2. Februar, Republik Irland,
Cork, 20.36 Uhr

»Senator!« David O’Liar hob den Arm und machte auf sich aufmerksam. Er erhob sich, um den Mann zu begrüßen, wie es sich für ein Mitglied des irischen Oberhauses gehörte.

Liam Baxter, ein Ire in den besten Jahren und im feinen Zwirn, sah ihn und steuerte auf den Tisch zu, der in eine kleine Nische des Restaurants geschoben war. Zwanzig Euro hatten den Service dazu veranlasst, David den Gefallen zu tun. Keine Zuhörer.

»Mister O’Liar.« Sie schüttelten sich die Hände, setzten sich. »Ich weiß nicht, ob ich mich freue, Sie kennenzulernen.« Er trank vom bereitstehenden Wasser. »Den berühmten Mister Undertake.« Baxter lächelte kalt. »Andere nennen Sie auch Mister To-Do. Sie sind sehr rührig.«

David fühlte, dass der Senator ein schwerer Fall sein würde und eines sehr teuren Essens bedurfte. »Zu viel der Ehre. Alles Kampagnen meiner Neider, Sir.«

»Sie haben einen tüchtigen Berg Neider«, stellte Baxter fest. »Wenn man sich so umhört.«

»Dann sollte ich die Neider wohl zum Schweigen bringen. Sie sind schlecht für meinen Ruf. Wenn Sie mir Namen nennen können, wäre ich Ihnen dankbar.« David sagte es todernst, dann lachte er plötzlich los, um den Eindruck zu erwecken, dass er einen Scherz gemacht hatte. Der Senator fiel mit ein. »Schön, dass Sie dennoch gekommen sind, Sir.«

»Ich bin neugierig.« Er sah zum Kellner, der ihnen die Karten brachte. »Und ich hoffe, dass ich es nicht bereue, Ihre Einladung angenommen zu haben.«

David erwiderte nichts und blätterte in den Menüs. »Sagen Sie, ist Ihre kleine Hütte am Shannon inzwischen fertig? Muss ein Paradies für Angler sein.« Es war seine Art zu sagen, dass man Bescheid wusste und noch auf halbwegs diskretem Abstand blieb.

»Danke, ja. Sie ist schon eingerichtet.« Baxter ging nicht weiter auf die Anspielung ein. Er wählte Bœuf Bourgignon, David das vegetarische Gericht mit Morcheln und Trüffelsoße. »Ich habe damit gerechnet, dass Sie zu mir kommen, Mister O’Liar.« Seine grünen Augen richteten sich auf ihn.

»Senator, ich sehe mich vollkommen bestätigt. Ich habe Sie als einen schlauen, umsichtigen Mann eingeschätzt, der auch mal gerne genießt.« David ließ sich vom Rotwein einschenken und wartete, bis der Kellner verschwunden war. Dann begann der Teil der Unterredung, der nicht für fremde Ohren bestimmt war. »Ich möchte, dass Sie noch mehr genießen.«

»Bei was?«, sagte Baxter mit Unverständnis.

»Ich möchte Ihnen etwas ans Herz legen: Ihre Gesundheit.« David prostete ihm zu und ließ diesen kleinen Satz wirken. »Sir.«

»Soll ich das so verstehen, dass Sie in der Lage sind, das zu ändern, Mister O’Liar?« Baxter täuschte Amüsement vor, konnte die Unsicherheit in seinen Augen jedoch nicht verbergen. David erkannte so etwas sehr schnell.

»Sie sollten den stressigen Job als Senator in einem halben Jahr an den Nagel hängen und sich in Ihr nettes, kleines Häuschen am Ufer des Shannon zurückziehen, wo Sie von morgens bis abends angeln gehen können. Genießen, Sie verstehen?« David legte die Ellbogen auf den Tisch. »Das wäre mir sehr viel Geld wert, Sir. Ich kann Ihnen im Monat zweitausend Euro anbieten. Solange Sie leben.«

Baxter lehnte sich nach hinten, die Hände blieben auf der weißen Decke, und er streckte die Arme. Eine Geste der Ablehnung. Die Entrüstung blieb aus, da er mit einem solchen Angebot sicherlich gerechnet hatte. »Der Präsident der irischen Republik selbst hat mich in den Senat berufen und rechnet mit meiner Loyalität, wenn es um die Beratungen im Oberhaus und im Unterhaus geht. Wie stellen Sie sich das vor? Abgesehen davon, dass ich es impertinent finde, wie Sie auftreten, Mister O’Liar.«

