10. Februar, Irland,
Shannon, 00.32 Uhr

Zu dritt saßen sie um das Netbook und sichteten die Daten, die ihnen der Ard Rí zur Verfügung gestellt hatte.

Nebenbei schaute Justine bei verschiedenen Internetplattformen vorbei und präsentierte ihnen breit grinsend die kleinen Filmchen, auf denen sie nackt und blutverschmiert zu sehen war. »Mon Dieu! Jetzt muss ich den Film auch noch wirklich drehen, damit man mir auch glaubt. Ladybeasts.«

Eric ging nicht auf die Bemerkung und schon gar nicht auf die Filmschnipsel ein. »Können wir zurück zum eigentlichen Punkt kommen?«, sagte er und drückte das neuste Filmchen weg. »Wir müssen uns beeilen. Die Nachtkelten wissen, wer Justine ist. Also können sie sich denken, dass meine Halbschwester zu meiner Unterstützung nach Irland gekommen ist.«

Sia knetete ihre Finger. »Ich frage mich, warum die Nachtkelten de Cao informiert haben. Um sich beliebt zu machen und den Anschein zu wahren, nichts mit allem zu tun zu haben?«

»Vielleicht erfahren wir es, vielleicht nicht. De Cao ist mit ihrem Wissen abgesoffen. Ich glaube nicht, dass der Hochkönig von ihr informiert wurde. Er glaubt, dass ich für ihn arbeite und mein Rudel auf die Insel hole.« Justine schmollte. »Habt ihr gesehen, dass der eine Fan einen kleinen Vorspann gebaut hat? Für Ladybeasts? Incroyable! Welcher Aufwand da betrieben wird.«

»Der Ard Rí wird nur so lange daran glauben, bis ihm einer seiner Informanten den Film empfiehlt«, warf Eric ein und schob ihre Finger weg. Sie hatte eben das Fenster mit der Videoplattform öffnen wollen. »Lass es, okay?«

»Ich schätze den Ard Rí so ein, dass er uns die Drecksarbeit machen lassen möchte und abwartet, was danach geschieht«, steuerte Sia bei und tat, als hätte sie das kindische Handgerangel nicht mitbekommen. »Er hat uns Informationen gegeben, von denen er weiß, dass wir sie nutzen müssen.« Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um bei ihm nachzuhören. Sie nahm das Telefon und wählte seine Nummer. »Ich frage ihn einfach. Die Lage ist sowieso verfahren. Ich möchte wenigstens erreichen, dass an dieser Stelle der Front Ruhe herrscht und er uns machen lässt.«

»Du solltest nicht erwähnen, dass ich seine Bettschlange umgebracht habe«, flüsterte Justine. »Merde! Eric hat recht. Hoffentlich ist er kein Fan des Internets! Wenn er mich in dem Streifen sieht …«

Sia musste nicht lange warten. »Ja?«, sagte er, sie erkannte seine Stimme.

»Hier ist Sarkowitz. Ich habe ein Angebot für Sie.« Ihr Finger drückte auf die Lautsprechertaste.

»Freut mich, dass wir zusammenkommen, Miss Sarkowitz.«

Sie versuchte, einen Hinweis auf seine Laune zu finden, aber er redete neutral und geschäftsmäßig. »Nein. Wir kommen nicht zusammen, aber ich werde Ihnen und Ihren Wandlern nichts mehr tun. Ich begebe mich direkt auf die Suche nach meiner Schwester und meiner Nichte.«

»Sagen Sie mir, wie ich Ihnen dabei helfen kann? Sie kennen den Spruch, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist.«

»Ich hätte tatsächlich eine Bitte: Tun Sie einfach so, als würden weitere Wandler von mir umgebracht. Das wird die Sídhe bei der Stange halten und meine Familie verschonen.«

