28

»Hoher Besuch am niedrigen Tisch« – so sagte Dad immer, wenn das gute Porzellan auf den Tisch kam und die Gäste im Wohnzimmer bewirtet wurden. Dann brannte auch ein Feuer im Kamin, und als ich noch klein war, wollte ich immer diejenige sein, die den Tee einschenkte und das Gebäck auf den vornehmen Goldrandtellern herumreichte. Heute Abend übernimmt das Mam. Sean sitzt still und mit roten Augen da. Er schaut mir nicht in die Augen, und ich wüsste zu gern, ob er mich verraten hat. Mich und Dad. Miss U hat offenbar die Gesprächsleitung.

»Und die Proben laufen gut?«, fragt sie mich.

Ein freundlicher Blick ruht auf mir, den Kopf hat sie auf ihre nervige Weise zur Seite geneigt. Trotzdem ist irgendetwas an ihr anders, irgendetwas, das ich in meinem Zustand nicht benennen kann.

»Geht so. Macht Spaß.«

»Die ›West Side Story‹ – es ist eine moderne Version von ›Romeo und Julia‹, stimmt’s? Und wer ist dein Romeo?«

»Ein Idiot namens Derek.«

Mams Blick soll eine Warnung sein.

»Fiona möchte, dass wir etwas miteinander besprechen. Etwas, worüber wir gemeinsam entscheiden müssen.«

»Wir können darüber allein reden«, sage ich.

Ich beobachte Miss U und die liebevolle Art und Weise, wie sie Sean anschaut.

»Die Dinge haben sich … die Dinge haben sich heute Abend zugespitzt, Eala«, sagt Mam, und ich denke: Hier gehts nicht um die Sache mit Dads Gefängnisaufenthalt. Hier gehts darum, was heute Abend passiert ist. Ich hatte also recht: Martin hatte Mam angerufen.

»Wir müssen alle versuchen, die Sache nüchtern zu betrachten …« Mam kämpft mit sich, und ich fahre schon die Krallen aus, aber Sean funkt mir dazwischen.

»Starsky war hier.«

»Und?« Ich werde dummerweise rot, als Brians Vater erwähnt wird, aber mein Gehirn funktioniert trotzdem erstaunlich gut. Dann hat Martin also auch Starsky angerufen und ihm von Dads Ausraster erzählt.

»Ich hab ihm gesagt, dass ich den Hund nicht vergiftet hab, und er: ›Schön, aber ich mach ab morgen Urlaub in Marokko, und egal welcher Kollege den Fall übernimmt, er wird deinen Vater befragen müssen.‹ – Da hab ich’s zugegeben.«

Sagt Sean. Und ich sitze auf einer außer Kontrolle geratenen Berg-und-Tal-Bahn, die mit unberechenbaren Rucken ständig das Tempo und die Richtung wechselt.

»Er will versuchen, dass die Sache außergerichtlich geregelt wird, aber so will ich gar nicht davonkommen«, sagt mein Bruder. »Ich hab’s nicht verdient.«

»Wir sind alle an unseren Grenzen, Sean«, sagt Mam. Und mit einem Blick zu mir. »Wir alle

Ich halte einen zerkrümelten Keks in der Hand und weiß weder wie er da hingekommen, noch wie er zu Bruch gegangen ist. Ich mache eine Faust, damit die Krümel nicht auf den Boden fallen. Mein Kopf verweigert das Denken, aber alle drei starren mich an. Sag was, sagt Angie, egal was!

»Der Mann ist Zinédine Zidane.«

»Zinédine Zidane?«, fragt Miss U.

Ich erkläre ihnen meine Theorie, aber ich weiß selbst, dass sie nicht sehr überzeugend klingt, weil ich Dads Kopfstoß auslasse. Ich rede trotzdem immer weiter. Mam und Sean sind wie hypnotisiert, aber ich merke bald, dass es nicht meine Geschichte ist, die sie so fasziniert. Was sie fasziniert, bin ich selbst.

»Du interpretierst zu viel in diese komische Bewegung hinein«, sagt Miss U. »Jimmy hat physisch unglaubliche Fortschritte gemacht, aber es ist schwer, eine Hemiplegie ganz zu überwinden.«

»Eine Hemi…?« Ich habe das Wort schon mal gehört und wusste wahrscheinlich auch, was es bedeutet, aber jetzt gerade klingt es wie ein Planet aus einem von Seans Science-Fiction-Comics.

»Die einseitige Lähmung nach dem Unfall«, sagt Miss U.

»Ich weiß«, sage ich.

