18. Februar, Nordirland,
Maghera, 12 Uhr

Sie sollen sich fühlen wie am Tag des Jüngsten Gerichts! Ihre Hand spannte sich um den Pistolengriff, die Finger drückten fest zu. Sia hatte beschlossen, den TeaRoom zu stürmen, nachdem sich Wilson nicht mehr zurückmeldete.

Die Unruhe, die sie fahrig werden ließ, verging nicht mehr und würde sich auch erst legen, wenn sie sich ausgetobt hatte und endlich zu Elena kam. Das U-Boot, das sie dazu benötigte, würde sie sich mit Hilfe von Eric und Justine bei einer Marineforschungsstation oder etwas ähnlichem besorgen. Irgendwo in Irland wird es so etwas geben.

Ihr Bluetooth-Headset meldete sich.

Sie nahm das Gespräch an. »Ja?«

»Hier ist Eric. Bin in Position. Abfangjäger auch.«

»Countdown. Das Paket wird geliefert in«, sie hob die Hand, in der sie die Pistole hielt, und blickte auf die Uhr, »einer Minute.« Sie drückte die Auflegen-Taste.

Der Plan blieb einfach: Bis an die Zähne mit Brandbomben, Plastiksprengstoff und Waffen ausgestattet, würden sie und Eric den TeaRoom stürmen, während Justine im Freien lauerte, ob sich Vampire vor den Attacken in Sicherheit bringen wollten. Falls ja, wäre sie mit einem selbstgebauten Flammenwerfer zur Stelle. Baumärkte waren ein Schatzhort für jeden Terroristen und Guerillakämpfer.

Zwanzig Sekunden.

Ich werde dich rächen, Emma, wie noch kein Mensch vorher gerächt wurde! Sia löste sich von der Mauer und ging los, durch den strahlenden Sonnenschein.

Die wenigen Meter aus dem Schatten hinaus bereiteten ihr keine Probleme, die Schmerzen waren erträglich. Normale Vampire oder unabgehärtete würden schon durch das reflektierte Sonnenlicht in Schwierigkeiten geraten. Manche starben, manche verloren den Verstand, andere fielen an der Stelle, wo sie standen, zu Boden und regten sich so lange nicht mehr, bis die Sonne vom Himmel verschwunden war. Deswegen war die Mittagszeit der optimale Zeitpunkt, um ein Vampirnest auszuräuchern.

Sie selbst hielt ohne Problem eine halbe Stunde in der prallen Sonne aus. Für die Flucht nach der Attacke wollte Sia die Kanalisation benutzen und sich ein Versteck suchen, bis es dunkel genug geworden war. Im Winter ging das schnell.

Zehn Sekunden.

Hel wird niemanden schonen. Sia erwartete, dass ein oder zwei der Sídhe es mit ihr aufnehmen konnten, was Kräfte und Geschwindigkeit anging, aber mit unüberwindbaren Gegnern rechnete sie nicht. Sie war nach wie vor – soweit sie es wusste – die einzige unsterbliche Vampirin. Dabei wird es bleiben. Heute vergehen andere.

Sia nahm einen der Sprengkörper aus der Tasche, stellte den Timer auf vier Sekunden und warf ihn mit Schwung durch die Scheibe des TeaRooms. Es werde Licht! Es hatte eine besondere Ironie, dass ausgerechnet eine Blutsaugerin an dieses Zitat dachte.

Die Bombe ging mit einem donnernden Schlag hoch. Der Druck fegte etliche Scheiben des Gebäudes aus den Fassungen, einige hielten stand und zeigten nun ein Netz von dichtmaschigen Sprüngen. Panzerglas. Im Innern schrillte eine Alarmklingel. Die Vampire wurden auf zweifache Weise geweckt.

Kommt raus! Kommt raus zum Spielen. Sia lächelte und warf noch mehr Päckchen durch die zerstörten Scheiben, oben und unten; dieses Mal waren sie mit einem Fernzünder versehen. Plastiksprengstoff und Brandbomben gemischt. Laut Plan machte Eric das Gleiche auf der Vorderseite.

Nach genau zehn Sekunden drückte Sia den Auslöser. Fahrt zur Hölle! Da werdet ihr mit Sicherheit landen.

Mit dumpfen Explosionen gingen die Bomben hoch. Sia konnte sich vorstellen, wie die Wucht die Wände umriss und die Flammen in den kleinsten Winkel der Clubräume drückte. Schreie erklangen von drinnen.

Aus den Nachbargebäuden sahen die Menschen verstört herüber, manche hielten Handys in der Hand. Es würde nicht lange dauern, bis Garda und Rettungskräfte erschienen.

Die Bühne ist bereitet. Sia wählte Eric an und sagte: »Ich gehe rein.« Sie trat durch den zerstörten Hintereingang, die Pistolen schussbereit in den Händen. Nach ein paar Schritten musste sie bereits über Leichen steigen, die von der ersten Bombe getötet worden waren.

Ein Mann taumelte ihr entgegen, der ein Gewehr schwenkte, aber nicht den Eindruck machte, als würde er Gegenwehr leisten können. Er war schwerverletzt, blutete aus Wunden am Oberkörper, und eine Hand war fast abgerissen.

Sia schlug ihm das Gewehr aus der Hand und griff in seine klaffende Armwunde. »Wo sind die Sídhe?«

Er heulte auf und ging vor ihr auf die Knie. »Kann nicht …«

Zeitverschwendung. Sie streckte ihn mit zwei Schüssen in den Nacken nieder und eilte weiter. »Eric, bist du drin?«

»Ja«, kam es über den Ohrenstöpsel. »Ich habe mich durch den TeaRoom geballert. War mehr los, als ich angenommen hatte. Die Treppe zum Club ist von einer Bombe weggerissen worden, ab und zu fallen ein paar brennende Typen runter.« Er gab eine Serie von Schüssen ab. »Wieder zwei weniger.«

Sia dachte an das Labyrinth, das sich der Ard Rí in Belfast errichtet hatte, um sich unter den Straßen von Keller zu Keller zu bewegen. Es ist helllichter Tag. »Wir sollten Treppen nach unten suchen. Wenn es ein Gewölbe gibt, finden wir die Sídhe mit größter Wahrscheinlichkeit dort.«

»Auf den Bauplänen, die wir im Netz gefunden haben, war keins eingezeichnet.«

Was heißt das schon? »Wir treffen uns im Vorraum zum TeaRoom.« Sia war hoch angespannt und fühlte bereits Enttäuschung in sich aufsteigen. Sollte es ihnen nicht gelingen, die Anführer der Sídhe zu fassen …

Den Angreifer, der sie aus einem Durchgang heraus attackieren wollte, hatte sie zuvor bereits atmen gehört.

