5. Februar, Republik
Irland,
Dublin, 06.43 Uhr
Boída hatte sich gerade auf den Weg zum TeaRoom gemacht, als sie der Anruf erreichte: Willy Moroda, einer ihrer Leute, hatte sie informiert, dass er einen Mann von der Fähre aus Holyhead von Bord hatte gehen sehen. Einen bestimmten Mann. Sie bekam die Information mit Bild.
Auch wenn sie Jahre in Irland und unter den Wandlern hier verbracht hatte, sagte ihr das Gesicht des Neuankömmlings nichts. Das Foto, das mit einer Handykamera geschossen worden war, konnte man als grobpixeliges Kunstwerk bezeichnen. Doch Moroda hatte sie förmlich angefleht, zu ihm zu kommen, damit er ihr berichten konnte, warum er so aufgeregt war. Der Name des Mannes, ein Deutscher, war Eric von Kastell. Für sie war er nichtssagend, aber sie vertraute Moroda.
Boída stieg aus dem Wagen und schlenderte zum Kai, wo die Fähren anlegten. Sie hasste den kalten, feuchten Wind und ging zu einer Telefonzelle, um sich drin unterzustellen.
Sie rief bei Moroda an und bestellte ihn zu sich, mit dem Fuß hielt sie die Tür zugedrückt, damit der Wind nicht so gut hineingelangte. Wieder hatte sie sich mit Wärmepflastern zugeklebt und drei Shirts unter den Pulli angezogen; ein Schal schützte den empfindlichen Hals. Damit war die Witterung für sie erträglich, doch weit von dem entfernt, was sie optimal nannte.
Moroda tauchte auf. Auf seinem blauen Overall stand Eireann Ferry, das grüne Kleeblatt am Ende des Schriftzugs war halb abgerissen. Mit Irland ging es abwärts, schien das misshandelte Logo zu sagen.
Boída schob die Telefonzellentür auf und winkte ihn zu sich. Sie hatte keine Lust, sich dem Wetter auszusetzen. Just da setzte ein Platzregen ein, als hätte sie es geahnt.
Moroda kam zu ihr. Er schob sich dicht an ihr vorbei und schien es zu genießen, Körperkontakt mit der Latina aufnehmen zu können. »Sie sind zu spät. Er ist schon gefahren.« Er wischte sich Wassertropfen von den kurzen, blonden Haaren. »Jetzt haben wir den Salat.« Er schnalzte mit der Zunge und sah besorgt aus. »Mann, Mann! Es hätte kaum was Schlimmeres passieren können.«
»Wer ist dieser Eric von Kastell? Was macht ihn so gefährlich?« Boída sah, dass Moroda nicht übertrieb.
»Sie verarschen mich!«
Boída schüttelte den Kopf und zog den Schal leicht nach unten. »Tue ich nicht. Mir sagt der Name nichts.«
»Woher kommen Sie denn? Oder andersherum gefragt: Wo waren Sie die letzten Jahre?«
Das konnte ihm Boída wirklich nicht sagen, und selbst wenn, würde er es ihr nicht glauben. Daher beschränkte sie sich darauf, ihn auffordernd anzuschauen.
»Eric von Kastell und sein Vater waren Wandlerjäger, die selbst den Keim der Bestie in sich trugen«, berichtete Moroda. »Wolf, soweit ich weiß, aber eine ganz besondere Spezies, die sich mit nichts vergleichen lässt. Sie haben mehr als hundert von uns erledigt, die genaue Zahl kenne ich gar nicht. Ein sehr eingespieltes, tödliches Team.« Er sah hinaus zu den Fähren, die auf und nieder tanzten. Auf dem Meer schien ein Sturm zu toben. »Aber auf Dauer hatten sie sich zu viele Feinde gemacht. Den Alten haben sie fertiggemacht und die Villa der Familie gesprengt. Eric von Kastell lieferte sich eine Schlacht mit osteuropäischen Wandlern, dann tauchte er noch mal in Frankreich auf, und danach hat sich seine Spur verloren. Alle glaubten, es hätte ihn erwischt.« Moroda sah Boída an. »Ich habe gedacht, mich trifft der Schlag, als ich ihn sehe!«
Boída fand es gar nicht verwunderlich, dass dieser Deutsche in Irland auftauchte. Nachdem IRA-Mike mit seinem Anschlag auf den Rí der BlackDogs gescheitert war, wollten die Hintermänner vermutlich auf Nummer sicher gehen und hatten sich einen Profi kommen lassen. »Woher kennen Sie ihn?«
»Kastell?« Er lachte bitter. »Ich war ein paar Jahre in Deutschland unterwegs, habe in Pubs gespielt.«
»Wie jeder zweite Ire«, warf sie amüsiert ein.
