtigen Buches, das er illustrieren sollte und auch wollte, wurde vorverlegt. Und zu allem Überfluss stürzte auch noch sein Computer ab und geriet in Brand. Das Glück im Unglück war, dass er den größten Teil seiner Arbeiten doppelt gesichert hatte, aber es dauerte ewig, bis auf seinem neuen Laptop alles so eingerichtet war, wie er es brauchte. Was bedeutet, dass die Peter-der-Panzer-Reihe nun nie mehr fertig werden wird. Selbst wenn er sich irgendwann daran erinnern würde, dass es dieses fehlende letzte Peter-der-Panzer-Buch gibt, könnte er es nicht mehr zeichnen.

Ich räume die Küche auf. Unter dem Stuhl, auf dem er gesessen hat, ist alles vollgekrümelt. Auf dem Tisch hat sein Milchglas ein Muster hinterlassen, das an verrutschte olympische Ringe erinnert. Obwohl ich weiß, wie absolut bescheuert das ist, ärgere ich mich darüber. Seit dem Unfall habe ich mich, passend zu Dads »Hausfrau-des-Jahres«-Schürze, von einem ganz normal unordentlichen Menschen in einen Putz- und Aufräumteufel verwandelt. Ich halte es in keinem Zimmer mehr aus, in dem nicht alles blitzblank und fein säuberlich an seinem Platz ist.

Mam hat mir mal von einer ihrer Klientinnen erzählt, die vom Putzen besessen war. Sie wohnte in der Davitt Street in einem Terrassenhaus, an dem ein öffentlicher Fußweg vorbeiführte. Mindestens einmal in der Woche hat die Frau den Weg geschrubbt, als wäre es der Fußboden in ihrem Haus, und wenn sie dann fertig war, machten sich irgendwelche jungen Typen aus der Gegend einen Spaß daraus, alles wieder einzusauen. Sie kamen mit matschigen Schuhen oder schlichen sich nachts zum Pinkeln hin, und die Frau schaffte es nicht, mit dem Putzen aufzuhören. Inzwischen weiß ich, wie sie sich gefühlt haben muss.

Ich räume auf, und im Nachbarhaus hat Mrs Caseys Schäferhund Argos einen seiner Jaulanfälle. Dann sind von der Hintertür her gedämpfte Stimmen und polternde Geräusche zu hören. Das können nur Sean und sein Saufkumpel sein. Ich öffne die Tür und sehe Brian zuerst. Er ist groß, hat einen verschlafenen Blick und weiß, dass er gut aussieht. Seine Haare sind sorgfältig nach Art des frühen Bob Dylan gestylt. In unserem Musical, in einem früheren Leben also, hat er die Rolle meines Adoptivvaters gespielt. Jetzt sieht er besorgt aus. In der Dunkelheit hinter ihm pinkelt Sean schwankend gegen die Hauswand. Ich hatte recht mit dem Cider. Ich kann es riechen.

»War nicht so viel, wie du denkst, Eala«, sagt Brian. Er starrt mich an, und mir geht auf, dass ich ja die Schürze trage. Bescheuert.

»Alles klar.«

Sean taumelt gegen seinen besten Kumpel. Den besten Kumpel, der ihm Jill weggeschnappt hat, obwohl er, Sean, es war, der zuerst was mit ihr anfangen wollte. Inzwischen hat der beste Kumpel Jill längst wieder abserviert und ein paar andere hirnlose Tussis noch dazu.

»Du hast so recht, Mann«, sagt Sean zu Brian. »Ich muss die Ärmel hochkrempeln und … und …«

»Du kommst hier erst rein, wenn du wieder nüchtern bist«, sage ich, aber er schiebt mich beiseite.

»Mir geht’s gut, Mann«, sagt er.

Dieses »Mann« ist ein deutliches Zeichen dafür, dass er gut abgefüllt ist. Brian legt mir die Hand auf die Schulter, als wäre er wieder der neue Dad im Musical.

Manchmal hasse ich es, so klein zu sein. Und für heute reicht’s mir sowieso. Ich hole aus, um ihm eine runterzuhauen, aber er kriegt mein Handgelenk zu fassen, bevor meine Hand ihn erreicht. Er glaubt, dass er mir wehtut, und ich lasse ihn für ein paar Sekunden in dem Glauben.

»Entschuldige!«, sagt er, als er mich loslässt, aber irgendwie bleibt er mit den Fingern an meinem Armband hängen, und es reißt. Es ist ein billiges Bändchen mit blauen Perlen, aber ich habe es selbst gemacht und bin sauer. Als er es aufheben will, sage ich ihm, dass er sich verpissen soll.