Sie versetzte ihm einen Hieb mit dem Pistolengriff gegen die Kehle, ihr Tritt ließ ihn gegen die Wand krachen und röchelnd zu Boden sinken. Wo sind die beschissenen Sídhe?!

Sia erreichte das Foyer, wo Eric sie erwartete. Er hatte sein Gewehr geschultert, kleine Flämmchen, die aus der Einrichtung hinter ihm schlugen, umrahmten ihn. Die Luft war erfüllt mit Silberflitter. Noch ist es zu früh für eine Siegesparade.

»Hier ist alles ruhig«, sagte er und zeigte nach oben. Neben ihm stand ein großer Benzinkanister, den er mitgebracht hatte. »Da oben kommt keiner mehr raus. Nur als Aschehäufchen.«

Das gibt es nicht! Hat sich Wilson geirrt? »Vielleicht haben sie noch einen anderen Ort, den wir nicht kennen?« Sia war zum Schreien zumute. Jemand musste für Emmas Tod bezahlen, und zwar heute!

»Hier draußen ist es ruhig geblieben. Niemand ist abgehauen«, schaltete sich Justine dazu. »Ihr habt alle erwischt.«

»Oder es waren nicht alle da.« Eric sah hinaus zu den leeren Fensteröffnungen. »Ist es nicht seltsam, dass noch keine Bullen da sind?«

»Keine Blaulichter. Nichts zu sehen«, meldete Justine. »Ich höre nicht mal Sirenen.«

Ich will wissen, ob es ein Gewölbe gibt. Sia zog das letzte Päckchen Plastiksprengstoff aus ihrer Manteltasche und legte es auf den Boden, trat mehrmals darauf ein, um ihn in die Ritzen einzuarbeiten. Schnell steckte sie einen Zünder hinein und schaute sich um. »Das da«, sagte sie zu Eric und zeigte auf einen schweren, massiven Tisch. »Den stellen wir drauf.«

Gemeinsam wuchteten sie das schwere Möbelstück auf den Sprengstoff, liefen um die Ecke, und Sia löste aus.

Es rumpelte, und darauf folgte ein Poltern wie von einer einstürzenden Ziegelmauer. Der Boden unter ihren Füßen bebte, als würde sich genau darunter ein leichtes Erdbeben ereignen.

Also doch! »Ich wusste es!« Sia sprang um die Ecke, sah das Loch, das breit und offen im Eingang gähnte. Sie sprang, ohne zu zögern, hinab. Der Benzinkanister fiel hinter ihr auf den Geröllberg, Eric landete neben ihr, das G36 im Anschlag.

Einzelne Steinbrocken bewegten sich um sie herum, Arme schoben sich hervor und wollten sich aus dem Schutt befreien.

Kommt heraus! Zeigt euch! »Wir haben die Sídhe gefunden.« Sia schaute sich um. Hel erwartet euch!

Im Gewölbe gab es an einer Wand die Reste einer Treppe nach oben, die durch die Wirkung des Sprengstoffs eingestürzt war. Sie vermutete einen geheimen Mechanismus, mit dem sich ein Zugang hatte öffnen lassen.

Eric kippte in der Zwischenzeit den Inhalt des Benzinkanisters über die Trümmer. »Bringen wir sie mal dazu, sich zu beeilen.« Er holte eine Packung Streichhölzer aus der Tasche, nahm ein Hölzchen und schnipste es so über die Reibfläche, dass es zündend durch die Luft flog und zischend auf den Steinen landete.

Mit einem leisen Wuff bildete sich eine Stichflamme, die gegen die Reste der Gewölbedecke rollte; dazu mischte sich ein kollektiver Aufschrei unter den Steinen heraus.

»Da haben wir die Toten aufgeweckt«, Eric hob das Gewehr, »und senden sie gleich wieder zurück in die Hölle.« Eric legte an und wartete darauf, dass Vampire erschienen. »Es macht Spaß, gemein zu sein.«

Sia hielt sich ebenfalls bereit. Ich warte auf die Besonderen.

Brennend und fauchend sprangen die ersten Vampire unter den Steinen hervor und versuchten, den Flammen zu entkommen.

Eric bewegte sich wie ein Tontaubenschütze, nur wesentlich schneller, der Finger zuckte in schneller Folge nach hinten.

Die Köpfe der Blutsauger zerbarsten durch die Silberschrotgeschosse, die enthaupteten Vampire fielen zwischen den Steinbrocken zu Boden.

Sia verfolgte die Vorgänge. Eric hatte die Gegner sehr gut unter Kontrolle. Zu gut, wie sie fand. Hier stimmt was nicht. Wo bleiben die angeblich so gefährlichen Sídhe? Es erschien ihr, als würden sich nur harmlose Gegner zeigen.

Sie richtete die Augen auf den Boden und sah zu, wie das brennende Benzin im Boden versickerte. Wohin fließt es?

Beißender Qualm füllte das Gewölbe mittlerweile, Eric musste husten. »Kommt da noch was?« Er lud die Schrotflinte nach. »Das ist mir zu wenig Gefecht gewesen. Das sollen die legendären Feenfürsten gewesen sein? Und die lassen sich abknallen wie Hasen?«

Sia deutete auf den Boden. »Kann sein, dass da noch ein Stockwerk drunter ist.«

»Und wie finden wir das heraus?« Eric klopfte den Mantel ab. »Ich habe keinen Sprengstoff mehr.«

»Ich auch nicht.«

Sie hörten ein leises Scharren hinter sich und wandten sich um, schauten hinauf zum Loch.