David unterbrach den Blickkontakt nicht. Er würde den zappelnden Fisch nicht vom Haken lassen, denn angebissen hatte er mit der Annahme der Einladung. Er war bestechlich – blieb die Frage nach der Summe. »Sind Ihnen zweitausend zu wenig? Gut, ich erhöhe auf dreitausend plus einen Einmalbonus von einer halben Million Euro. Von beidem wird niemand etwas erfahren, und dazu kommen noch Ihre staatlichen Bezüge. Davon können Sie die Hütte aufstocken.«

»Was passiert denn, wenn ich gehe?« Baxter schien die Taktik ändern zu wollen. »Wen bringen Sie an meiner Stelle ins Oberhaus? Welche Interessen soll er vertreten im Gegensatz zu mir? Ich meine, darauf läuft es doch hinaus?« Er runzelte die Stirn. »Haben Sie den Präsidenten in der Hand, damit er den Nachfolger beruft, den Sie brauchen? Und eine Garantie, dass ich das Geld erhalte, werden Sie auch nicht geben können.«

David lächelte, obwohl ihm nicht danach war. Baxter stellte zu viele Fragen, auf die er keine Antworten bekommen würde. Ein Mann wie der Senator akzeptierte es nicht, keine Auskünfte zu erhalten. Deswegen musste er den Senat verlassen. »Auf mein Wort können Sie bauen. Belasten Sie sich nicht mit derlei Gedanken. Das ist nicht gut für Ihre Gesundheit, Sir.«

Aber Baxter hatte Witterung aufgenommen. Er beugte sich nach vorne. »Ich frage mich seit zwei Jahren, Mister O’Liar, welches Spiel Sie treiben – und vor allem: für wen? Nachforschungen über Sie liefen ins Leere, und nach außen sind Sie ein netter, unauffälliger Finanzberater, dessen Unternehmen eigene Fonds auflegt. Aber dennoch hört man Ihren Namen, der mit Hochachtung, Furcht und Hass ausgesprochen wird, auffallend häufig von vielen meiner Ex-Kollegen aus Senat und Parlament.«

David gefiel es gar nicht, was er sich anhören musste: Der dumme Fisch versuchte, den Angler zu beißen. »Sir, bitte. Sie machen sich zu viele Sorgen und vertrauen den falschen Leuten.«

»Das bedeutet, ich müsste Ihnen vertrauen, Mister O’Liar«, konterte Baxter spitz und sah auf.

Der Kellner brachte die Bestellungen, goss Wein nach und verschwand wieder. Der wundervolle Duft von gebratenen Morcheln sowie Trüffeln und Bœuf Bourgignon verteilte sich in der Luft.

David hatte allerdings seinen Appetit verloren, was er bedauerte. Der sture Fisch an seiner Angel war nervig. »Fünftausend, Sir, und eine Million Aussteigergeld«, sprach er leise und kühl.

Baxter nahm das Besteck auf und begann zu essen. »Nein. Ich denke, dass ich Sie überwachen lassen werde, Mister O’Liar. Überwachen, durchleuchten und mit allen Mitteln ans Licht zerren, was Sie vor mir verbergen. Vor mir«, die Zinken zielten auf David, »und der Öffentlichkeit. Ihre Dienste dienen nicht dazu, die Demokratie des Volkes zu unterstützen, das ist sicher. Ich will herausfinden, wer sich in den Gremien und in den höchsten Instrumentarien der Freiheit ausbreitet. Sie sind deren ausführendes Organ. Ein Organ, das ich entfernen möchte.« Er schob sich einen Bissen in den Mund. Die Kampfansagen waren ausgetauscht worden.

David nickte mit verkniffenem Mund und trank noch mehr Rotwein. Der Senator war ihm zu neugierig. »Wer sagt Ihnen, dass ich Ihr Essen nicht habe vergiften lassen?«

Baxter hörte für zwei Sekunden auf zu kauen. »Nein, das würden Sie nicht tun. Sie dachten bis vorhin, dass Sie mich aus dem Senat kaufen könnten«, entschied er. »Ich weiß, dass ich vorsichtiger sein muss, weil ich Sie mir heute zum Gegner gemacht habe.« Noch mehr Bœuf Bourgignon verschwand in seinem Mund. »Aber Ihre Saat aus Angst und Geld wird nicht länger aufgehen. Morgen schon setze ich den Senat von Ihren Machenschaften in Kenntnis. Ich kann es mir leisten, denn ich habe keinerlei Familie, die Sie bedrohen könnten. Dann werden wir sehen, wie es mit Ihnen weitergeht, Mister O’Liar.« Er zwinkerte und aß weiter.

