10. Februar, Irland,
nordwestlich von Galway, 02.22 Uhr
Sie rannten in den Keller.
»Hier lang!« Justine fand den beschriebenen Stein auf anhieb, drückte ihn in die Vertiefung, und ein dunkler Eingang öffnete sich.
Dahinter führte ein schwach beleuchteter Gang geradeaus, von der Decke tropfte das Wasser, an manchen Stellen schoss es sogar wie ein kleiner Wasserfall herab, der sich über die ganze Breite des Gangs zog.
Die Absicherung gegen Sia. Eric warf ihr einen schnellen Blick zu, und die Vampirin fletschte die Zähne. Da es kein fließendes Wasser im Sinne eines Bachlaufs war, konnte sie die Kaskade zwar passieren, aber die zerstörerische Kraft würde es sicherlich beibehalten. »Schaffst du es?«
Sie sparte sich eine Antwort und sprintete los, durchbrach die Wasserschleier mit einem lauten Aufschrei, während sich der Tunnel mit Qualm füllte. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Justine und Eric konnten nicht mit ihr Schritt halten, sie blieben etliche Meter hinter ihr zurück, sahen aber sehr wohl, was sich vor ihnen ereignete.
»Will sie sich selbst umbringen?« Justine grollte und nahm im Rennen die Halbform der Bestie an.
»Nein, aber sie fürchtet, dass sie zu spät ist.« Wie ich. Eric ging fest davon aus, dass sie nichts mehr für Emma tun konnten. Zwar hatten sie das richtige Haus erwischt, aber sie waren beobachtet worden, und die Konsequenzen für ihr Eindringen würde Emma als Erste zu spüren bekommen. Sia wusste das ebenso. Selbst ihre rasende Wut würde nichts daran ändern können. Ich mache mir keine Hoffnung. Die Nachtkelten haben keine Ahnung, was für eine Rachegöttin sie damit erschaffen haben.
Vor ihnen durchbrach Sia eine Tür mit reichlich Getöse. Schüsse erklangen, gefolgt von mehreren lauten Schreien, die zusammen mit den Waffen rasch verstummten.
Gleich darauf waren Eric und Justine bei ihr.
Sie standen in einem Kontrollzimmer, auf dem Tisch befanden sich mehrere Monitore mit wechselnden Bildern, teilweise aus dem Haus, teilweise aus unbekannten Räumen. Zwei Männer lagen mit aufgeschlitzten Kehlen neben den Stühlen, die Waffen hatten sie nicht mehr ziehen können. Fünf weitere Wachleute lagen auf den Apparaturen verteilt, die Projektile aus den Schnellfeuergewehren waren wirkungslos gewesen. Die Löcher in den Wänden verrieten, dass sie die Vampirin nicht getroffen hatten.
»Sie ist hier hinein!« Justine rannte weiter, direkt durch die linke Tür.
Verdammt, das geht alles zu unkoordiniert. Eric hätte zu gerne mit Hilfe der Überwachungsanlage nach Emma gesucht, aber es war keine Zeit mehr zu verlieren. Er durfte die beiden Frauen nicht alleine lassen, und so folgte er ihnen. Erwartet haben uns die Sídhe wenigstens nicht, sonst wären wir schon …
Justines lauter Schrei unterbrach seine Gedanken.
Er sah seine Halbschwester rückwärtsstolpern, dann fiel sie auf den Boden – und heulte noch lauter! Rauch stieg von ihr auf, wieder drang der Geruch von verschmorendem Fleisch in seine Nase.
Vor ihm flirrte die Luft. Aber nicht vor Hitze, sondern silbern.
Der Flitter! Eric erinnerte sich an das Röhrchen, das er einem Bullen in Wicklow abgenommen hatte. Die Sídhe hatten sich und ihre wichtigsten Verstecke natürlich bestens abgesichert. Pulverisiertes Argentum, Silberplatten am Boden!