Über ihnen standen zwei Männer und vier Frauen. Ihre weiße Kleidung mutete gleichermaßen modisch wie antiquiert an, doch erhaben wirkte es allemal. Ihre Gesichter hatten etwas Klassisches, Schmales, das zum feinen Körperbau passte. Sie sahen auf die Eindringlinge herab.

»Das werden die Hausherren sein.« Eric bewegte sich nicht. »Was …«

»Ihr habt es gewagt, euch gegen die Sídhe zu stellen!«, schmetterte eine der schwarzhaarigen Frauen auf sie nieder, und obwohl sie scharf und herrisch klang, kamen ihre Worte Gesang sehr nahe. Sia musste an die Legende von den Banshees denken. »Dafür stirbt die kleine Elena!«

»Elena ist nicht in eurer Gewalt. Sie ist in Sicherheit«, hielt Sia dagegen und betete stumm, dass es so sein möge. Wilson hatte sich seit dem abgebrochenen Anruf nicht mehr gemeldet. »Meine Schwester habt ihr elend verrecken lassen! Sind das die ehrenhaften Worte der Sídhe? Haltet ihr euch so an eure Abmachungen?« Sie machte sich für den Angriff bereit. Sechs gegen zwei. Wenn es sich bei den Sídhe um gewöhnliche Vampire handelte, traute sie sich zu, sie alleine zu eliminieren. Doch sie hatte Zweifel, dass es bei so wenigen Gegnern bleiben würde.

»Wir haben beraten und sind der Meinung, dass es falsch wäre, den Kampf gegen dich weiter fortzuführen.« Die Schwarzhaarige machte einen Schritt nach vorne und schwebte durch das Loch sanft wie eine Feder nach unten, während ihre Begleiter oben verharrten. »Du bist eine sehr mächtige Vampirin, eine Judastochter. Nach dem Tod von Harm Byrne sind viele der Fesseln gefallen, die er Irland und England angelegt hatte.« Sie blieb auf dem Hügel stehen, die Flammen waren erloschen. Sie hob die Hand, und der Qualm verwirbelte, nahm die Inselform des United Kingdoms an. »Ich bin Mhatha, eine Sídhe. Wir haben Macht über viele Vampire in Irland und möchten dir vorschlagen, mit uns die schleifenden Zügel zu übernehmen. Die Wandler haben uns zu lange bevormundet. Sie verdienen es, das Joch zu tragen, das du ihnen auferlegen sollst.«

Sie benehmen sich überheblicher als die Cognatio. Hochmut kommt vor dem Fall. Sia ließ Mhatha erzählen und musterte die übrigen Sídhe. Da sie keine Waffen bei sich trugen, verließen sich die Vampire alleine auf ihre Fertigkeiten – was kein gutes Zeichen war. Zudem hielt sie Mhatha nicht für die Anführerin. Sie war die Vermittlerin. Sie tauschte einen raschen Blick mit Eric, der ihr signalisierte, sich bereit zu halten. »Es gibt zu viele Wandler. Sieben Vampire werden im offenen Kampf nicht ausreichen.«

»Dir werden noch andere, niedere Vampire wie Smyle und getreue Menschen für deine Schlacht zur Verfügung stehen. Nun vernimm, für wen du kämpfen wirst.« Mhatha bewegte die Finger, und der Nebel formte einen Berg. »Unsere Vorfahren kamen nach Irland, vor vielen Jahrhunderten. Es waren keine Schiffe, mit denen unser Volk anlegte. Das dichteten wir hinzu, um unser Erscheinen mystischer zu machen. Aber es stimmt, dass sie die Umgebung in Dunkelheit hüllten. Der Schutz gegen Licht, um ungestört unsere ersten Bauten errichten zu können. Die Fundamente unserer Herrschaft, tief gegraben in irische Erde und unauslöschlich für alle Zeiten.«

»Die Sídhe-Hügel«, warf Eric ein.

Unauslöschlich – wohl kaum. Das werde ich euch bald beweisen. Sia ließ sich nichts anmerken.

Mhatha nickte. »Unsere Burgen entstanden unter der Erde. Eine davon habt ihr gesehen. Wir haben sie im ganzen Land verteilt, unsere Refugien geschaffen und uns die Insel untertan gemacht. Die Menschen, die wir als würdig erachteten, nahmen wir auf, und einige wenige machten wir zu den Unsrigen. Ein schwieriger, selten fruchtender Vorgang.«

Aha. Das erklärt, warum sie sich mit Smyle und seinesgleichen zusammengetan haben. »Aber die Wandler haben sich aufgelehnt.« Sia sah zu den regungslosen Sídhe. Statuen von Göttern, deren Zeit abgelaufen ist. Die Sídhe sind so speziell, wie es die Judaskinder für Osteuropa waren.

»Wandler! Widerliches Geviechs. Sie waren damals nichts weiter als unorganisiertes Pack, das die Menschen nach Belieben heimsuchte. Sie vermehrten sich unkontrolliert, und wir haben ihre Zahl eingedämmt. Das haben sie uns nicht verziehen.« Mhatha brachte den Rauch dazu, eine Tierfratze zu formen. »Sie formten einen Plan, knüpften Kontakte in die Welt, holten sich ihre Freunde nach Irland, um Krieg gegen uns zu führen. Sie hatten uns überrascht, und so mussten wir vor fünfzig Jahren den Friedenspakt mit ihnen eingehen.«

Das deckte sich mit den Erzählungen, die Sia bereits gehört hatte. »Aber ihr habt den Wandlern nicht verziehen.«

Mhatha richtete sich auf, und die Bestienfratze zerstob. »Wir haben nichts zu verzeihen! Wir sind die Sídhe, und wir sind die Herren Irlands, vom Volk verehrt, in Mythen und Sagen besungen! Die Wandler sind lediglich eine Plage, die bekämpft werden muss. Die Nachsichtigkeit ist vorüber. Die Sídhe werden die Macht wieder übernehmen, wie es vorgesehen war.«

»Ich habe gehört, dass eure Nachtkelten versuchen, das einstige Verbrechersyndikat von Harm Byrne zu übernehmen«, sagte Sia. »Ihr habt Wilson unterschätzt. Er verfügt über mehr Verbindungen, als ihr denkt.«