»Das hoffen Sie zumindest. Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Hoffnungen nicht enttäuscht werden.« Der Ard Rí klang väterlich. »Miss Sarkowitz, ich habe Hinweise darauf, dass die Vampire sich nicht mehr an die alten Abmachungen mit uns halten. Sie wollen Irland für sich, wie es den Anschein hat. Ich hatte heute ein interessantes Gespräch mit einer weiteren Verbündeten. Ihr Name ist Justine, eine Französin aus dem Gévaudan. Kennen Sie sich?«

Sia fürchtete einen Test. »Nein.«

»Sie wird sich im kommenden Krieg mit mir verbünden. Ihnen würde ich gerne das gleiche Angebot machen, Frau Sarkowitz. Sollten Sie sich entschließen, offiziell an meiner Seite zu kämpfen, sende ich Ihnen meine besten Oenach aus den verschiedensten Tuatha, die Sie bei der Befreiung Ihrer Familie unterstützen.«

Das ist ein verführerischer Test. Sia musste schlucken, sah zu Justine, die ebenso den Kopf schüttelte wie Eric. Sie trauten dem Ard Rí nicht. Ich sollte ihrem Gefühl folgen. Mir ergeht es nicht anders. Außerdem wäre ich schon wieder der Handlanger für jemand anderes. »Nein«, erwiderte sie nach einiger Zeit. »Es ist nicht mein Krieg, in den ich ziehen müsste. Vor vielen Jahren habe ich mir abgewöhnt, anderen zu dienen.«

Der Ard Rí brummte.

Sie wusste nicht, ob es Zustimmung oder Enttäuschung bedeutete. »Ich wollte Sie bitten, dafür zu sorgen, dass mir keiner Ihrer Oenach in die Quere kommt. Es gibt inzwischen bestimmt viele, die meinen Tod wollen, weil ich getötet habe. Sie kennen meine Beweggründe, und …«

»Ich werde dafür sorgen, dass sich herumspricht, von wem Sie dazu gezwungen wurden«, unterbrach er sie mild und gönnerhaft. »Wandler, die in Rudeln leben und für die Familie an erster Stelle steht, werden Ihre Taten verstehen und diejenigen, die Sie erpressen, dafür umso mehr hassen. Es ist absolut verwerflich, feige und das Letzte! Es passt zu den Sídhe.« Der Ard Rí war zurück in den geschäftlichen Ton verfallen. »Ich bedaure, dass wir keine echten Verbündeten werden, aber letztlich jagen wir das gleiche Wild. Sie werden bei dem, was Sie vorhaben, nicht behelligt werden. Gute Jagd.«

Weil du ohnehin Arbeit abgenommen bekommst. Schon klar. »Danke sehr.« Sia legte auf und fühlte eine Sorge weniger auf ihrem Herzen. Damit wird es einfacher.

»Du glaubst ihm aber nicht?« Eric sah alles andere als überzeugt aus.

»Doch, würde ich schon«, sprang ihr Justine bei. »Er weiß, dass Sia jeden aus dem Weg räumt, der sich zwischen sie und ihre Lieben stellt. Warum also noch mehr gute Soldaten verlieren? Er ist clever, mon frère.« Sie schloss die Fenster im PC, bis nur noch die Daten des Chips zu sehen waren. »Das sind die fünf aktuellen Verstecke, die sie benutzen. Diese Orte wurden in den letzten Jahren saniert und modernisiert, steht im Dossier. Damit …«

Es klopfte.

Eric erhob sich, um die Tür zu öffnen.

Davor stand Miss Montesque mit einem Tablett, auf dem sich Tassen, eine Teekanne und Scones befanden. »Sie arbeiten so viel«, sagte sie freundlich. »Da dachte ich mir, ich tue was, damit Ihr Verstand rege bleibt.« Sie drückte ihm das Tablett in die Hand. »Wenn Sie noch Tee haben möchten, sagen Sie einfach Bescheid.« Sie winkte ins Zimmer und verschwand wieder.