»Brauche ich denn eine Familie, Sir? Sie sind alleine gekommen, und ich könnte Sie gleich hier töten, Sir. In der Nische des Restaurants. Niemand würde etwas mitbekommen, und Ihre Leiche verschwindet in einem Moorloch. Sie sehen, dass Sie mir am Herzen liegen, Senator. Ich möchte einfach nur, dass Sie in den Ruhestand gehen.« David gab den Fröhlichen. »Sollte das Geld Sie nicht dazu bewegen: Ich verspreche Ihnen, dass ich jede Woche ein Mädchen oder einen Jungen in Irland in einem beliebigen Kindergarten umbringen lasse, bis Sie mir sagen, dass Sie gehen. Das Gleiche gilt auch für jeden Versuch, mit der Presse oder der Polizei Kontakt aufzunehmen: ein Anruf, peng, ein Kind weniger. Sie sollten schweigen.«

»Was?« Baxter starrte ihn an. »Das … würden Sie nicht tun.«

David lachte ausgelassen, als hätte er einen guten Witz gehört. »Sie haben keine Ahnung, was ich alles tun kann, Sir! Ich habe kein Gewissen, Sie schon. Deswegen werden mit jeder Todesnachricht Ihre Schuldgefühle größer werden. Sagen wir«, er schwenkte sein Messer, hielt es kurz in den Rotwein und ließ rote Tropfen nebeneinander auf das weiße Tischtuch fallen, »ich nehme nur die Kleinsten. Ich kann sie überfahren lassen. Kampfhunde auf sie hetzen. Erschießen lassen. Mein Repertoire ist umfangreich. Wie gefällt Ihnen das?«

»Sie sind …« Baxter atmete schneller und griff sich an den Kragen. Seine Augen waren auf die Flecken gerichtet, und er dachte mit Sicherheit an das unschuldige Blut, das vergossen werden würde.

»Werden Sie Blumen an die Familien schicken, um Ihr Beileid auszudrücken?« David holte die Leine mit dem Fisch daran ein.

»Sie können mich damit nicht zwingen«, sagte der Senator endlich tapfer. »Ich weiß, dass Sie die Taten begehen, nicht ich, Sie Verrückter!«

»Aber, Sir! Sie zwingen mich doch dazu! Ihre Sturheit, Ihre Rücksichtslosigkeit, Ihr lächerlicher Anspruch, für eine ehrenhafte Sache kämpfen zu wollen – Sie alleine töten diese Kinder, Senator Baxter! Woche um Woche.« David schwelgte darin, dem Mann zuzusetzen. »Ich kann noch Zettel an den Orten verteilen lassen. Stellen Sie sich vor, wenn neben jeder Leiche eines süßen Jungen oder eines niedlichen Mädchens Ihr Bild liegt! Oh, was wäre das für eine Wirkung! Der Baxter-Mörder! Ihr Name wird in die Kriminalgeschichte eingehen.« Die Zuversicht stieg. David hatte nun doch wieder Hunger und kostete von den Nudeln in der Morchel-Trüffel-Soße. Es schmeckte zum Sterben gut. »Ich kann es auch weniger theatralisch halten, Sir. Aber wenn Sie aus dem Oberhaus verschwinden, wird es keine toten Kinder geben. Das verspreche ich Ihnen.«

Baxter hatte den Kopf gesenkt und hielt das Besteck umklammert. Man sah ihm an, dass er sich auf David stürzen wollte, aber genauso gut wusste, dass es nichts bringen würde. Nach Mister O’Liar kam der nächste Mister O’Liar. »Gut«, bellte er und warf Messer und Gabel auf den Teller, es klirrte laut. Ein Stückchen Porzellan sprang ab. »Sie haben gewonnen. Ich reiche dem Präsidenten gleich morgen mein Rückzugsgesuch ein.« Er erhob sich.

»Aber nein, aber nein, Sir! Nicht so schnell. Sie haben nicht aufgegessen.« David deutete auf den Stuhl. »Und was Ihren Rücktritt angeht: bitte erst in einem halben Jahr. Nicht vorher. Und sollten Sie wirklich versuchen, mir mit Ermittlern zu nahe zu kommen, kenne ich einen Kindergarten ganz hier in der Nähe.«

Baxter spie ihm ins Essen und ging.

David grinste. Der Fisch war gefangen. In aller Ruhe tauschte er die Teller und aß das Bœuf Bourgignon zu Ende. Es wäre zu schade, das Fleisch verkommen zu lassen.

Der Telefonanruf, den er mitten beim Essen bekam, verdarb ihm jedoch den Genuss. David musste das Restaurant verlassen. Pläne waren geändert worden.

* * *
Judastöchter
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