»Hau ab!«, sage ich und schlage ihm die Tür vor der Nase zu.

Sean ist so wackelig auf den Beinen, dass er sich, als wir in der Küche sind, am Tisch festhalten muss.

»Du bist so ein Arsch, Sean. Mach dir Kaffee! Und putz dir die Zähne, du stinkst aus dem Hals!«

»Warum wolltest du Brian schlagen?«, fragt er. »Wenn’s ihn nicht gäbe, wär ich gar nicht hier, Mann. Wir zwei haben alles besprochen. Ich weiß jetzt, was ich tun muss. – Wo sind sie?«

Sein Kopf hängt halb auf der linken Schulter, bis er ihre Stimmen hört. Dann ist es, als hätte ihm jemand einen Eimer Wasser ins Gesicht geschüttet, der ihn schlagartig nüchtern macht. Er reißt die Augen auf, als wäre er irre. Dann bewegt er sich in Richtung Flur, und ich folge ihm, um ihn aufzuhalten. Aber er ist zu stark für mich. Seine Stimme ist jetzt sanft. Weil er auch noch bekifft ist, vermute ich.

»Es ist okay, Eala«, sagt er. »Ich bin bereit für ihn.«

»Bist du’s, Sean?«, ruft Mam von unten, als wir die Treppe ins Souterrain hinuntergehen.

»Du brichst Mam das Herz«, zische ich verzweifelt.

»Niemals, Mann«, murmelt er. »Sie wird stolz auf mich sein, da kannst du drauf wetten.«

Ein paar Stufen von der offenen Tür entfernt beginnt Sean, laut zu singen.

»Jimmy, Jimmy!«

Er imitiert das Da-na-na-na-na eines Gitarrenriffs und singt weiter.

»Jimmy, Jimmy!«

»Sean?« Ich höre das Zittern in Mams Stimme, und mir rutscht der Magen in die Kniekehlen.

Dann stehen wir in seinem Zimmer. Jimmy starrt Sean mit großen Augen an, großen Augen, in denen Überraschung steht und Angst. Mam durchbohrt Sean mit einem Blick wie eine Dolchklinge, aber er merkt es nicht. Er geht auf Jimmy zu und schlingt die Arme um ihn.

»Jimmy, Jimmy!«, singt er mit geschlossenen Augen.

Es sieht aus, als würde Jimmy Sean stützen, obwohl er selbst kurz davor ist, in Panik zu geraten. Ich lächle ihn an, als wäre das, was hier abgeht, vollkommen normal und nichts, wovor er Angst haben müsste. Dann entlässt ihn Sean aus der Bärenumklammerung und sagt: »He, warum spielen wir nicht eine Runde Premiership, Jimmy?«

»Ja«, sagt Jimmy. Und dann: »Premiership?«

»Fußball, Jimmy, erinnerst du dich?«, sagt Sean. Dann erst fällt ihm ein, dass wir Dad nicht fragen sollen, ob er sich an irgendwas erinnert, weil ihn das nur verunsichert. »Es ist ein neues Spiel, ich zeig dir, wie man’s spielt. Ich wette, dass du mich mal wieder fertigmachst.«

Jimmy gluckst. Er hat einen Kumpel gefunden.

»Ein Spiel, okay?«, sagt Mam mit einem Gesicht, als wäre es eine Porzellanmaske, die jeden Augenblick zu Staub, Sand oder was weiß ich zerfallen kann. »Es ist schon spät.«

Wir lassen sie spielen, aber ich glaube nicht an diesen neuen Sean, so wenig wie Mam. Die Zeit, die wir bis nach oben brauchen, kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Wir haben überall zusätzliche Geländer an die Wände montieren lassen, um Dad das Treppensteigen zu erleichtern. Jetzt sind wir es, die ein zusätzliches Geländer brauchen.

»Ich kann’s nicht glauben, dass Sean sich ausgerechnet heute Abend hat volllaufen lassen«, sage ich.

»Es wird ihm noch leidtun«, sagt Mam.

Sie zittert und hält sich mit beiden Händen am Geländer auf der Wandseite fest. Dabei drückt sie die Stirn gegen die Holztäfelung, dass es wehtun muss.

»Wenigstens hat er Jimmy aufgeheitert«, sagt sie. »Das ist mehr, als ich bisher geschafft habe.«

Sie lässt das Geländer los und atmet tief ein.

»Wir schaffen das, Eala. Wir müssen es schaffen.«

Unten lachen sich Sean und Jimmy scheckig. Und ich bin so bescheuert eifersüchtig auf Sean, dass ich mich frage, ob ich es nicht auch mit Cider hätte probieren sollen.