Mhatha lachte. »Ach, der Butler. Nein, er ist nicht entscheidend. Wir haben ein Kopfgeld auf ihn aussetzen lassen. Somit ist er ein Problem, das sich bald von selbst gelöst hat. Außerdem ist ihm eine unserer besten Killerinnen auf den Fersen.«

Das darf nicht sein! Sia erinnerte sich an den abgerissenen Kontakt zum Butler. Sie versuchte, keine Gefühle zu zeigen, da sie den Blick der Vampirin auf sich spürte. Wenn sie Elena in ihrer Gewalt hätten, wüsste ich es schon lange. »Also möchtet ihr …«

»Es geht darum, uns wieder die Position zu nehmen, die wir einst hatten. Wir beginnen mit dem kriminellen Abschaum, um unsere finanziellen Ressourcen aufzustocken. Sobald unsere Kriegskasse gefüllt ist, dringen wir über unsere menschlichen Gefolgsleute noch stärker in die Politik vor, als wir das bisher getan haben. Unsere Abgeordneten sind in allen Parlamenten des Königreichs vertreten. Dank des Geldes werden es bald mehr werden, und wir unterwandern jede wichtige Institution, bis wir uns zeigen können: Die Sídhe kehren zurück, und die alten Legenden werden wieder gesungen und mit neuen Texten versehen. Die Tradition ersteht neu! Und die Zahl von echten Sídhe wird wieder erstarken.« Mhatha hatte ein entrücktes Lächeln auf dem Gesicht. »Die Iren werden uns zu Füßen liegen. Götter der Finsternis herrschen über die Menschen.«

Sia hatte längst begriffen, dass es um mehr ging als um die Ausrottung der Wandler auf der Insel. Die Bestien bedeuteten lediglich eine Hürde, die genommen werden musste, um Irland in Ruhe auf die Übernahme vorbereiten zu können. Der übliche Größenwahn, für den Sia die Vampire verabscheute. Das ist ganz nach eurem Geschmack: eine eigene Insel.

Eric hob die Hand. »Eine kleine Zwischenfrage: Was ist mit mir?« Er sah die wartenden Sídhe der Reihe nach an. »Bin ich Dekoration, oder bekomme ich auch ein Angebot?«

Mhatha lächelte herablassend, gönnerhaft. »Du? Du wirst unser Hofjäger, wenn du möchtest. Dein Ruf als Bestientöter ist weithin bekannt. Die Wandler würden sich freiwillig in unsere Hände begeben, um dir zu entgehen. Es wäre uns eine Freude, dich an unserer Seite zu wissen. Welchen Lohn nimmst du üblicherweise? Vielleicht gewähren wir ihn dir.«

»Ich würde sagen«, Eric schulterte die Schrotflinte und drehte sich halb zur Seite, »das Leben von euch Drecksviechern.« Er drückte ab. Die Mündung hatte unbemerkt in die Richtung eines der Männer gezeigt, das Vollgeschoss schlug unterhalb des Halses ein und riss ein faustgroßes Loch in seine Brust.

Die Vampire schrien auf.

Zu tief! Sia zog ihre Dolche, während Eric weiterfeuerte.

Die Geschosse trafen den Sídhe in die Brust, in die rechte Schulter, punzten Löcher durch das Gewebe und durch die Knochen – die sich ohne Verzögerung schlossen.

»Ich hab’s verstanden: andere Bewaffnung.« Eric warf das Gewehr weg und zog das Kurzschwert, seine Augen verfinsterten sich. Er nahm Kampfposition ein.

Mhatha sah ihn entsetzt an. »Du hast es gewagt, einen Sídhe anzugreifen?«

»Ja. Aber eigentlich wollte ich ihn töten«, erwiderte Eric trocken. »Ich versuche es bei dir gleich noch mal.« Schnell sprang er zu ihr und schlug zu.

Mhatha stieß einen sirenenhaften Schrei aus, der in Sias Ohren schmerzte und ihr Innerstes in schmerzhafte Schwingung versetzte. Auch Eric keuchte auf und kam aus dem Rhythmus. Die Klinge seines Schwerts vibrierte und zersprang mit einem hellen Sirren; die einzelnen Stückchen flogen gegen Mhatha, ohne ihr etwas anhaben zu können.

Banshee. Sie ist eine Banshee! Sia drückte sich ab, schwang ihre Dolche und legte sie wie die Schenkel einer Schere übereinander, um der Sídhe den Kopf abzutrennen und sie zum Schweigen zu bringen.

Mhathas Arm zuckte nach vorne, der Zeigefinger legte sich an die gekreuzten Klingen der Dolche, um sie aufzuhalten.

Sia wurde von der immensen Kraft der Vampirin vollkommen überrascht. Es fühlte sich an, als würden die Waffen gegen einen Eisenträger gerammt, wobei nur ein leichter Ruck durch Mhatha lief.

Bevor Sia die Klingen nach unten ziehen und den Finger abschneiden konnte, griff die Gegnerin zu, packte ihr rechtes Handgelenk und überdrehte es, so dass die Knochen barsten wie bei einem trockenen Ast. Splitter bohrten sich durch die Haut, der Dolch fiel zwischen die Steine und verschwand.

Sia schrie und riss sich von Mhatha los, die sie lächelnd betrachtete. »Du magst eine Judastochter sein, aber gegen eine Sídhe kannst du nicht bestehen.«

Sie brauchen keine Waffen. Mit dieser Kraft. Sia strengte sich an, damit die Knochen rasch verheilten und die Hand einsatzbereit war. Mit einem Dolch war ihre Feindin ebenso zu enthaupten, aber die Macht der Banshee-Stimme könnte die Schneide ganz einfach zum Zerspringen bringen. Sie sind stark – aber nicht zahlreich genug, um sich gegen den Ard Rí zu behaupten, das wissen sie. Einschüchterungsversuche gegen mich. Mehr nicht.

Erics Haut wurde auberginefarben. »Ich sage es sehr gerne: Ich«, grollte er, »zeige euch, wie man mit den Sídhe umspringen sollte.« Er nickte Sia zu und hechtete gegen Mhatha.

Diesmal erwischte er die Vampirin eiskalt. Sie gingen gemeinsam zu Boden, rollten hinter den Schuttberg und damit aus ihrer Sicht.

