3. Februar, Deutschland,
Berlin, Gesundbrunnen, 10.14 Uhr
Wilson kam sich wie in London vor. So international und multikulturell hatte er sich Berlin gar nicht vorgestellt: Kopftücher, Turbane, Jeans, Kaftane, Saris, die verschiedensten Hautfarben und Gesichtszüge, lange und kurze Bärte sowie die unterschiedlichsten Sprachfetzen – das alles begegnete ihm auf den paar Metern, die er von der kleinen Pension bis zum Einkaufszentrum lief. Soho ist ja beinahe langweilig dagegen!
Er war allein unterwegs, dazu noch in einem für seinen Geschmack viel zu billigen, grauen Anzug. Seine eigene Garderobe hatte er im Radisson zurücklassen müssen.
Das Mädchen lag, von Medikamenten ruhiggestellt, im Zimmer und würde bald erwachen. Dann würde es mit Sicherheit Hunger haben, und genau deswegen eilte Wilson durch die Gegend. Klamotten hatte er ihnen unterwegs gekauft. Es war zwar nicht gut, den Stoff ungewaschen zu tragen, aber es ging nicht anders.
Wilson bemerkte anhand der Schilder, dass unmittelbar unter seinen Füßen ein ICE-Bahnhof lag. Fernzüge. Eine Alternative zum Auto?
Er betrat das Center, orientierte sich und suchte den kürzesten Weg zu einem Caféladen, der ihm belegte Brötchen und vor allem guten Tee verkaufen konnte. Was er Elena an Tranquilizern verabreicht hatte, nahm er an Aufputschmitteln, um mit möglichst wenig Schlaf auszukommen.
Wilson prüfte mit raschen Blicken, ob er nicht verfolgt wurde, und fuhr in den ersten Stock, um einen besseren Überblick zu bekommen.
Unmittelbar neben der Rolltreppe fand er einen kleinen Laden, in den er sofort hineinging.
Das Center hatte anscheinend noch nicht lange geöffnet, eine Bedienung war nirgends zu sehen. Wilson hörte aber jemanden Kisten in einem Nebenraum hin und her schieben.
Während er wartete, dass er bedient wurde, las er ein Plakat, auf dem drei junge Leute abgebildet waren: zwei Männer und eine Frau, die sich Theaterhaie nannten. Eine Improvisationstheatertruppe, die zu ihrer nächsten Aufführung lud: »Die Theaterhaie schnappen zu! Der flotte Dreier der Impro-Szene geht auf die Jagd nach Euren Ideen. Mit reichlich Biss und scharfer Zunge verwandeln wir die Vorgaben des Publikums in spontane Mini-Dramen. Mord oder Märchen, Tragik oder Slapstick – auf der Bühne kann alles geschehen. Theater auf Zuruf vom Feinsten.«
Schade, dass ich dafür keine Zeit habe. Es klingt lustig. Er dachte auch daran, dass nicht nur auf der Bühne alles geschehen konnte. Das Leben war meist das bessere Theaterstück.
»Oh, entschuldigen Sie! Ich habe Sie nicht gesehen.« Eine Bedienung mit dem Namensschildchen Jenny tauchte auf. »Was kann ich für Sie tun?«
»Nicht so schlimm. Drei belegte Brötchen, zwei Kakao, eine kleine Auswahl an Donuts, Saft, alles zum Mitnehmen, und mir bitte einen Assamtee zum Hiertrinken.«
Jenny notierte sich seine Bestellung und machte sich an die Arbeit. Wilson nutzte die Gelegenheit, sein Handy zu checken. Keine Anrufe in Abwesenheit. Das bedeutete, dass er von Gutem und Schlechtem verschont geblieben war.
Aber eine SMS war unbemerkt eingegangen, in der ihm Mister Mirror mitteilte, dass er ein vertrauensvolles Team ausgesandt hatte, um die Operation Shelter durchzuziehen. Gegen Nachmittag sollte alles gelaufen sein.
Gut. Aber er entspannte sich nicht, sosehr die nette Bedienung ihm auch zulächelte und an den Armaturen des wuchtigen Zubereitungsautomaten herumschraubte. Die Maschine wollte nicht und weigerte sich, heißes Wasser für den Tee zu liefern. Ein simpler Wasserkocher hat Vorteile. Wilson sah zum Eingang des Cafés.
Zuerst hielt er es für eine Täuschung, aber dann erkannte er sie – Black, die in sein Zuhause eingebrochen war und mit der er sich eine Schießerei geliefert hatte! Sie las sich die ausgehängte Tagesempfehlung durch und schlenderte herein.
Wilson verfolgte jede ihrer Bewegungen, als sie sich an einem der hohen Tische auf der Sitzbank niederließ. Er war froh, seine Walther dabeizuhaben. Dieses Mal waren die Voraussetzungen für eine Schießerei ausgeglichener.
