15
Der Gerichtssaal ist eine Höhle. Die hohen Fenster sind so verrußt, dass das Nachmittagslicht als schmutzige Dämmerung drinnen ankommt. Die Farbe an den Wänden wirft Blasen und blättert, hier und da gibt es grünlich-schwarzen Schimmel. Es riecht wie auf einer Toilette, die jemand vor hundert Jahren zum letzten Mal benutzt hat, aber ohne zu spülen. Das Mobiliar ist aus dunklem Holz und klebt vor Schmutz. Der hohe Richtertisch thront über dem Zeugenstand, den zwei Sitzreihen für die Vertreter der Anklage und der Verteidigung und den unbequemen Bänken, auf denen alle anderen Platz genommen haben.
Mam, Sean und ich sitzen in der zweiten Reihe. Hinter uns sitzen Fiona Sheedy und Martin. In der ersten Reihe rechts von uns sitzen Clem Healy, sein Bruder Sham und sein Vater. Es ist das erste Mal, dass ich Clem Healy aus der Nähe sehe. Er ist klein, schmächtig und hat eine schwere Akne. Er sieht aus wie zwölf, aber ich weiß, dass er bald fünfzehn wird. Sein Vater, Trigger, ist klein, stämmig und hat den Schädel blank rasiert. In seinem schwarzen Anzug ohne Krawatte sieht er aus wie ein Türsteher von der Sorte, die dich nicht reinlässt, und du darfst dir selbst überlegen, warum. Der zugeknöpfte Hemdkragen gräbt sich ins Fleisch seines feisten Nackens. Sham ist die zwanzig Jahre alte Kopie seines Vaters, außer dass er übergroße Rapper-Klamotten trägt.
Clem war der Erste, den ich beim Hereinkommen gesehen habe. Mir wurde richtig schlecht vor Hass. Dass er die Kapuze seines Pullis aufhatte und blöd grinste, machte die Sache nicht unbedingt besser. Er schielte zu mir her, schien aber nicht zu checken, wer wir sind. Entweder das, oder es war ihm egal. Dann verschwand sein Grinsen, und er wurde das Kaninchen vor der Schlange. Sean hatte seinen Blick aufgefangen. Clem stieß seinen großen Bruder in die Seite, und der nahm das Blickduell mit Sean auf. Auch Trigger beteiligte sich daran.
»Hör auf, Sean, bitte!«, flüsterte Mam. »Lass den Machoquatsch, hörst du!«
Dann lehnte sich Martin nach vorn und wechselte ein paar Worte mit Sean, und das Blickduell war zu Ende. Trigger wandte sich Clem zu und schob ihm mit einer heftigen Handbewegung die Kapuze zurück. Clem zuckte zusammen, weil er einen Schlag erwartet hatte, aber es war Sham, der ihm den Ellbogen in die Rippen stieß.
Wir mussten drei andere Verhandlungen durchstehen, bevor unsere dran war. Ein Raub, ein Einbruch und zuletzt eine Spritztour im geklauten Auto. Zwei Jungen und ein Mädchen, alle dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre alt. Ganz normale Kids, nach denen man sich auf der Straße nicht umdrehen würde. Alle drei bekamen Bewährungsstrafen. Dass sie viel Reue zeigten, kann man nicht sagen.
Unsere Verhandlung begann vor einer halben Stunde. Ein Polizist berichtete von der Verfolgungsjagd den River Walk hinunter und von der Festnahme. Ein anderer erklärte, was es mit den Reifenspuren auf dem Bürgersteig auf sich hatte. Starsky, in einem ähnlichen Türsteher-Outfit wie Trigger, sagte aus, Clem habe erst behauptet, Dad hätte ihn vom Fahrrad stoßen wollen, dann aber zugegeben, dass er gelogen hatte. Obwohl es Clem abstritt, war sich Starsky sicher, dass jemand hinter dem Jungen her gewesen war. Er sagte auch, er sei der festen Überzeugung, dass Clem als Kurier für »verbotene Substanzen« unterwegs gewesen sei. Worauf der Richter ihm zu verstehen gab, dass er an Beweisen interessiert sei, nicht an Überzeugungen.
Dann sollte eine Frau im mittleren Alter den Radfahrer und Unfallverursacher identifizieren und zeigte auf Clem Healy. Sie hatte mit ihrem Auto gerade an der Ampel angehalten, als es passierte. Im Augenblick, als ich sie sah, wusste ich, dass es die Frau war, die Dads Kopf gehalten hatte, bis der Rettungswagen kam. Ich hasste sie dafür. Ich hätte es sein sollen, die seinen Kopf hielt. Aber das Schlimmste kam erst noch.