Eric schloss die Tür mit dem Fuß. »Sie ist so nett!«

Justine gluckste. »Kennt jemand den alten Film Ladykiller noch? Daran muss ich die ganze Zeit denken, wenn ich sie sehe.«

»Bei mir ist es Mit Arsen und Spitzenhäubchen«, sagte Sia, und alle schauten auf die Kanne. »Denkt ihr auch gerade an das Gift, mit dem die alten Damen aus dem Film ihre Gäste umgebracht haben?«

»Nein«, meinte Eric und goss ihnen Tee in die Tassen. »Das würde sie nicht machen.«

Sia musste lachen. Eine merkwürdige Vorstellung. Sie scrollte durch die Pläne der wahrscheinlichsten Verstecke. Es waren ihr zu viele. Wo würde ich eine Geisel sicher verwahren?

Justine schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben. »Sie eignen sich alle zum Festhalten«, befand sie nach eingehender Musterung und schlürfte laut. »Wir müssen sie alle überwachen und anhand der Spuren …«

»Dazu ist keine Zeit.« Eric tippte auf den dritten Plan. »Das wäre meine Wahl.«

Eine Lotterie. Mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu fünf. Sicher gab es Menschen, die sich bei ihren Unternehmungen auf schlechtere Chancen verlassen mussten und trotzdem zu einem guten Ende fanden. Ich spiele mit Emmas Leben. »Bei einem Irrtum«, presste sie hervor, »ist sie tot, Eric. Ich kann das Risiko nicht eingehen. Wir haben nur eine Chance, und wir müssen den richtigen Ort treffen!« Sie fuhr sich durch die roten Haare, die verstrubbelt von ihrem Kopf hingen. Die Zweifel an ihrem Vorhaben schwollen zu einem Chor an. Ich hätte das Angebot des Ard Rí doch annehmen sollen! Ob es noch geht? Sie blickte auf den Telefonapparat.

Eric sah Justine an. »Wie genau kannst du dich auf deine Bestiensinne verlassen?«

»Ah, du meinst, ich soll sie aufspüren und erschnuppern.« Sie richtete den Blick auf Sia. »Hast du was von Emma dabei, was nach ihr riecht?« Sia überlegte, musste aber verneinen. »Dann kann ich leider nicht weiterhelfen.«

Immer noch eins zu fünf. Sia sah auf den Ort, den Eric ausgesucht hatte. Nummer drei – aber sie sträubte sich dagegen. Der erste Grundriss würde mir als Versteck mehr zusagen. Sie hob den Finger und tippte darauf. »Das erscheint mir besser. Mit dem Verstand einer Vampirin betrachtet. Die Umgebung ist sumpfig und voller kleiner Wasseradern. Sie wissen, dass ich fließendes Wasser nicht überqueren kann.«

Eric vergrößerte den Plan. »So gesehen«, stimmte er vorsichtig zu. Er schaut zu Justine, um ihre Meinung zu hören.

Die Werwölfin klickte nacheinander die Pläne ein sechstes und ein siebtes Mal durch, schwieg und lehnte sich dann zurück. »Ihr werdet mich dafür hassen«, setzte sie langsam an, »aber ich finde die vierte Variante nicht weniger sinnvoll.« Sie legte anhand der Umgebung dar, wie sie darauf gekommen war.

Aber Sia hörte nicht zu. Sie hatte verstanden, dass es an ihr lag, ganz alleine an ihr, wo sie zuschlagen würden, um Emma zu befreien. Diese Entscheidung wollte sie keinem anderen überlassen. Es ist mit Abstand die schwerste Entscheidung, die ich jemals habe treffen müssen.

»Also?«, hörte sie Eric sagen.

Sia war froh, als er ihre Hand ergriff, um ihr seinen Beistand zu vermitteln und ihr die Wahl zu überlassen.

* * *
Judastöchter
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