»Wir sind eben ein musisches Volk. Als ich eines Abends mit meinem Cousin Jack aus dem Laden raus bin, hat er uns aufgelauert und Jack fertiggemacht. Mein Cousin hatte mir nicht gesagt, dass er sich ab und zu mal Menschenfleischhappen gegönnt hat. Dilettantischer konnte man Morde nicht vertuschen, und das hat Kastell auf den Plan gerufen. Die Wunden waren zu charakteristisch.«
»Und warum leben Sie noch, wenn er so gut ist?«
Moroda senkte den Blick. »Ich … bin weggerannt. Schneller als der Teufel bin ich gerannt und nicht stehen geblieben, bis ich keine Schritte mehr hinter mir gehört habe.« Er schwieg sekundenlang, schauderte und betrachtete die Regentropfen, die gegen das Glas trommelten. »Deswegen bin ich mir sicher, dass es von Kastell ist, den ich gesehen habe. Ich war ihm verdammt nahe«, raunte er.
Boída glaubte ihm. Sie roch seine Angst. »Er hat Sie nicht erkannt?«
»Nein. Ich habe mir fast in die Hosen geschissen und mich auf dem hintersten Fleckchen der Fähre versteckt. Dann habe ich Sie angerufen.« Er sah sie an und nickte. »Wenn ihn jemand kaltmachen kann, dann Sie.«
Boída lächelte. »Danke sehr.« Hätte sie geahnt, wie wichtig und gefährlich Kastell war, wäre sie eher in Dublin angekommen. Jetzt fuhr dieser Kerl in Irland durch die Gegend und machte Jagd auf sämtliche Wandler, die er vor die Mündung bekam. »Er braucht vermutlich Mittelsmänner, die ihm Waffen verschaffen«, dachte sie laut nach. »Was für ein Auto fährt er? Mietagentur?«
Moroda nahm ein fleckiges Blöckchen hervor, auf das er etwas aufgeschrieben hatte. »Es muss sein Wagen gewesen sein. Das Nummernschild war zwar ein englisches, aber es hing schief in der Befestigung. Er wird es gestohlen und montiert haben, denke ich. Inzwischen hat er bestimmt ein irisches. Ein BMW, X6, schwarz, der einzige auf der Fähre«, erklärte er. »Er hat Beulen im Kotflügel, im rechten Spoiler, hinten links und einen langen Kratzer in der Stoßstange.«
Boída nahm die Beschreibung entgegen. »Damit kann man ihn finden. Sehr gut, Moroda. Ich denke, dass Ihre Meldung mit größtem Wohlwollen aufgenommen werden wird.«
»Scheiß auf das Wohlwollen. Knipst den Typen aus, bevor er mich erkennt«, brummelte er und drückte die Tür der Telefonzelle auf. »Oder denken Sie, er will Ferien bei uns machen?« Er zog eine Mütze aus dem Overall und setzte sie auf. Ein dürftiger Schutz gegen den Regen.
Sie zuckte mit den Achseln. »Wer weiß?«
»Machen Sie ihn trotzdem fertig.« Moroda rannte durch den Schauer zurück in eine nahe Halle.
