7. Februar, Großbritannien, Nordirland,
Coleraine, 22.19 Uhr

Eric saß neben Sia im Touareg, den sie in einer Seitenstraße gegenüber dem Hotel geparkt hatten.

In aller Ruhe hatten sie Waffen fertiggemacht, mehrfach geprüft und an sich verstaut. Die Munition reichte aus, um eine kleine Armee zu vernichten.

Wie bei Matrix, als sie die Wachleute erledigt haben, dachte er. Fünf Stockwerke plus ein kleineres. Er sah an der Fassade nach oben, zum sechsten Geschoss, dessen Fenster erleuchtet, die Vorhänge jedoch zugezogen waren. Der Lift würde sie nur bis in den fünften bringen, das war klar.

Aber Plastiksprengstoff wird uns alle Hindernisse aus dem Weg blasen. Eric dachte sogar darüber nach, sich einfach senkrecht vom Fünften in den Sechsten zu sprengen. Ohne das Zeug wäre er wesentlich unzuversichtlicher gewesen, was den Erfolg der Mission anbelangte.

Sia gab ihm ein Zeichen, nichts zu sagen. Sie redete mit einem Sídhe und erstattete Bericht, als ob sie den Bärenwandler erledigt hätte. Das gab wenigstens den Anschein eines Alibis; dabei schaltete sie auf Lautsprecher. »Sie können hinfahren und sich umschauen, wie abgemacht, falls die Wasserwerke nicht schon dort waren.«

»Sehr gut, Miss Sarkowitz«, sagte der Vampir, klang aber nicht zufrieden. »Was machen Sie gerade?«

»Was ist los? Trauen Sie mir nicht?«

Der Sídhe zögerte. »Ein Einbruch in eines unserer Heiligtümer, und … nun ja. Es gibt manche in unseren Reihen, die glauben, dass Sie dahinterstecken.«

»Denken Sie, ich bin so bescheuert und setze das Leben meiner Familie aufs Spiel?« Sia gab sich Mühe, entrüstet und nicht ertappt zu klingen. Eric hätte es ihr geglaubt. »Sie sitzen am längeren Hebel. Wann soll das gewesen sein?«

»Ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, als Sie den Bärenwandler ausgeschaltet haben.« Der Sídhe hörte sich an, als sei er in seiner Meinung bestätigt worden. »Sie haben recht. Sie wären nicht so töricht, Emma und Elena dem Tod preiszugeben, indem Sie versuchen würden, sie zu finden und zu befreien, anstatt sich an unser Abkommen zu halten. Denn wenn Sie wortbrüchig werden, sind wir nicht mehr gebunden. Geben und nehmen.«

Sia musste schlucken, wie Eric sah, und er konnte den Blick nicht von ihrem schlanken Gesicht wenden. Wie sie wohl schmecken wird? Eine Kreatur, die sich jahrhundertelang von Menschenblut ernährt hat, muss ein ganz besonderes Aroma haben.

»Nein, so töricht wäre ich nicht«, erwiderte sie beherrscht. »Ich stehe vor dem Aufenthaltsort des Ard Rí.«

»Sie … haben ihn schon herausgefunden?«

Eric musste grinsen. Da verliert ein Vamp gerade die Fassung. Damit hat er nicht gerechnet.

»Wenn ich mit ihm fertig bin, möchte ich mit Elena UND Emma sprechen, verstanden?« Sia klang wieder bestimmender. Ihr Alibi und ihre Lügen hatten gehalten.

»Aber natürlich«, beeilte sich der Sídhe. »Sie sollten alles an Unterlagen mitbringen, die Sie …«

»Ich beseitige ihn, obwohl das nicht Teil unserer ursprünglichen Abmachung war«, fuhr sie ihm schneidend dazwischen. »Ich kann den Spieß auch umkehren, Sídhe: Brechen Sie IHR Wort, komme ich über Sie und Ihresgleichen, wie Sie noch keine Macht auf dieser Welt erlebt haben! Das dürfte Ihnen klar sein.« Sie legte auf.

»Gute Show.« Eric räusperte sich. »Das hier«, er zeigte auf das Hotel, »wird hart. Wir haben keine Baupläne, keine Ahnung von den Sicherheitsleuten und -vorkehrungen, und wir wissen auch nicht, wie der Ard Rí aussieht.«

»Abgesehen von seiner Narbe, die von der Stirn senkrecht bis zum Halsansatz führt«, fügte sie hinzu. »So viele Männer mit solchen Malen wird es da oben nicht geben.«

Wie sie riecht! Eric sog die Luft tief ein, um mehr von ihrem Geruch einatmen zu können. Der Innenraum des Touareg sorgte dafür, dass sich ihr Duft hielt und intensivierte. Selten hatte er etwas derart Anregendes gerochen. »Denk dran: Er scheint wie de Cao gegen Silber immun zu sein. Wir sprengen ihn entweder weg oder zerlegen seinen Kopf, damit er Geschichte wird. Das Gleiche gilt für die Schlangenwandlerin.« Er ärgerte sich, keine Zeit gehabt zu haben, um sich eine goldene Waffe zu besorgen. Es hatte alles schnell gehen müssen.