Dr. Reid, der Psychiater aus dem Rehazentrum, erklärte die Schäden, die Dad davongetragen hat. Er hat etwas von einem grauhaarigen Weisen. Dad hatte auch für solche Leute einen französischen Ausdruck parat, aber während Dr. Reid sprach, kam ich nicht drauf. Er ist mir übrigens immer noch nicht eingefallen. Zu Anfang waren die Ausführungen des Psychiaters voller unverständlicher medizinischer Fachausdrücke, aber die Staatsanwältin, eine dunkelhaarige junge Frau, drang schnell zum Kern der Sache vor.
»Was sind Ihrer Meinung nach die langfristigen Perspektiven für das Opfer, Dr. Reid?«, fragte sie, während sie effektvoll die Brille absetzte.
»Hier kann ich zusammenfassend sagen«, sagte Dr. Reid, »dass trotz einiger Fortschritte in jüngerer Zeit eine vollständige Wiedererlangung der vorherigen geistigen Fähigkeiten keine realistische Prognose ist. Auch die gegenwärtigen Verhaltensstörungen, Ängste und depressiven Verstimmungen werden mit großer Wahrscheinlichkeit anhalten.«
»Kurz gesagt«, sagte die Staatsanwältin, »Mr Summerton ist zu lebenslänglich verurteilt.«
»Mr Summerton ebenso wie seine Familie, ja, leider.«
Natürlich wusste ich das schon. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Ich saß wie versteinert und hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu versinken. Dad hätte die Worte des Psychiaters nicht verstanden, trotzdem war ich froh, dass er sie nicht hören musste. Und das, obwohl ich wusste, dass er zu Hause mit der Ice Queen allein war. Neben mir schluchzte Sean, und Martin legte ihm von hinten die Hand auf die Schulter.
Als ich sieben oder acht war, verbrachten wir mal die Sommerferien in Salthill. Ich wollte mit dem Riesenrad gegenüber der langen Uferpromenade fahren und von hoch oben auf die silberne Bucht von Galway schauen. Obwohl sie unter Höhenangst leidet, setzte sich Mam in den Sitz neben mich, und auf dem ganzen Weg hoch und wieder runter lehnte sie sich so weit wie möglich zurück und hielt meine Hand, als könnte ich sie halten, wenn irgendwas Schreckliches passierte. Daran musste ich denken, während Dr. Reid sprach und sie sich an mich klammerte und meine Hand drückte.
Nach dem Psychiater wäre ich an der Reihe gewesen. Aber dann kam es anders.
Seit zehn Minuten sind jetzt schon die Mikrofone ausgeschaltet, weil es vorne am Richtertisch eine Diskussion zwischen dem Richter, der Staatsanwältin, Clems Verteidiger, Starsky und einer großen rothaarigen Frau gibt. Sie reden so leise, dass wir nichts mitbekommen.
Clem Healy schaukelt nervtötend mit dem Oberkörper. Sein Vater scheint gleich zu platzen vor Ungeduld, und wir hören Sham »Jetzt kommt mal zu Potte!« murmeln.
Der Richter, ein älterer Mann mit einer Lesebrille, die ihm weit vorne auf der Nasenspitze sitzt, schaltet sein Mikrofon ein.
»Keine Unterbrechungen, bitte!«, sagt er. »Ist das klar?«
Trigger dreht sich zu den Leuten hinter ihm um, als wollte er den Tadel weiterreichen. Der Richter schaltet das Mikrofon wieder aus. Wie das hier abläuft, gefällt mir nicht. Mam auch nicht. Sie schüttelt den Kopf, als wäre ihr eine Frage in den Sinn gekommen, auf die sie lieber keine Antwort haben wollte. Dann ist die Diskussion am Richtertisch beendet. Clem Healys Verteidiger führt die rothaarige Frau zum Zeugenstand.
Aus der Entfernung sieht sie aus wie eines dieser Kleidergröße-Null-Models, und ihr eleganter Gang wirkt in dem schäbigen Gerichtssaal vollkommen deplatziert. Ich kann mir nicht vorstellen, wer sie sein soll. Eine weitere Augenzeugin des Unfalls – mit einer anderen Geschichte als der, die wir schon gehört haben? Starsky sitzt wieder auf seinem Platz in der Nähe der Staatsanwältin. Er hält den Kopf gesenkt.