Ich halte mich mit der freien Hand an der Sofalehne fest, damit man nicht sieht, wie sie zittert. Die Krümel in der anderen Hand sind inzwischen feucht von Schweiß. Dann kommt Mam und setzt sich neben mich. Sie legt den Arm um mich. Ich möchte nicht berührt werden, aber wenn ich wegrücke, halten sie mich für noch komischer als sowieso schon.

»Ich dachte, die Zidane-Sache könnte irgendwas bedeuten«, sage ich. »Tut mir leid.«

»Es muss dir nicht leidtun«, sagt Mam. »Wir sind einfach alle erschöpft. Wir müssen …«

Sie schaut zu Miss U, die sieht, was ich auch sehe, nämlich dass Mam plötzlich gar nicht mehr gut drauf ist. Ihr Blick signalisiert Verärgerung. Und Miss U reagiert. Nach einem Schluck Tee, bei dem die Untertasse klappert, verwandelt sie sich von der Freundin in die Psychologin vom Dienst.

»Als Erstes möchte ich festhalten, dass in solchen Situationen in der Regel niemand das Gefühl hat, irgendetwas richtig zu machen. Es ist vollkommen normal, dass wir denken, wir hätten versagt und seien unserer Aufgabe nicht gewachsen.«

»Wir?«, unterbreche ich sie. »Was soll der Quatsch? Du gehörst nicht zu uns. Du kannst gar nicht wissen, wie es ist.«

»Da hast du natürlich recht«, sagt Miss U. »Ich kann nicht wissen, wie es ist. Aber ich kann sehen, wie überfordert ihr alle seid und dass es so nicht weitergehen kann, nicht ohne …«

Tabletten, denke ich und mag nicht, wie Miss U mich ansieht, als wüsste sie, was ich denke. Ich wünschte, ich könnte aufhören, mit dem Fuß zu wippen, aber ich kann es nicht.

»… eine Pause. Ihr habt gesehen, dass Jimmy in letzter Zeit gewisse, nun, Verhaltensauffälligkeiten an den Tag legt. Das heißt, er braucht Hilfe. Von außen. Euer Problem ist, dass das, was er tut, so untypisch für den Mann ist, den ihr gekannt habt. Darum fällt es euch so schwer, damit umzugehen.«

Sean und ich tauschen Blicke. Er schaut, als wolle er mit erhobenen Augenbrauen eine Frage stellen, und mein Stirnrunzeln spricht eine deutliche Warnung aus.

»Das Normale in dem Stadium wäre, dass der Psychiater ihn ambulant behandelt und eventuell neu auf seine Medikamente einstellt«, fährt Miss U fort. »Aber Doktor Reid würde Jimmy gern für ein paar Wochen dabehalten, und zum Glück ist gerade ein Platz frei geworden. Plätze für vorübergehend Pflegebedürftige sind zurzeit ausgesprochen rar – ihr wisst ja, die Einsparungen überall im Gesundheitswesen, da muss man …«

»Genau so fängt es an«, sage ich.

»Aber wenn es für ihn das Beste ist«, sagt Sean. »Wir können doch wirklich alle nicht mehr. Du auch nicht.«

»Maximal zwei Wochen«, sagt Mam. »Dad wird komplett neu eingestellt, und wir hier können in der Zeit unsere Batterien aufladen und ...«

»… uns schon mal daran gewöhnen, dass er nicht hier ist«, falle ich ihr ins Wort. »Nächstes Mal sind es dann vier Wochen, dann sechs und immer so weiter. Das ist der Plan, hab ich recht, Mam?«

»Es gibt keinen Plan. Wir tun, was wir tun müssen.«

»Was du tun musst«, setze ich zu einem Tiefschlag an. »Hast du’s mit Martin auch schon besprochen? Ich wette, er hält es für eine klasse Idee.«

Mam stellt ihre Tasse auf den Sofatisch, und ich wünschte, ich hätte Martin nicht erwähnt. Oder nein: Ich wünschte, ich hätte Martin nicht vor Miss U erwähnt. Mam steht auf und wischt sich ein paar Krümel von ihrem Kleid. Krümel auf dem Fußboden kann ich nicht sehen. Ich muss mich zwingen, nicht aufzustehen und sie aufzusammeln.

»Die Wäsche muss in den Trockner«, sagt Mam und streift uns mit einem Ich-bin-euch-haushoch-überlegen-Blick, bevor sie aus dem Wohnzimmer verschwindet.

Miss U schaut ausnahmsweise nicht verständnisvoll. Sie ärgert sich über mich und kann es nur schwer verbergen. Sie starrt mich an. Wir können gern den ganzen Abend wütende Blicke austauschen, Miss U, denke ich, aber unterkriegen wirst du mich nicht! Am liebsten würde ich sie auslachen.