»Ich bin gleich bei Ihnen«, rief Jenny und schaltete die Maschine ab, um sie neu zu starten. »Verzeihen Sie«, sagte sie zu ihm. »Dauert noch. Keine Ahnung, warum das Ding spinnt.«
»Kein Problem«, antwortete er und ließ Black nicht aus den Augen, die einen kurzen, braunen Ledermantel über einem schwarzen Rollkragenpullover und Jeans trug. Sie hob die Rechte, reckte den Zeigefinger und winkte ihn zu sich. »Ich warte bei der Lady.« Wilson ging mit sehr gemischten Gefühlen an den Tisch.
»Hallo«, grüßte sie ihn mit ihrem heiseren Flüstern. »Wie stehen die Aktien?«
»Welche meinen Sie? Ich kann Ihnen die Wertpapiere von Walther empfehlen. Ich trage sie immer bei mir.« Er steckte eine Hand in die Tasche, um den Pistolengriff zu umschließen. Sie sollte unmissverständlich wissen, dass er bewaffnet war.
»Dachte ich mir.« Black trug ihre dunkelblonden Haare heute offen, was ihr Gesicht femininer machte. »Ich habe von Leipzig gehört und wollte Ihnen persönlich sagen, dass es nicht unsere Leute waren, die Sie und die Kleine besucht haben.«
»Das ist sehr aufmerksam von Ihnen, Miss Black. Ich dachte es mir.«
Jenny erschien und nahm die Bestellung auf.
Black wählte einen klassischen Kaffee, und die Bedienung verschwand wieder. »Es ist doch traurig, dass heute alles einen besonderen Namen haben muss«, räsonierte sie. »Was ist aus dem Milchkaffee geworden? Heute muss es Latte macchiato oder in der Art heißen, und wenn die Maschine streikt, sitzt man da wie ein Depp. Filterkaffee. Einfacher, schnöder Filterkaffee. Die Menschen sind zu verwöhnt und lassen sich vom Marketing ihren freien Verstand rauben.«
»Ein Latte macchiato ist kein Milchkaffee, sondern ein Milchespresso.« Wilson suchte nach dem Sinn ihres Monologs. Sie will mich ablenken. Er sah hinaus zur Galerie, um verdächtig unverdächtige Personen auszumachen. Noch war nicht viel im Center los, und er meinte, zwei Leute entdeckt zu haben, die zu Black gehören könnten. Sie standen am Geländer und taten nichts, außer künstlich den Blickkontakt zu ihm zu vermeiden.
»Und wer war es dann?«, nahm er den Faden ihrer Unterredung auf, ohne sich auf die Kaffeeabhandlung einzulassen. Er war ohnehin Teetrinker. »Wer wollte mich und Elena umbringen?«
»Gemeinsame Feinde, Mister Wilson, vor denen ich Sie heute noch einmal eindringlich warnen möchte.«
»Das klingt sehr geheimnisvoll.«
»Für Sie ja. Für mich nicht.«
Er entspannte sich leicht, weil er nicht mehr annahm, dass Black ihn erledigen wollte. Sein Trumpf hieß Elena. Sie wissen nicht, wo sie steckt, sonst säßen sie mir nicht im Nacken und würden verhandeln. »Verraten Sie mir, wie mich diese gemeinsamen Feinde gefunden haben?«
Sie verzog den Mund als Ausdruck ihrer Ratlosigkeit. »Ich möchte nicht ausschließen, dass ein solches Kommando noch einmal bei Ihnen auftaucht, um Ihnen und der Kleinen etwas anzutun. Deswegen bin ich hier.«
Jenny tauchte mit dem Kaffee auf und zwang sie zu kurzem Schweigen.
»Sie und Ihre Leute.« Wilson zeigte kurz auf die Galerie hinaus. »Sie wollen meine Leibwächterin spielen.«
»So in etwa, Mister Wilson«, gab sie rauh flüsternd zurück. »Sie haben zwar deutlich gemacht, dass Sie auf Begleitung verzichten, aber das können wir nicht akzeptieren.«
»Ah, jetzt kommt wieder die Stelle mit der versteckten Drohung.« Wilson hatte nicht vor, das aufgezwungene Angebot anzunehmen. Er brauchte maximale Freiheit, um das, was er beabsichtigte, in die Tat umzusetzen.