»Miss Delahunty«, beginnt der Verteidiger, »können Sie uns eine Zusammenfassung ihres psychologischen Gutachtens über den Angeklagten geben?«
Himmel, denke ich, noch eine verdammte Psychotante! Ich weiß nur zu gut, was sie vorhat. Sie will dem kleinen Clem den Arsch retten. Ich drehe mich um und werfe Fiona Sheedy einen angeekelten Blick zu. Schwer zu sagen, ob es ein Lächeln oder ein nervöses Zucken ist, das ich zurückbekomme.
»Nun, also, meine Untersuchungen haben ergeben«, sagt die Catwalk-Psychologin, »dass Clement erstens, ohne jeden Zweifel an einer Form des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms leidet. Er leidet darüber hinaus an einer Reihe ernsthafter Lernstörungen, die mit diesem Syndrom und einigen anderen psychischen Problemen zusammenhängen. Alles zusammen weist auf ein erhebliches Defizit in der Persönlichkeitsentwicklung hin. Er zeigt eine ausgeprägte Lernschwäche, entsprechend schwache Leistungen in einschlägigen Tests sowie Defizite im Sozialverhalten, die durch familiäre Probleme noch verstärkt werden.«
»Das heißt«, sagt der Verteidiger, »Clement Healy ist nicht im vollen Umfang für seine Handlungen verantwortlich.«
»Ja.«
Mam hat ihre Hand weggezogen. Sie starrt mit leerem Blick auf die kranken Wände. Sean murmelt vor sich hin und schlägt mit der Faust in die offene Hand. Vor uns schaut Clem Healy dem Abgang der Psychologin zu, als versuchte er immer noch zu verstehen, was sie über ihn gesagt hat. Man hört die Absätze ihrer High Heels klacken, als sie zu ihrem Platz zurückkehrt. Der Verteidiger nickt Clem zu, und sein Vater haut ihm in die Rippen, damit er hinschaut. Er springt auf und rennt fast in den Zeugenstand.
Der Richter setzt die Brille ab. Er schaut in die Runde, und ich ahne, dass er uns, kurzsichtig, wie er ist, gar nicht erkennen kann. Vielleicht ist das gemeint, wenn es heißt, dass die Justiz blind ist. Er beginnt zu reden, aber er hat vergessen, das Mikrofon einzuschalten.
»Wir hören nichts«, ruft Trigger, und der Richter mustert ihn streng. Auch Starsky fixiert ihn und fährt sich mit der flachen Hand über den Hals. Trigger grinst. Dann meldet sich das Mikrofon mit einem durchdringenden Pfeifen. Der Richter trommelt mit den Fingern darauf. Clem Healy kann nicht still sitzen und hampelt im Zeugenstand herum, als müsste er dringend aufs Klo.
»Im Fall der Anklage gegen …« Der Richter blättert in der Akte vor ihm auf dem Tisch. »… gegen Clement Healy kann in Anbetracht des Gutachtens von Miss Delahunty ein Urteil ohne weitere Zeugenbefragung ergehen.«
Sean lehnt sich nach vorn und packt die Lehne des Vordersitzes.
»Ich komme nicht zu dem Schluss, dass dem Angeklagten irgendeine böse Absicht unterstellt werden kann. Vielmehr haben wir es ausschließlich mit dem Leichtsinn eines geistig nicht voll entwickelten Jungen zu tun. Mein Mitgefühl gilt Mr Summertons Familie. Dennoch halte ich die Unterbringung in einer Jugendstrafanstalt in diesem Fall für nicht angebracht. Ich verurteile Clement Healy hiermit zu einer Strafe von vierzig Stunden gemeinnütziger Arbeit …«
Clem Healy dreht sich im Kreis. Dann grinst er seinen Vater an.
Sean steht auf. »Das können Sie nicht machen!«, schreit er den Richter an. »Sie können ihn nicht einfach laufen lassen!«
»Setzen Sie sich, bitte!«, sagt der Richter. »Ich weiß, wie schwer das für Sie ist …«
»Sie wissen gar nichts«, schreit Sean. Er ist wütend und erregt, und ich weiß, dass das hier nicht das Ende der Geschichte ist. »Kommen Sie zu uns nach Hause, nur für eine Stunde, dann wissen Sie, wie es wirklich ist.«
Ein Polizist hat an einem Ende unserer Sitzreihe Stellung bezogen, und Starsky nähert sich zögernd dem anderen. Mam hat den Kopf gesenkt und hält sich die Ohren zu. Martin versucht, Sean auf den Sitz zurückzuziehen. Clem Healy drückt sich hinter seinen Verteidiger.