»Du hast was genommen, Eala«, sagt Sean. »Du bist total von der Rolle.«

»Du denkst, alle anderen wären genauso blöd wie du?«

»Hat Brian …«

»Ich hab nichts mehr mit Brian, okay? Ich war drei verdammte Tage mit ihm zusammen, vielleicht auch vier, so genau kann ich mich nicht erinnern, und das war’s, okay? Ich hab mit ihm Schluss gemacht, okay?«

Miss U hört nicht auf, mich anzustarren, und plötzlich weiß ich, was an ihr anders ist. Sie hat angefangen, sich um ihr Aussehen zu kümmern. Ein bisschen Make-up, ein dunkelgrünes Kleid, das gut zu ihren Mäusehaaren passt, die sie sich stufig hat schneiden lassen, damit sie voller wirken.

»Trennungen sind nie leicht«, sagt sie, jetzt wieder ganz die Verständnisvolle.

»Lass Brian aus dem Spiel! Mit ihm hat das hier überhaupt nichts zu tun!« Innerlich schreie ich, aber was aus mir herauskommt, ist ein Wimmern. »Kannst du uns nicht einfach in Ruhe lassen? Warum willst du unsere Familie auseinanderreißen?«

»Das schaffen wir schon allein«, sagt Sean.

»Sean, Eala!« Die plötzliche Schärfe in Miss Us Ton trifft mich unvorbereitet. »Jetzt hört mir bitte gut zu: Wir alle, mich eingeschlossen, haben eine Idealvorstellung von der Familie, von ihrem Zusammenhalt und davon, wie sie sich in kritischen Zeiten bewähren muss. Aber in der Realität funktionieren wir leider nicht immer so. Wir streiten, arbeiten mit Schuldzuweisungen und haben Zweifel an den Motiven des jeweils anderen. Wir fügen einander Verletzungen zu, und wenn wir damit immer nur weitermachen, können diese Verletzungen niemals heilen.«

Während Miss U redet, höre ich Mam kommen. Ich wünschte, mir würde irgendeine schlaue Antwort auf Miss Us Gelaber einfallen, aber natürlich fällt mir keine ein. Solche Antworten fallen einem nie ein, oder wenn, dann hinterher, wenn es zu spät ist. Mir geht es jedenfalls so. Lesprit descalier, hat Dad das genannt, was mir fehlt. Und sowieso brauche ich jetzt eine Tablette dringender als einen Streit mit Miss U oder Mam, die inzwischen im Wohnzimmer steht. Meine Rettung ist Tom, der aufgewacht ist und weint. Ich stehe auf, aber Mam stellt sich mir in den Weg.

»Ich geh nach Tom sehen«, sage ich zu ihr.

»Martin und ich sind Freunde, mehr nicht, Eala.«

»Ich weiß. Ich weiß, ich hätte so was nicht sagen sollen.« Es ist eine glatte Lüge.

»Einverstanden, dass er dorthin geht?«, fragt sie.

»Ja.« Die zweite Lüge. »Es sind ja nur zwei Wochen.«

Sie lässt mich vorbei. Als sie meinen Arm berührt, versuche ich, nicht zusammenzuzucken.

»Alles wird gut, Eala.«

»Ja.« Die dritte und größte Lüge von allen. Ich gehe weiter und rufe vom Fuß der Treppe: »Ich komme, Tom!«

Die Tür zu Mams Zimmer ist nur angelehnt. Ich sehe Tom, wie er zur Decke schaut. Inzwischen weint er leise und ohne dass eine einzige Träne fließt. Bevor ich zu ihm gehe, husche ich schnell in mein Zimmer und hole zwei Tabletten aus dem Versteck im Schrank. Eine zur Beruhigung und eine zweite von denen, die mich erst kurz hochbringen und dann sanft nach unten schweben lassen. Die zweite ist eine von den Hämmern, das Antidepressivum. Ich schlucke die Pillen im Bad, mit Wasser aus dem Kaltwasserhahn. Es ist lauwarm und schmeckt abgestanden. Dann gehe ich und kümmere mich um Tom.

Er sitzt aufrecht im Bett, der grüne Traktor liegt neben ihm. Er streckt mir die Arme entgegen, und ich hebe ihn hoch und drehe mich mit ihm im Kreis, bis er zu kichern anfängt. Dann stecke ich ihn wieder unter die Decke, und er lehnt sich ins Kissen zurück und hält meine Hand.

»Eine ’schichte, Eala«, sagt er, und ich lege mich neben ihn.

»Eines schönen Tages traf Peter, der Panzer, ein Rudel Teekannen, die …«

»Buch ... Buch ’esen ...«

Warum eigentlich nicht? Warum soll ich ihm die Geschichte nicht vorlesen? Ich muss ihm ja nicht gleich erklären, wer das Buch geschrieben und gemalt hat.