Justine hustete Qualm, spuckte Blut und röchelte schrecklich, versuchte aufzustehen. Aber jeder Kontakt mit dem Boden brachte sie noch mehr zum Zucken und Schreien. »Zieh mich raus«, würgte sie und erbrach sich. »Silber … überall …«
Eric packte sie unter den Achseln und hob sie an, damit sie keinen Kontakt mehr zum Boden hatte, und brachte sie in den Kontrollraum. »Atme flach«, befahl er ihr. »Versuche, so viel wie möglich rauszuhusten. Ich muss zu Sia!«
Justine wurde von Krämpfen geschüttelt, sie wand sich und hielt sich an den Tischbeinen fest, die sich unter ihrem Griff verbogen.
»Ich bin bald zurück, hörst du?« Ich kann nichts für sie tun. Eric rannte zurück in den Gang, durch die Schwaden, die an Pollenwolken erinnerten. Er hielt die Luft an, damit er das Pulver nicht inhalierte, da es gewiss auch nicht gut für normale Lungen war.
Der Gang wand sich in Biegungen und machte es unmöglich, weit nach vorne zu blicken. Immer wieder sonderten versteckte Düsen Flitter ab.
Das würde kein Wandler überleben! Eric musste wegen des Staubs husten. Auf ihn entfaltete das Silber keinerlei tödliche Wirkung. Mit einer Hand hielt er sich das Nachtsichtgerät vor die Augen, damit er mehr sah.
»Sia?« Eric gelangte wieder an eine eingetretene Tür.
Ein kuppelförmiger, hoher Raum erwartete ihn auf der anderen Seite. Es roch nach feuchter Erde, nach Torf und Moos. Die Decke wurde von langen Stelzen abgestützt, die kunstvoll geschnitzt und alt aussahen. Keltische Motive waren eingelassen worden, und ganz oben hatten die Sídhe Banner aufgehängt, die nicht weniger alt wirkten.
Ich bin in einem der Feenhügel, in dem die Vampire früher gelebt haben. Oder darunter. Wieder hatte er keine Chance, sich länger aufzuhalten und umzuschauen.
Es knallte weiter entfernt von ihm. Eine Schnellfeuerwaffe wurde im Automatikmodus bedient, die Salven endeten gar nicht mehr. Darunter mischte sich das Bellen von großkalibrigen Pistolen. Sia war auf erneute Gegenwehr gestoßen.
Weit kann es nicht sein. Eric hastete durch den Stangenwald. Er fand einen weiteren Ausgang und hielt das G36 nach vorne gerichtet.
Er war nervös, weil er noch niemals bewusst gegen Vampire gekämpft hatte, wobei ihm eine Beschreibung sehr bekannt vorgekommen war: Die Blutsauger aus der Art der Umbra konnten sich in einen schwarzen Werwolf verwandeln. Von denen habe ich einige erlegt. Es war müßig, darüber nachzudenken. Ich sehe es ja gleich.
Eric kam in einem Raum heraus, der als Versammlungsort gedient hatte. Am Boden lagen die Leichen von vier weiteren Wachleuten, alle waren zerfetzt oder erschossen worden. Von den Sídhe fehlte nach wie vor jede Spur. Sie schoben ihr menschliches Gefolge vor in die erste Reihe der Schlacht.
Würde ich ebenso machen. Eric setzte über die Toten hinweg, ging durch die Tür, schritt eilends Stufen hinab, die aus Stein waren und sehr abgewetzt aussahen. Ob sie aus den Ursprungstagen der Sídhe stammen?
Die schiefen, mitunter abgebrochenen Stiegen endeten vor einer alten Tür, die offen stand. Modergeruch ging von dem, was dahinter lag, aus. Ein süßlich stechender Duft, den Eric sehr gut kannte.
»Sia?« Er bewegte sich in das Gefängnis, das aus Stäben bestand, die in Boden und Decke eingelassen waren. Ein großer Käfig, in dem weitere Stäbe kleinere Zellen abteilten. In manchen verrotteten Leichname, mal waren sie kaum mehr als Menschen zu erkennen, mal waren es nur noch Gebeine, und mal sahen sie sehr frisch aus, als würden sie keine zwei Tage da liegen.
Der Gestank nach Verfall intensivierte sich.
Da ist sie! Eric sah die Vampirin in einer der Zellen knien, die Arme hingen kraftlos herab. Sämtliche Körperspannung war gewichen. Er kannte diese Haltung von Gegnern, die sich aufgegeben hatten.