Mehr sah Sia nicht von dem Kampf, denn die anderen Sídhe schwebten vom Loch nach unten und bildeten dabei eine Kreisformation, um sie einzuschließen.

»Justine? Siehst du eine Möglichkeit, zu uns zu kommen und uns beizustehen?« Sia drehte sich um die eigene Achse und behielt die Gegner im Auge, so gut es ihr möglich war. Sonst komme ich in ziemliche Schwierigkeiten.

»Was ist los, ma chère?«

»Probleme. Zu viele Gegner für zwei.« Sia sah in die langen, schönen Gesichter der Sídhe, die sie ausdruckslos anschauten. Für sie war die Judastochter garantiert bereits Geschichte. Eine Entscheidung war getroffen worden, und zwar nicht zu ihren Gunsten.

»Das Blattsilber hat sich gelegt. Ich kann kommen, aber …« Justine stockte. »Ich sehe immer noch keine Flics.« Den Geräuschen nach lief sie über einen Kiesplatz oder lose Steine. Sia schätzte, dass sie sich dem TeaRoom näherte. »Alles gut. Das Silber liegt verteilt um mich herum. Ich sollte es vermeiden, auf den Boden zu fallen.« Sie lachte auf. »Gib mir noch dreißig Sekunden.«

Sia glaubte nicht daran, dass die Sídhe so lange warten würden. Es wird mir vorkommen wie dreißig Jahre.

Ein langer Schrei erklang, der aus Mhathas Kehle stammen musste, doch die vernichtende Wirkung der Banshee blieb aus. Der Laut war voll eigenem Schmerz, voller Leiden und – Untergang.

Die Sídhe wandten sich mit überraschtem Entsetzen auf den Antlitzen um. Sie ließen Sia aus den Augen und wollten den kleinen Hügel hinabstürmen, um ihrer Artgenossin beizustehen.

Ein runder Gegenstand flog aus der Halbdunkelheit und kullerte den Vampiren vor die Füße. Es war der abgerissene, blutige Kopf von Mhatha; die toten Augen blickten ins Nichts.

Eric! Auf dich ist Verlass! Sia war trotz der Freude vom Erfolg überrascht.

Die Sídhe schrien gemeinsam auf.

Wäre Sia nicht bereits tot gewesen, ihr Herz wäre in diesem Moment vor Grauen geborsten.

 

Justine war zügig auf dem Weg zum TeaRoom.

Das Haus hatte sich durch die Explosionen in das Set für einen beliebigen Kriegsfilm verwandelt. Teile der Außenmauer lagen auf der Straße, brennende Papierstückchen segelten durch die Luft und zogen Aschespuren hinter sich her.

Erinnert mich an das gesprengte Versteck der Schwesternschaft. Justine hatte den aus einer Gasflasche und anderen zweckentfremdeten Zubehörteilen gebastelten Flammenwerfer weggelegt und trug eine zur Schnellfeuerpistole umgebaute Beretta sowie eine Desert Eagle in den Händen. Das Hantieren mit Feuer und Gas war ihr zu gefährlich. Die schmerzhaften Silberflitterstückchen lagen harmlos am Boden, ihre Sohlen zerrieben sie. Das war ungefährlich, doch echter Körperkontakt würde ihr Schmerzen und Verbrennungen bescheren; vor Mund und Nase trug sie eine Staubschutzmaske.

Hoffen wir, dass kein Wind aufkommt. Ich hätte mir einen Imkeranzug besorgen sollen. Justine trabte auf den TeaRoom zu, durch den Eric und Sia verschwunden waren. Nach wie vor hörte sie keine Polizei. Wer auch immer ihnen den Rücken freihielt, er hatte gute Verbindungen.

Sie hatte den Durchgang beinahe erreicht, als zwei irische Wolfshunde vor sie sprangen und ihr das Weiterkommen verwehrten. Ihre Pfoten trafen exakt die Stellen, an denen keine Silberblättchen lagen; aus roten Augen wurde sie angefunkelt.

Merde! »Alors, aus dem Weg, mes copains, oder ihr endet in der Abdeckerei«, sagte sie gelöst. »Ich habe was vor, und ihr seid mir im Weg.« Hinter ihr erklangen Schritte, aber sie tat demjenigen nicht den Gefallen, sich umzudrehen. »Oder seid ihr seit neustem die Schoßhündchen der Sídhe?«

Die Schritte blieben hinter ihr stehen. »Wir sind die BlackDogs«, sagte eine tiefe, knurrende Stimme. »Und wir hassen die Sídhe!«

»Das freut mich.« Justine ließ die Wolfshunde nicht aus den Augen. »Und warum stellt ihr euch mir in den Weg?«

»Du gehörst zur Blutsaugerin und dem Deutschen an ihrer Seite.« Die Schritte näherten sich ihr weiter. »Ich möchte ein paar Dinge klären«, sagte der Mann in ihrem Rücken.

»Ich glaube nicht, dass ich mir die Zeit nehme, um mir das anzuhören.« Justine machte zwei Schritte nach vorne. »Meine Knarren sind mit Silber geladen, mes copains. Verpisst euch oder helft mir. Aber haltet mich nicht länger auf!«

Die Wolfshunde knurrten leise und rückten zusammen, drei weitere schoben sich aus den Schatten der umherliegenden Trümmer und strichen heran.

»Oh, ich bin mir sicher, dass Sie die paar Minuten haben werden.«

»Es geht dabei weniger um mich als um meine Freunde.« Justine drehte sich um und entsicherte die Waffen. Durchgeladen waren sie bereits.

Vor ihr stand ein unauffälliger, aber doch großer Mann, der einen fliederfarbenen Anzug trug, was angesichts der Umgebung surreal wirkte. Die Augen lagen hinter einer ultramodernen Sonnenbrille verborgen, im Gesicht stand ein dichter Dreitagebart.