»Warte, ich hol das Buch.«

»’rücke«, sagt er und gluckst schon bei dem Gedanken an meine dämliche rote Lockenperücke.

»Aber nur, wenn du nicht über mich lachst«, sage ich und spüre, wie mein Gesicht auftaut, wie ein Lächeln es wärmt, auch wenn es ein blödes Lächeln ist.

Tom nickt und drückt das Gesicht ins Kissen, damit man nicht sieht, dass er kichert. Das Buch ist in Dads Arbeitszimmer. Ich muss das Licht nicht anmachen, weil ich weiß, in welchem Regal ich die Peter-der-Panzer-Bücher finde. In der Ecke neben dem Fenster steht die Schaufensterpuppe und wacht über Dads Geheimnisse. Sie hat keine Augen, keinen Mund und keine Ohren.

Auf dem Weg in mein Zimmer höre ich sie unten im Wohnzimmer leise reden. Ich wette, sie reden über mich und meinen seltsamen Auftritt von vorhin. Du musst deinen Mund halten, sagt Angie, und nicht mit jedem Blödsinn herausplatzen, der dir gerade einfällt, sonst glauben sie irgendwann, du bist auch verrückt. Von weiter unten ist gar nichts zu hören. Aber wahrscheinlich reden Dad und Martin auch, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, was sie einander zu sagen haben.

»Eala?«, ruft Tom.

»Ich komme.«

Als ich die Perücke aus dem Schrank hole, überlege ich, ob ich noch eine Angstpille nehmen soll, entscheide mich dann aber doch dagegen. Mit der Perücke auf dem Kopf schaue ich in den großen Spiegel in der Schranktür. Ich bin Angie, die Eala ansieht. Zwei sind raus, jetzt ist nur noch eine im Spiel, Eala. Sean und Judy haben Dad aufgegeben, jetzt liegt alles an dir. Aber was kann ich tun? Ich hab doch schon alles ausprobiert. Dir wird was einfallen, Eala, irgendwas, was Dad aus dem schwarzen Loch herausholt.

Zurück bei Tom breite ich die Arme aus und verbeuge mich vor meinem Publikum. Ein großer Auftritt, und Tom lacht sich schlapp.

»Miss’s Casey!«, gluckst er. »Du bis’ Miss’s Casey.«

Ich muss lächeln. Du weißt gar nicht, wie recht du hast, Tom. Ich setze mich zu ihm und schlage das Buch auf. »Peter, der Panzer, und die Teekannen«. Ich lese, und wie Mam und Dad, als sie Sean und mir vorgelesen haben, fordere ich Tom auf, mir die Sachen auf den Bildern zu zeigen, die ihm besonders gut gefallen.

»Pi’tole«, sagt er und zeigt auf das Kanonenrohr des Panzers. Jungs sind Jungs.

»Und welche Farbe hat die Blume da?«

»Rot.«

Er zeigt auf das Piratentuch, das Rosie, die Mechanikerin, auf dem Kopf trägt.

»Rot.«

Sein Finger fährt langsam über Rosies Gesicht und weiter nach unten über ihren Körper. Sie hat meine schwarzen Haare und meine leichte Himmelfahrtsnase, und auf ihren linken Arm ist ein kleiner Schwan tätowiert.

»Eala«, sagt er.

Ich lese weiter, lasse mir Zeit, bade im Geruch meines kleinen Bruders, der mit großen Augen staunt und dabei zufriedene Seufzer von sich gibt. Mit einer Hand knetet er meinen Arm, mit der anderen hält er den grünen Traktor fest.

Ich muss daran denken, wie es war, als er ein kleines Baby war. Ich weiß noch, wie ich neben ihm auf dem Bett lag und er mit seinen eifrigen kleinen Fäusten in die Luft boxte und die Beine bewegte wie ein Sprinter. Es war eine glückliche Zeit. Alle rissen sich um ihn, sogar Sean. Alle schwebten auf Wolke sieben. Das ganze Haus strahlte eine milchige Wärme und Zufriedenheit aus. Und Dad, der perfekte Dad, wechselte Windeln, prüfte auf seinem Handrücken, ob die Milch warm genug war, und sang Tom in den Schlaf, wie er schon Sean und mich in den Schlaf gesungen hatte. »Row, row, row your boat gently down the stream. Merrily, merrily, merrily, merrily, life is but a dream.« So wird es nie mehr sein. Außer … Außer wenn du dein eigenes Baby hast, lacht Angie, ha, ha, ha!

»Eala weint«, flüstert Tom.