Black gab seelenruhig Zucker und Milch in den Kaffee. »Leibwächter erlauben sich keine Diskussionen mit den zu Beschützenden, Mister Wilson. Sie müssten das als ausgebildeter Bodyguard doch am besten wissen. Wir handeln.« Sie rührte um, klirrend stieß das Metall an die dünnen Porzellanwände. Sie leckte den Löffel ab und legte ihn auf den Unterteller. »Wir sind aber noch im Geschäft, oder?« Das Flüstern war bedrohlich geworden, sie suchte Blickkontakt. »Wir haben eine Abmachung!«
»Ich gedenke, sie einzuhalten. Sie müssen mir nicht wieder eine schallgedämpfte Pistole an die Stirn setzen, um mich daran zu erinnern, Miss Black«, retournierte er ätzend. »Halten Sie sich ebenso dran, und wir bleiben die besten Nichtfreunde, die es gibt.«
Jenny tauchte am Tisch auf und stellte eine braune Papiertüte ab. »Bitte sehr, Ihr Frühstück«, sagte sie zu ihm und legte die Rechnung gleich dazu.
Wilson schob den Zettel zu Black. »Die Dame bezahlt. Ich muss weg.« Zu Black sagte er auf Englisch: »Trinkgeld nicht vergessen. Rufen Sie Ihre Leute rein, spendieren Sie denen noch einen Kaffee, und genießen Sie den Tag, aber lassen Sie mich in Ruhe!« Er marschierte los und verließ das kleine Café.
Hoffentlich halten Elenas Beruhigungsmittel noch an. So viel Zeit hatte er für seinen Besorgungsgang nicht eingeplant, und er wusste nicht, wie das Mädchen reagieren würde, wenn es in einer total fremden Umgebung zu sich kam.
Wilson sah, dass sich einer der beiden Männer an seine Fersen heftete und vier Stufen über ihm grinsend auf die Rolltreppe stieg. Black hatte nicht vor, ihre Leute zurückzupfeifen.
Schön. Zeigen wir, wie ernst es mir ist. Wilson ging gegen die Laufrichtung der Treppe hinauf, auf den Mann zu, der ihn verwundert anblickte. »Hallo.« Im nächsten Moment schlug er zu und traf den Mann gegen die rechte Wange. Der Angriff kam zu schnell, die Faust krachte mit sehr viel Schwung ins Ziel.
Zu viel Schwung.
Der Mann verdrehte die Augen und wurde nach links geworfen, fiel gegen das Geländer und kippte darüber! Ohne einen Schrei verschwand er nach unten, Wilsons rasch zupackende Finger griffen ins Leere; gleich darauf erklangen der Aufschlag und erste Schreie.
Oh … bloody hell! Wilson sah die Gesichter der Besucher auf sich gerichtet. Er zeigte nach oben und tat so, als sei der Mann von der Galerie gestürzt. Über sich erkannte er Black, die ihn fassungslos anstarrte, sowie ihren übriggebliebenen Begleiter, der eine Hand bereits unter der Jacke hatte. Sie hielt ihn davon ab, seine Waffe zu ziehen.
Wilson ahnte, dass er mit diesem Zeichen an die Nachtkelten übertrieben hatte. Kaum hatte er den Absatz erreicht, schritt er aus und verließ zügig das Center, während sich eine Menschenschar um den Verunglückten bildete. Dessen Schicksal interessierte ihn nicht.
Im Freien rannte Wilson los, um eventuelle weitere Verfolger abzuschütteln. Er sprang immer wieder atemlos in Läden, um von dort aus die Straße zu beobachten und abzuwarten, aber Black kreuzte nicht auf.
Er sah auf die Uhr. Fast eine halbe Stunde! Wilson jagte durch die Straßen und benutzte den Nachteingang der Pension; gleich darauf sperrte er die Tür seines Zimmers auf und trat ein.
Elena, die noch immer den Bademantel trug, lag schlafend auf dem Bett, mit der Tagesdecke zugedeckt. Alles sah friedlich aus.
Wilson atmete langsam aus, stellte die Tüte ab und zog den Mantel samt Sakko aus. Damit kam er schnell an die Pistolen, die er in Achsel- und Rückenholster trug. Er riss das braune Papier auf, nahm sich den Kakao heraus, der inzwischen kalt geworden war, setzte sich in den Ecksessel. Von hier aus hatte er Bett und Eingang im Blick. Jetzt musste er ungeduldig warten, bis das Mädchen wach geworden war. Er konnte sie nicht ewig im Zwangsschlaf halten.
Black nimmt es mir sicherlich übel, dass ich einen ihrer Leute außer Gefecht gesetzt habe. Wilson angelte den Löffel raus und warf ihn in den Mülleimer. Selbst schuld. Ich habe ihr gesagt, dass ich alleine arbeite.
Lange würden er und Elena sich nicht mehr in der Pension aufhalten können. Und je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Gedanke, die Reise per Zug fortzusetzen. Er würde herausfinden, ob es einen Nachtzug gab, mit dem er und seine »Tochter« Berlin verlassen konnten.