Eric wusste auch, vor was Sia kauerte.
Ich habe es geahnt. Nach wie vor achtsam, näherte er sich ihr.
Im Dreck, neben zwei halbzersetzten Toten, lag Emma, gekleidet in ein verschmutztes OP-Hemdchen. Der Farbe der Haut und dem leicht aufgeblähten Leib nach war sie bereits vor längerer Zeit gestorben; an ihren blau angelaufenen Armen zeigten sich dicke Einstichstellen, wo einst Infusionen gelegen hatten. Ein Auge war geschlossen, das andere blickte glasig nach rechts, gegen die Wand.
Eric empfand tiefes Mitgefühl für Sia, die sich nicht regte, sondern auf die Tote starrte, unfähig, sich zu rühren oder etwas zu sagen. Sie kniete einfach da, als würde sie auf etwas warten.
Das einzig Gute daran war, dass ihr Angriff nicht schuld war, dass Emma ihr Leben verloren hatte. Die Sídhe hatten sie entweder vor längerer Zeit umgebracht, oder sie war einfach so verstorben und von den Aufpassern hier entsorgt worden.
»Sia«, sagte er leise und berührte ihre Schulter. »Sia, wir müssen verschwinden. Sie haben bestimmt eine externe Verlinkung ihres Überwachungssystems. Die Sídhe werden uns gesehen und neue Leute geschickt haben, die …«
»Sie war nicht meine Schwester«, sprach sie rauh. »Sie … war meine Enkelin. Ein Teil von mir. Ich habe ihr das Leben geschenkt.«
Eric musste an seine eigene Tochter denken.
Ihr Körper bebte. »Sie haben sie sterben lassen und weggeworfen wie Müll. Wie ihren anderen menschlichen Müll.« Ihre Stimme wurde lauter. »Die Sídhe haben sich nicht an die Abmachung gehalten. Dafür …« Sie verstummte und erhob sich. Silberflitter löste sich aus ihren roten Haaren, schwebte auf die Tote und traf ihr Gesicht. »Ich töte sie«, raunte sie. »Ich töte jeden Einzelnen der Sídhe!« Sie nahm Emma und legte sie sich über die Schulter, dann ging sie los.
Sie traten den Rückweg an, bei dem sie auf keinerlei Widerstand stießen. Die Feinde waren ausgeschaltet. Justine hatte die Gänge verlassen, sie sahen ihre Blutspur auf dem Boden, die sie nach draußen führte.
Gesprochen wurde nicht. Jedes Wort wäre unpassend, unerträglich und hohl gewesen. Nach einer ganzen Weile verließen sie den Gang, durchquerten den Keller und gingen aus dem Gebäude.
Sie fanden die Werwölfin vor dem Haus, schwer atmend und immer wieder hustend, wie eine schwerst asthmakranke Patientin. »Merde«, sagte sie keuchend, als sie die Tote sah. »Sie haben sie … umgebracht. Sind zu … spät ge…kommen.« Justine blickte zu Eric, der ihr ein Zeichen gab, keine weiteren Fragen zu stellen.
Langsam ging Sia derweil weiter. »Brennt das Haus nieder«, sagte sie leise. »Wir treffen uns beim Wagen.«
Eric schickte Justine mit einem Nicken los, damit die Vampirin nicht alleine war, und legte an verschiedenen Stellen im Gebäude Feuer. Was für ein Horror. Ein paar Gasflaschen deponierte er im Gang und drehte die Ventile auf, damit der Tunnel einbrach und den Rest des Labyrinths mit Moorwasser flutete.
Eric verließ das Haus, aus dem im obersten Stock bereits die Flammen schlugen. Er hatte das Auto fast erreicht, als es eine dumpfe Explosion gab, gefolgt von weiteren, und ein lautes Blubbern erklang.
Er sah sich um.
Teile des Sumpfs sackten nach unten, das Wasser versickerte schlagartig. Moospolster gerieten durch den Sog ins Treiben, und Tiere kreischten aufbegehrend.
Damit haben die Sídhe ein Versteck weniger. Eric sah, dass Justine hinter dem Steuer des Touareg saß, Sia hatte sich neben die Tote auf den Rücksitz begeben. Blieb für ihn die Beifahrerseite.