Als hätten sie ihm Wangen, Kinn und Hals schwarz angemalt. »Zut, aus welchem Videospiel sind Sie denn ausgebrochen? Muss etwas gewesen sein, was ein geschmackloser Programmierer verbrochen hat.« Justine nickte über die Schulter zum Eingang. »Sollte meinen Freunden was passieren, weil ich Ihr Geschwätz ertragen musste, haben wir beide ein Rendezvous, Monsieur mal ficelé.«

Er lächelte. »Ihre Freunde sollten gut genug sein, um die paar Minuten zu überstehen.« Entspannt stand er vor ihr, die Hände in den Taschen. »Zuerst muss ich Ihnen meinen Respekt aussprechen. Sie haben das geschafft, was uns nicht gelungen ist. Die Sídhe sind schwer hervorzulocken, auch wenn man jedes Detail ihrer Verstecke kennt. Ich freue mich umso mehr, endlich den Tag einläuten zu können, auf den meine Leute und ich so lange gewartet haben.«

»Sie sind aber nicht der Ard Rí.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Bin ich nicht. Er hat derzeit kein Bedürfnis, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, nicht zuletzt dank des Auftauchens von Ihnen und Ihren Freunden. Im Vertrauen: Die Attacke im Hotel hat ihm zu schaffen gemacht. Das ist ihm seit vielen Jahrhunderten nicht mehr passiert.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ich bin Rob. Der Ard Rí schickt mich, um zu erfahren, wie es weitergehen wird, wenn wir die Sídhe gemeinsam besiegt haben.«

Gute Frage. »Darüber haben wir uns keine Gedanken gemacht«, gestand Justine unruhig. Sie wollte Eric und Sia beistehen. »Was schlagen Sie vor?«

»Der Ard Rí weiß, was er Ihnen und Ihren Freunden verdankt, sowohl das Schlechte als auch das Gute«, begann Rob. »Nachdem er alles gegeneinander abgewogen hat, kam er zu dem Entschluss, dass er den Überlebenden aus dem Gefecht freien Abzug gewährt, anstatt sie zur Rechenschaft für ihre Verbrechen zu ziehen.«

»Jeder und jede Tote werden verziehen?«, warf sie ein. »Eine Generalamnestie?«

Rob nickte zu ihrer Erleichterung. »Sollte sich jedoch ein weiteres Wiedersehen auf irischem oder britischem Boden ereignen, wird er keine Rücksicht mehr nehmen.«

»Ihr Wort, von Bestie zu Bestie, dass er sich an seine Zusagen halten wird?«, grollte sie. Anscheinend weiß er nicht, dass ich seine Schlange erledigt habe. Sehr gut!

»Ich schwöre«, antwortete Rob. »Von Bestie zu Bestie.«

Zumindest riecht er nicht nach einer Lüge. »Ça plane pour moi.« Die Geschäftsfrau in ihr erwachte. Aber ein Bonus sollte für mich schon drin sein. Da war noch dieser Wilson mit seinen Verbindungen in die Unterwelt. Das sollte ich mir nicht entgehen lassen. »Oh, ich möchte bei dem Deal eine besondere Position: Ich habe jederzeit Zutritt auf die Britischen Inseln und kann machen, was ich möchte, solange ich nicht gegen den Ard Rí ins Feld ziehe.« Justine hatte keine Lust auf lange Verhandlungen, klemmte sich die Desert Eagle unter die Achsel und streckte die Hand aus. »Einschlagen, copain, oder lassen.«

Rob ergriff ihre Hand und drückte sie. »Abgemacht. Das kann ich ihm gegenüber vertreten. Oh, an Ihrer Stelle würde ich ein Zusammentreffen mit ihm vermeiden, falls er irgendwann rausgefunden hat, dass Ladybeasts ein echter Film ist. Er wird Sie nicht umbringen, aber er kann sehr, sehr unangenehm werden. Ich persönlich bin ein Fan von Ihnen.« Er legte den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes, bärenähnliches Brüllen aus.

Es wurde aus den unterschiedlichsten Richtungen beantwortet.

Justine roch die Ausdünstungen von verschiedenen Wandlern. Sie kamen aus den Nebenstraßen, sprangen über die Dächer, mal in ihrer Tier-, mal in ihrer Halbbestienform, stiegen als Menschen aus geparkten Fahrzeugen. Das Ziel, auf das sie zuströmten, war der TeaRoom.

Justine überlegte, wie viel Schuss sie dabeihatte, falls sich Rob nicht an ihre Abmachung halten würde. Es könnte knapp werden. Schade, dass die Schwesternschaft noch auf schwachen Füßen steht. Hier hätte sie jede Menge Kundschaft. Sie blickte sich um. Non. C’est impossible. So viel Blut hätte der Heiland gar nicht haben können.

»Gewinnen wir den Krieg für den Ard Rí!« Rob ließ ihre Hand los und marschierte auf den Eingang zu; dabei rief er laut etwas auf Gälisch, und die kleine Armee lief an ihnen vorüber, um sich durch die Löcher in der Mauer ins Gebäude zu stürzen. Das entscheidende Gefecht um die Vorherrschaft über die Grüne Insel hatte begonnen.

»Ich scheiße auf deinen Ard Rí«, murmelte sie und nahm die Pistole wieder zur Hand. Es geht um Eric und Sia! Justine hob ihre Waffen und rannte los.

 

Die Sídhe-Männer sprangen über den Schutthügel, um an Eric Vergeltung für seine Tat zu üben. Die Frauen warfen sich gellend schreiend auf Sia.

Irische Furien. Sie brachte sich mit einem großen Sprung rückwärts aus der Reichweite der Vampirinnen. Das Gekreische brachte sie durcheinander, blockierte die Instinkte ebenso wie das rationale Denken – beides hätte sie dringend gegen die Übermacht gebraucht. Wie bringe ich sie zum Schweigen?

Sia hasste es, sich rein auf Verteidigung verlegen zu müssen. Ihr Blick trübte sich leicht ein, sie sah die Gegnerinnen immer wieder doppelt, und der Boden schien sich unter ihren Füßen zu bewegen. Die Auswirkungen der Stimmen sind heftig! Ihr wurde deutlicher bewusst, weswegen die Sídhe keine Waffen benötigten.

Die Vampirinnen kreisten sie ein, drängten sie tiefer in das Gewölbe.

Raus aus der Falle! Sia versuchte, ihre Windgestalt anzunehmen, doch sie schaffte es nicht. Die Macht der Banshees verhinderte auch dies und sorgte für neuerlichen Schwindel und Gleichgewichtsprobleme.