Eine halbe Stunde später schlug Elena die Augen auf, sah sich um und versuchte, die Umgebung einzuordnen. Ein sensibler Moment. Wilson sah, dass sie verwundert war und das Gefühl in Panik abzurutschen drohte.
»Hallo, Elena«, sagte er aus der Ecke heraus. »Na, genug geschlafen?«
Sie nickte und setzte sich auf, rieb die Augen. »Wo sind wir?«
»Unterwegs.« Wilson zeigte auf die aufgerissene Tüte. »Da drüben gibt es Frühstück. Alles dabei, von süß bis herzhaft. Und in der Sporttasche habe ich Kleider für dich. Es ist deine Größe.«
Elena schwang die Beine vom Bett und ließ sie baumeln, betrachtete ihn. »Normalerweise schlafe ich nicht so lange.«
»Das war die Aufregung, Kleines. Du hast viel zu verarbeiten. Schlaf ist dazu bestens geeignet.«
Sie rutschte von der Matratze und schlurfte ins Bad. »Muss aufs Klo«, murmelte sie und knallte die Tür zu. »Wo sind wir denn, Jeoffray?«, rief sie laut. Es plätscherte. »Hier steht Berlin auf dem Schildchen an der Wand.«
Die Kinder lernen viel zu früh lesen. »Äh … ja. Das stimmt. Wir sind in Berlin.«
»Und was machen wir hier?« Die Spülung rauschte, Sekunden danach kam sie raus und wischte ihre Hände am Bademantel trocken. Hotelseifenduft verbreitete sich im Raum. »Hast du mich entführt?«
»Nein, Elena. Wir bleiben in Bewegung, damit uns die Leute, die uns in Leipzig aufgelauert haben, nicht erwischen. Ich habe deine Mutter angerufen …«
»Meine Mutter liegt im Koma.« Elena setzte sich auf den Stuhl und wählte ein Brötchen mit Käse und Schinken, dazu schlürfte sie ihren Kakao.
»Deine Tante«, verbesserte er sich. »Wir werden uns bald mit ihr treffen. Sie hat gesagt, dass sie noch etwas unternehmen muss.«
»Aha.« Sie kaute nachdenklich. »Woher weißt du, wer meine Tante und meine Mutter sind?«
Ihm wurde heiß. »Du redest im Schlaf. Dadurch hast du mir viele Informationen gegeben.« Wilson war froh, dass ihm noch etwas eingefallen war.
Elena betrachtete ihn und schlug die Zähne mit einer sehr nachdrücklichen Bewegung in die Kruste, was ihn an ein Raubtier erinnerte. Die Eckzähne des Mädchens waren deutlich ausgeprägt, kräftig und spitz. Sie würden ohne viel Anstrengung durch Menschenhaut fahren. Eine angehende Judastochter, zuckte es durch seinen Verstand.
Sie langte nach einem Donut mit Schokoladenguss. »Der Mann, den du in Leipzig erschossen hast«, sagte sie beiläufig und schwenkte den Gebäckkringel hin und her, um danach durch das Loch zu schauen, »hast du nach seinen Wunden gesehen?«
»Nein«, antwortete er verwundert. »Dazu hatte ich keine Zeit.«
Sie hielt den Blick auf ihn gerichtet. »Ich schon. Aus den Löchern ist ganz feiner Rauch gekommen. Tante Sia hat mir mal erklärt, dass man Wandelwesen mit Silber erschießen kann, weil sich ihre Wunden dann nicht mehr schließen und von selbst heilen können.« Sie schwenkte den Arm, das Donutloch zielte auf den Achselholster. »Wieso hast du Silberkugeln geladen?«
Wilson musste die Augenbrauen heben, es ging einfach nicht anders. »Was für ein kluges kleines Fräulein du bist.«
»Wir flüchten vor Wandlern, und du weißt, wie man sie tötet. Ich glaube nicht, dass das alles Zufall ist. Was wollen die Wandler von mir? Oder sind sie wegen Tante Sia hinter mir her?« Elena biss einmal ab. »Und warum hast du mich verfolgt? Hat dich meine Tante geschickt und du musst so tun, als wüsstest du von nichts? Fahren wir in ihrem Auftrag durch die Gegend?« Sie sah nicht im Geringsten beunruhigt aus. Als besäße sie die Gewissheit, dass sie sicher war oder gleich Verstärkung anrückte, um sie zu befreien.
Was sage ich jetzt? Wilson bot sich eine unerwartete Möglichkeit an, das Mädchen mit einer falschen Geschichte zu beruhigen. Aber schon schlug das Misstrauen zu. Sie will mich testen!
Elena schien seine Gedanken gelesen zu haben, denn ihr Lächeln fiel wissend aus. Wissend und berechnend.
Da klopfte es an der Tür.