Boída zischte ungehalten. Kaum war eine Angelegenheit geregelt, tauchte die nächste Schwierigkeit auf. Eric von Kastell kam bestimmt nicht für einen Angelausflug an den Shannon nach Irland. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass er zu Ende führen sollte, was IRA-Mike begonnen hatte.
Sie sah es als erwiesen an, dass der TeaRoom eine zentrale Stelle in den ganzen Vorgängen war, und beschloss, den Club und sämtliche Leute, die damit in Verbindung standen, überwachen zu lassen. Boída vermutete, dass die Nachtkelten damit zu tun hatten, um sich Wandler vom Hals zu halten. Reguläre Wandler, nicht wie sie. Niemand würde mehr ein und aus gehen, ohne dass ein Foto von ihm geschossen wurde. Erschießen dagegen musste man Kastell. Dringendst.
»Eine Offensive des Feindes folgt auf die nächste«, murmelte sie. Ganz zu Beginn hatte Boída die Nachtkelten im Verdacht gehabt, doch der Friedenspakt mit ihnen hielt seit vielen Dekaden, wie ihr gesagt wurde. Es hatte wegen des Anschlags auf Finn McFinley bereits ein Treffen mit den wichtigsten Vertretern gegeben, wie sie wusste. Bei diesem hatten die Anführer der Nachtkelten ihre Unschuld beteuert und sogar ihre Unterstützung zugesagt.
Zu gerne wäre Boída bei dem Meeting dabei gewesen, um zu ergründen, wie viel Lüge und wie viel Wahrheit in der Raumluft gelegen hatte. Aber man hatte sie nicht eingeladen. Aufgrund ihrer Abstammung und Herkunft. Was sie den irischen Wandlern überlegen machte, sorgte dafür, dass die alteingesessenen Tuatha sie ablehnten, und selbst ihr Herr hatte aus taktischen Gründen nicht intervenieren wollen. Das ärgerte sie immer noch.
Es gab zu viele Eigenbrötler unter den Tuatha, sie waren schwer auf eine Linie zu bringen. Schuld war das ausgeprägte Revierdenken der Bestien. Die Panther und die Bären stellten die schlimmste Fraktion unter ihnen: arrogant, stark und selbstverliebt.
Boída zischte wieder. Es wäre alles viel einfacher, wenn sich alle Wandler auf Irland als ein großes Tuath sähen. Sie folgten zwar den Befehlen, aber sie verstanden den Sinn darin nicht. Sie haben keinen Blick für das Ganze, für seine Vision, dachte sie.
Der Regen ließ nach.
Boída verließ die Telefonzelle. Schnell ging sie quer durch den Hafen zu ihrem Wagen und zückte ihr Handy, um Anrufe zu tätigen: Es galt, die Augen und Ohren zu schärfen. Für einen schwarzen X6 mit Dellen und Beulen.
Dann kam ihr ein Gedanke: Die Nachtkelten hatten ihren Beistand angeboten – warum sollte sie ihn nicht nutzen?
Boída hatte nicht vor, sich auf deren Hilfe zu verlassen, aber sie sah es als Test an. So oder so ging sie als Gewinnerin hervor: Entweder die Nachtkelten fanden den Deutschen, oder sie verrieten sich durch ihr doppeltes Spiel.
Nach einigen weiteren Telefonaten hatte Boída ihre Spione wiederum auf wichtige menschliche Anhänger der Nachtkelten angesetzt. Jede Bewegung würde registriert werden. Die Stunde der Wahrheit rückte näher.
Nach sechzig Minuten hatte sie alles organisiert, von der Observation des TeaRooms bis zur Überwachung der Nachtkelten. Jetzt konnte sie nichts weiter tun, als auf einen Anruf zu warten. Ausgerechnet Warten gehörte nicht zu ihren expliziten Stärken.
Boída startete den Motor und drehte die Heizung voll auf. Der Kampf gegen den Feind der Wandler ging weiter – ohne dass sie wusste, wer dahintersteckte und seine Killer aussandte. Ihre Ahnungen und Vorurteile galten nicht als schlagkräftige Beweisführung.