Sia nickte. »Wir haben keinen Plan.«

»Doch. Der Plan ist: schnell rein, den Ard Rí umbringen und wieder raus. Das klappt fast immer. Am besten mit seinem Kopf, den wir den Sídhe zeigen.« Eric dachte an die lange Liste mit weiteren Wandlern, die sie noch abarbeiten sollten. Eigentlich. Doch Sia hatte ihm vorhin eröffnet, dass sie dicht an Emma und Elena dran gewesen war. Wir könnten sie suchen und befreien. »Danach kümmern wir uns um einen Fluchtplan. Der Tod des Großkönigs wird die Bestien in Aufruhr versetzen. Mit Glück machen sie sich gegenseitig fertig.«

Sia schwieg. »Wir lösen etwas aus, dessen Folgen wir nicht abschätzen können«, sagte sie leise. »Wir müssen von dieser scheiß Insel. Mit meiner Familie.« Ihre grauen Augen richteten sich auf ihn, der Blick war bittend. »Ich gestehe, dass ich mich mehr auf dich verlassen muss, als es mir lieb ist. Ich dachte, ich könnte das alles alleine stemmen, so wie ich in der Vergangenheit alles alleine erreicht habe.« Sie seufzte und legte eine Hand aufs Lenkrad. »Es ist kein schönes Gefühl«, setzte sie hinzu.

»Abhängig von jemandem zu sein?«

»Ja. Das Wissen, es nicht aus eigener Kraft zu schaffen …« Sie suchte nach Worten. »Eine Mischung aus Erniedrigung und … Unvermögen. Jetzt, wo ich so vieles beherrsche, meine Fertigkeiten nach Belieben steuere, muss ich anderen gehorchen und brauche die Rückendeckung eines Unbekannten. Das ist so …« Sie stöhnte.

»Na ja«, sagte er schwach lächelnd. »Wir haben uns schon mal das Leben gerettet.«

Sia zog die Nase hoch. »Du verstehst mich nicht.«

»Doch. Sehr gut sogar.« Eric hob die Rechte und streckte sie aus, berührte Sias Wange. Die Finger glitten sanft, beruhigend über die weiche warme Haut. »Du kannst meine Hilfe annehmen. Ich tue es für deine Familie. Hey, und ich kann Bestien abknallen! Was will man mehr?« Seine Hand umfasste zärtlich ihre linke Gesichtshälfte. Gott, wie verführerisch!

Ihr Ausdruck veränderte sich, wurde dankbar und aufmerksam. »Was willst DU mehr, Eric?«, raunte sie. »Ich habe die Sehnsucht in deinem Blick bemerkt, mit der du mich manchmal angesehen hast.« Sia lächelte behutsam. »Was ist mit deiner Frau?«

Ist das ein Test? Er zog langsam seine Finger zurück. Ich wollte mir mein Verlangen nicht anmerken lassen. Eric schwankte zwischen Lüge und Geständnis – aber nicht in diesem Augenblick. Nicht vor dem Einsatz. Das würde alles verkomplizieren. »Darüber reden wir gleich. Gehen wir raus und reißen dem Ard Rí den Kopf vom Hals, damit wir ihn den Vamps zeigen können.« Er lächelte aufmunternd.

Sia lehnte sich zurück. »Du bist ein interessanter und rätselhafter Mensch, Eric von Kastell«, sagte sie dann langsam. »Ich werde nicht schlau aus dir, und ich weiß nicht, ob mir das gefällt.« Wie aus dem Nichts entstand ein zaghaftes Lächeln. »Aber was will ich machen?« Sie legte die Hand auf den Griff, öffnete die Tür und schwang sich in die Nacht. Eric stieg ebenfalls aus.

Beide standen rechts und links vom Touareg, schauten auf das Hotel mit seinen vielen Fenstern, den Lichtern dahinter und den Scheinwerfern auf dem Dach, die lange, helle Strahlen gegen die niedrigen Wolken warfen. Von irgendwo aus einer Bar oder einem Irish Pub klang der Refrain eines gegrölten Songs: »I really fucked it up this time, didn’t I, my dear?«

Eric hoffte, dass es kein Omen sein sollte.

* * *
Judastöchter
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