Sie musste sich an der feuchtkalten Wand abstützen. Wie durch einen Tunnel sah sie ihre fahlen, anmutigen Feindinnen näher kommen; aus dem Hintergrund erklangen wütende Schreie und das Klatschen von Schlägen.

Eric … er …

Eine der Sídhe flog auf sie zu, den rechten Arm nach Sias Kehle ausgestreckt.

Mit größter Mühe wich sie aus und schlug zu, ihre Finger mit den langen Nägeln wie eine Klinge schwingend. Sie trafen auf Widerstand, ein schneidendes Geräusch erklang.

Die Banshee fiel röchelnd gegen die Mauer und rutschte zu Boden. Die Attacke hatte ihr den Hals zur Hälfte aufgeschnitten, war aber nicht tief genug gedrungen, um sie zu enthaupten und damit zu töten. Auf allen vieren rutschte sie weg von Sia, in Richtung ihrer vorrückenden Schwestern. Blut plätscherte leise aus der Wunde, ehe sich der Schnitt schloss.

Dich nehme ich mit! Sie setzte nach und trat mit aller Kraft zu, schmetterte die Stahlkappenschuhspitze gegen die Schläfe. Den Schädelbruch hätte die Sídhe sicherlich überstanden, aber der Schwung war groß genug, um den Kopf fast in Gänze abzureißen. Noch einen Tritt, und du …

Sia bekam keine Gelegenheit, sich der Gegnerin weiter zu widmen: Die zwei verbliebenen Feindinnen bedachten sie mit dem grässlichen, nervenzerfetzenden Geschrei.

Schweigt doch! Schweigt doch endlich! Sias Knie gaben nach. Sie knickte ein und erhielt einen Hieb von unten in den Hals. Sie fühlte die fremden Finger, die Nägel, die ihr als sengend eisige Pein durch die Kehle bis ins Hirn fuhren und die Wahrnehmung komplett raubten.

Ihre Umgebung versank in grellen Punkten.

 

Mit einer solchen Attacke werden sie nicht rechnen. Eric hielt keuchend zwei schwere, rucksackgroße Steinbrocken in den Händen und warf sie nach den herannahenden Sídhe.

Ein Stein traf den rechten der Vampire am Kopf und zerschmetterte ihn; augenblicklich fiel er nieder, rollte den Schuttberg hinab und rührte sich nicht mehr.

Der zweite Vampir wich dem Geschoss aus und griff von der Seite an.

Er ist schnell! Kräftige Finger schlossen sich um Erics Hals, doch er ließ dem Dämonischen in sich einfach freien Lauf. Um ihn herum erhitzte sich die Luft schlagartig, und kleine, bläuliche Lohen schossen wie Gasflämmchen aus seinen Poren.

Der Sídhe gab ihn sofort frei. »Was …?«

Eric warf sich auf ihn, dabei nahm die Hitze in ihm zu. Die Flammen umgaben ihn wie eine dunkelrote Korona. Sosehr sich der kreischende Sídhe anstrengte, er konnte nicht mehr entkommen.

Vergehe! Eric berührte ihn mit der rechten Hand, und die Flammen schienen sich durch die Epidermis ins Innere des Vampirs zu fressen. Für einige Sekunden leuchtete er wie eine Laterne und gab ächzende Laute von sich, bis Feuerlanzen aus den Augen jagten und die Höhlen ausbrannten. Vergehe im Höllenfeuer! Einen Herzschlag darauf hatte sich der Sídhe in eine Fackel verwandelt, brach zusammen und brannte knisternd mit auberginefarbenem Feuer.

»Sia!« Eric stapfte los und glaubte, tonnenschwer zu sein. Ein Feuerball auf zwei Beinen, der sich behäbig den Hang hinaufkämpfte und Angst hatte, zu spät zu kommen. Mit jeder Bewegung wurde er schwächer. Das Dämonische raubte ihm seine Kraft, und als er über den Rand der Schuttansammlung sehen konnte, war er nicht mehr in der Lage, seine Arme zu heben. Die Schwerkraft schien sich im Sekundentakt um ein G zu erhöhen. So überstehe ich kein weiteres Gefecht mehr.

Auf der anderen Seite sah er Sia am Boden knien, vor sich die beiden weiblichen Sídhe; eine weitere lag am Boden, wälzte sich umher und schien Schmerzen zu leiden.

»Weg von ihr!«, schrie er – zumindest hatte er schreien wollen. Aus seinem Mund schlugen stattdessen Flammen, und außer einem fauchenden Brüllen kam nichts Verständliches heraus.

Die Sídhe kümmerten sich nicht um ihn.

Lasst sie in Ruhe! Nehmt mich! Sosehr er sich bemühte, Eric bekam die Füße nicht mehr angehoben. Seine Energie war buchstäblich verbrannt.

Keuchend und völlig am Ende kniete er sich auf die Kuppe des Steinhaufens. Die Hitze in ihm ließ nach, und das Feuer um ihn herum verebbte. Er sah, dass sich seine Haut wandelte und wieder einen rosafarbenen Ton annahm. Er war zu einem verletzlichen, erschöpften Menschen geworden – mit extremem Hunger!

Sias Geruch wehte zu ihm.

Die gefürchtete, unkontrollierbare Gier trieb ihn urplötzlich und mit überbordender Macht auf die Beine. Es hätte kein besseres Mittel geben können, um ihn dazu zu bringen, sich zur Judastochter zu begeben. Ihr rotes Haar wirkte wie eine Fahne, wies ihm den Weg zum Ziel.

Fressen! Er wollte Sia verschlingen, die Zähne in sie schlagen und sie gleichzeitig nehmen, seinen Steifen in sie rammen, fressen und ficken, alles von ihr in sich aufnehmen! Sie ist mein! MEIN!

Eric bekam nicht mit, dass er immer schneller wurde und mit gesenktem Kopf auf die Sídhe zurannte.

Die irischen Vampirinnen ließen von Sia ab und wandten sich nun doch ihm zu. Die Judastochter hielt sich die Schläfen, bebte am ganzen Leib und stöhnte vor Schmerzen.

Ihre Stimme, aber viel mehr noch ihr Leiden machte Eric an! Er wollte es gleich wieder hören, und er wollte schuld sein, dass sie litt. Niemand bringt mich davon ab! Ich will sie!