»Du bist tot!«, ruft Sean ihm zu. »Tot!«
»Bitte verlassen Sie nun alle den Gerichtssaal!«, sagt der Richter und schaltet das Mikrofon aus.
»Okay«, sagt Starsky. »Geht das leise, bitte? Du auch, Sean, okay?«
Wir bewegen uns langsam zwischen den Sitzreihen vorwärts, hinter uns der Polizist, vor uns Starsky, der Zeichen macht, dass wir ihm folgen sollen. Als wären wir Sträflinge, die in ihre Zelle geführt werden. Einer nach dem andern und jeder allein. Als wir an Starsky vorbeigehen, sagt er:
»Sorry, dass du das alles hast mitmachen müssen, Judy! Und für nichts …«
Mam zuckt mit den Achseln. Sean bleibt stehen, und ich versuche, ihn hinter mir herzuziehen. Er ist fast so groß wie Starsky und hat sich vor ihm aufgebaut.
»Was sind Sie für ein jämmerlicher Cop!«, sagt er. »Falschparker abkassieren, aber das war’s dann, ja?«
Im Flur vor dem Gerichtssaal ist es, als wären aller Augen nur auf uns gerichtet. Als warteten die Leute auf mehr. Sean drängt sich an mir vorbei, als wollte er dieser Hölle so schnell wie möglich entkommen. Martin folgt ihm auf den Fersen. Ich kann die Healys nirgendwo mehr sehen, und ich habe Mam und Fiona verloren. Das Stimmengewirr und das Getrappel der vielen Leute dröhnen in meinem Kopf. Der Geruch nach warmem Schweiß ist widerlich, und ich stecke regelrecht darin fest. Ich kann kaum atmen. Ich sehe Sterne und höre sie mit einem lauten Zischen verglühen.
»Scheißkerl!«
Sean wieder. Die Menge auf dem Flur hat sich geteilt, und ich sehe erst Clem Healy, der in sein Handy spricht, und dann Seans Faust, die wie aus dem Nichts seitlich in die Kapuze einschlägt, die Clem wieder aufgesetzt hat. Sein Handy fällt zu Boden. Es bleibt heil und schlittert auf mich zu. Sean hat Clem an der Schulter gepackt und holt wieder aus, aber Trigger bekommt von hinten Seans Arm zu fassen. Dann packt Martin Trigger an der Schulter, und Sham versucht, Martin von seinem Vater wegzuziehen. Es ist wie ein verrückter Conga-Tanz. Alle schauen zu, und niemand merkt, dass ich auf Clems Handy trete und es schön langsam zermalme. Dann kommt Starsky herbeigelaufen und schiebt sich zwischen Sean und die Healy-Söhne. Martin und Trigger stehen sich Auge in Auge gegenüber, jeder ein Stück Hemdkragen des anderen in der Faust.
»Wenn meinem Sohn was passiert, wird’s euch leidtun, dass ihr mir je begegnet seid«, grunzt Trigger. »Ihr habt keine Ahnung, mit wem ihr euch anlegt.«
»Doch, Healy, mit Abschaum«, sagt Martin, und plötzlich taucht Miss Understanding aus der Menge auf und zieht ihn von Trigger weg. Dabei flüstert sie ihm etwas ins Ohr und tappt ihm auf den Rücken, als wäre er ein Kind.
»Dad«, jammert Clem, »ich hab mein Handy verloren.«
Sein Vater haut ihm von hinten auf die Kapuze.
»Dann geh’s suchen!«
Aber Starsky reicht’s jetzt mit ihnen.
»Raus!«, sagt er und schiebt die Healys in Richtung Ausgang.
»Der Junge hat sein Handy verloren«, wehrt sich Trigger.
»Mach dich vom Acker, Healy, bevor ich dich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses drankriege!«
Über Clems Pickel fließen Tränen. Auch seine Nase läuft.
»Und wenn jetzt Mummy anruft?«, plärrt er.
»Sie ruft nicht an, Blödmann«, sagt sein Vater und boxt ihm so hart gegen die Schulter, dass er gegen die Wand fliegt.
Plötzlich zittere ich am ganzen Körper. Jemand nimmt meinen Arm, und ich mache mich wieder frei. Es ist Mam. Sie sieht mich traurig an, geschlagen.