Er stieg ein und sah zu, wie die letzten Reste des Hauses ein Opfer der Lohen wurden. Justine und Sia verfolgten das Schauspiel ebenfalls schweigend.
Der süßliche Geruch der Verwesung machte sich im Auto breit.
»Hilfst du mir dabei, Eric?« Sia vermied es, ihn anzuschauen. »Ich kann dich nur bitten.«
Er musste schlucken und wusste genau, was sie meinte. »Ich verstehe den Wunsch, sie umzubringen. Aber Elena braucht dich jetzt, Sia.« Er bemühte sich, an ihre Vernunft zu appellieren. »Reib dich nicht im Kampf gegen die Sídhe auf. Das Mädchen …«
»… hat seine Mutter verloren, weil ich unfähig war«, unterbrach sie ihn. »Jetzt muss ich wenigstens die Mörder zur Rechenschaft ziehen.«
Was würde ich tun, wenn sie meine Tochter umgebracht hätten? Und gegen seinen Willen sagte Eric: »Ja.«
»Danke. Danach werde ich alles für dich tun, was du von mir verlangst.«
Verlockend. Er hätte sie zu gerne in den Arm genommen, sie getröstet und Nähe vermittelt. Doch das hätte dieses schreckliche Begehren ausgelöst. »Ich werde nur von dir verlangen, dich um Elena zu kümmern«, gab er ergriffen zurück.
Sie schwiegen. Das Prasseln und Knacken der Flammen hörten sie deutlich im Innern des Wagens.
»Was machen wir mit ihr?«, fragte Justine, ohne die Augen vom Feuer zu wenden.
Eric dankte dem Himmel, dass seine Halbschwester in ihrer charmanten Weise nicht mehr über Gestank und dergleichen hinzugefügt hatte. Manchmal besitzt sie doch Anstand.
Sia entgegnete nichts.
Die letzten Teile des Hauses brachen zusammen, ein Funkenregen schoss hoch hinauf in den Nachthimmel und versah das Firmament mit weiteren, orangefarbenen Sternen.
»Ich werde sie verbrennen«, sagte Sia und stieg aus. »Die Asche kehrt mit mir nach Deutschland zurück.« Als Eric sich anschickte, ihr folgen zu wollen, lehnte sie rasch ab. »Lass. Ich mache diese Sache alleine.« Sie sah Justine an. »Ruf den Ard Rí an, bitte. Er soll dir sagen, wo ich die wichtigsten Sídhe finde. Mit ihnen fange ich an.« Die Autotür schlug zu, dann wurde der Kofferraum geöffnet und gleich wieder geschlossen.
Eric und Justine verfolgten, wie Sia als Silhouette vor dem hellen Feuerschein und mit ihrer Nachfahrin auf den Armen zum Haus zurückkehrte; in der Rechten trug sie einen kleinen Ersatzkanister mit Benzin.
»Merde, merde et encore une fois: merde!« Justine musste husten und sog rasselnd Atem ein. »Hat sie mir geglaubt, als ich gesagt habe, dass es mir leidtut?«
»Ja. Das hat sie.« Eric fühlte einen tiefen Hass gegen die irischen Vampire. »Ruf den Ard Rí an. Es sollen die Köpfe der Sídhe rollen.« Sie nahm ihr Handy hervor. »Und sag ihm ruhig, was geschehen ist.«
»Oui.« Justine hustete unterdrückt, öffnete die Tür einen Spalt und spuckte aus. »Dieser beschissene Silberflitter! Wer diese Idee gehabt hat …« Sie wählte eine Nummer. »Damit du es gleich weißt, mon frère: Ich bin dabei. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre tot.« Sie blickte ihm in die Augen, dann beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Merci. Fürs Retten.«
Eric war verwundert, freute sich aber über die Geste. Und über die Zusage, dass sie mitmachen würde.
Während Justine den Ard Rí zu erreichen versuchte, beobachtete er, wie Sia Vorkehrungen zur Einäscherung ihres eigen Fleisch und Blutes traf.
Ich darf nicht daran denken, wie es wäre, meine Kleine zu verlieren. Ja, er verstand die Vampirin durch und durch.