Dann war Eric heran und holte aus.

Aber die erste Sídhe versetzte ihm einen überschnellen Hieb mit der Faust gegen die Brust, der ihn zur Seite schleuderte; beim Aufprall gegen die Wand platzten Steine auseinander. Ehe er sich von der Attacke erholt hatte, wurde er gepackt und hoch in die Luft geworfen.

Nein! Das Loch, durch das er vorhin in den Keller gesprungen war, näherte sich rasend. Sein Flug wurde langsamer, und er schwebte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er nach unten stürzte; zwischen den Sídhe schlug er auf.

Kurzzeitig verlor er die Orientierung und hob die Arme, um umherzutasten. Ich bekomme meine …

Seine Hände wurden ergriffen. Jemand zog ihn hoch, katapultierte ihn geradezu nach vorne, und er krachte mit dem Kopf gegen einen Stein. Gleich darauf fuhren ihm heiße Stäbe durch den Rücken. Sie stechen auf mich ein, dachte er benommen. Sie schlitzen mich auf.

Eric schlug um sich, traf jemanden und wandte sich unter großen Schmerzen um. Seine Sicht klarte auf.

Er sah, dass Sia eine unachtsame Sídhe packte, die Vampirin waagrecht über sich hielt und sie nach unten sausen ließ, genau auf das Knie zu, das Sia im selben Moment emporriss.

Zwar zappelte die Sídhe, doch es half nichts: Ein trockenes Knacken erklang, als das Rückgrat durch den Zusammenprall gebrochen wurde. Ihre Bewegungen erlahmten, und Sia warf sie auf den Boden.

Sie ist so scharf! Ich … muss sie haben! Eric machte unbeholfene Schritte nach vorne. Der Sturz und die Stiche in den Rücken hatte er noch nicht verkraftet. Sia blickte zu ihm und nickte ihm zu. Warte, ich komme zu dir! Und dann …

Die letzte Sídhe stieß einen neuerlichen Singschrei aus, in den sie all ihren Hass und ihre Trauer zu legen schien.

Umso größer war die Wirkung.

Sia wankte unverzüglich, stürzte nieder und verschloss sich die Ohren mit den Händen.

Eric meinte, dass ihm der Verstand schmolz und warm den Gaumen entlangrann. Zusammen mit dem Hirn sickerten jegliche Gedanken, jegliche Gier, jegliche Befehle an seinen Körper davon. Er konnte nichts tun, als zu warten, bis das Gekreische aufgehört hatte.

Doch die Sídhe stoppte nicht!

Sie hob singend einen der Steine vom Boden auf und wuchtete ihn hoch über den Kopf, um Eric damit den Schädel zu zermalmen, wie er es gerade eben mit einem der Ihren gemacht hatte.

Da sprang ein schwarzer Umriss über ihn hinweg und trat der Sídhe mit beiden Beinen gegen die Brust, so dass sie rückwärtsfiel. Der Gesang endete, der Stein verfehlte ihn knapp.

»Ah, ihr habt mir etwas übrig gelassen.« Justine stand plötzlich neben Eric, hob ihre Desert Eagle und zielte auf die Feindin; die Staubschutzmaske gab ihr etwas Futuristisches. »Das war sehr aufmerksam!« Der Zeigefinger ruckte nach hinten, der Schädel der Sídhe wurde mit Silberkugeln eingedeckt. Deren Antlitz verwandelte sich nach zwei Treffern der großkalibrigen Waffe in ein unförmiges Gebilde aus Blut, herunterhängender Haut und hervorstehenden Knochensplittern. Hastig tauchte die angeschlagene Vampirin ab, ihr weißes Kleid starrte vor Rot. »Ihr Lied gefiel mir nicht besonders.«

Dann war das Gewölbe plötzlich angefüllt mit Wandlern der unterschiedlichsten Sorten, die sich über die Überreste der Sídhe hermachten und die noch lebenden Uraltvampire anfielen. Ein anhaltendes Heulen, Kläffen, Knurren und Grollen setzte ein, das Eric gedämpft vernahm. Nicht sie auch noch. Wir sind am Arsch! Seine Ohren mussten sich erst von der Wirkung des Sídhegesangs erholen. »Gib mir eine Waffe!« Verlangend streckte er den Arm aus. »Wie viel Munition …«

»Sie gehören zu uns.« Justine hatte sich erhoben und half ihm dabei aufzustehen. »Was hast du mit deinen Kleidern gemacht? Wolltest du die Banshees mit deinem Monsieur beeindrucken?« Sie zeigte auf seinen Schritt. »Pass gut drauf auf.« Sie hob den Blick und sah, dass sich an der Bruchkante über ihnen Menschen zeigten, die mit Waffen anrückten. »Ah, voilà, das letzte Aufgebot der Nachtkelten, die ihren Meistern zu Hilfe eilen wollen.«

Das Geknatter von Gewehrfeuer setzte ein, Wandlerjaulen erklang. Es roch nach verbrannten Haaren und schmorendem Fleisch.

»Der Ard Rí … hat seine Leute für uns geschickt?«, sagte Eric mit kratziger Stimme und sah sich um, ob er Sia entdecken konnte. Sein spezieller Hunger war wieder da, er konnte sich kaum beherrschen. Zwar roch seine Halbschwester auch verlockend, aber es würde ihn nichts dazu bringen, seine Zähne in sie zu schlagen. Er wollte nur eine Beute. Wo steckt sie? Er leckte sich über die rissigen Lippen.

»Ich bin für uns alle einen Pakt eingegangen. Für diese eine Schlacht. Die Konditionen waren günstig.« Sie nahm ihre Ersatzpistole aus dem Rückenholster. »Hier. Und jetzt leg los! Ich kann nicht alles alleine machen, mon frère! Aber schieß nicht auf die Falschen!« Justine zog den Kopf ein und rannte los, schoss dabei um sich und sandte einen Nachtkelten nach dem anderen ins Jenseits.

Eric richtete sich zitternd auf. Ihm stand der Sinn nach einer besonderen Jagd, die ein großer Teil in ihm gar nicht wollte.

* * *
Judastöchter
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