2. Februar, Deutschland,
Sachsen, Leipzig, 18.36 Uhr
Elena sah mit schwindenden Sinnen nach oben, wo sich die Eisschollen übereinanderschoben. Das unwirkliche Licht machte sie zu scharfzackigen, grau-durchsichtigen Wolken, die an einem flüssigen, bräunlichen Himmel dahinschwebten. Kleine Luftbläschen stiegen an ihr vorbei in die Höhe, wie Regen, der von unten nach oben fiel.
Es war absolut still, kein Laut herrschte unter Wasser.
In ihren Ohren pochte der Herzschlag, der ihr sehr langsam vorkam. Elena hatte nicht mal mehr das Bedürfnis, Luft zu holen, und sie spürte ihren Körper nicht länger. Ihre Sicht verschlechterte sich, wurde weicher und verwischt wie bei einem Wasserfarbenbild, bei dem das falsche Papier benutzt worden war. Ihre Brust schmerzte.
Da schlugen Finger wie die Hand Gottes durch die Eisschollenwolken, packten sie am Kragen und rissen sie nach oben.
Kanten kratzten über ihr Gesicht, sie wurde an die Oberfläche gehievt. Die Brise, die sie traf, erschien ihr frühlingswarm, und Elena merkte, wie sie instinktiv einatmen wollte. Nein, ich darf nicht …
Sie landete auf etwas Hartem, dann schoss ihr regelrecht heiße Luft in den Mund, und nach einer kurzen Pause wurde rhythmisch auf ihrem Brustkorb herumgedrückt. Pause, heiße Luft, mehrmaliges Drücken, Pause … Die heiße Luft gelangte jetzt bis in ihre schmerzende Brust und breitete sich darin aus, reizte sie.
Elena musste husten, und warmes Wasser rann aus ihrem Mund. Das Husten wollte gar nicht mehr enden, es schüttelte sie, bis sie dachte, sie würde daran ersticken. Tränen rannen über ihre Wangen und fühlten sich an, als zögen sie eine Spur aus Feuer hinter sich her.
Jemand drehte sie auf die Seite, und sie kotzte würgend, spie das Wasser aus. Die leckere Waffel, dachte sie eigentümlicherweise. Sie atmete tief ein, hustete, atmete weiter, hustete, und mit jedem Atemzug klarte ihr Blick weiter auf. Sie erkannte das erleichterte Gesicht des Grauhütigen.
»Well, well«, sagte er und wischte die nassen Haare aus ihrem Gesicht. »Das war knapp.« Er redete mit Akzent, wie ihn Menschen hatten, die eigentlich Englisch sprachen. »Geht es?«
Elena setzte sich auf, schniefte und zitterte. Ihre Gefühlswelt befand sich in totalem Aufruhr. Erleichterung, den entsetzlichen Schmerzen in der Brust und dem Erstickungsgefühl entkommen zu sein; Enttäuschung, von dem Unbekannten vor dem Tod und damit vor dem Vampirdasein bewahrt worden zu sein; Angst vor der undurchsichtigen Situation, den unbekannten Angreifern und – vor der Reaktion ihrer Tante.
Sie nickte. Ihre Zähne schlugen in schnellem Takt aufeinander, das Sprechen war ihr unmöglich. Schnell sah sich Elena um, aber von den anderen beiden Männern entdeckte sie keine Spur. Gehören sie zusammen oder …
»Du bist sicher bei mir. Okay? Und du brauchst dringend trockene, warme Klamotten«, sagte er und hob sie kurzerhand auf seine Arme. »Sonst erfrierst du mir.«
Elena ließ es mit sich geschehen, ihr fehlte die Kraft, um gegen die Entführung zu revoltieren. Schreien konnte sie nicht, das Beben ihres Körpers unterband jede Bewegung. Stattdessen betrachtete sie das Gesicht des unbekannten Retters. Er war älter, glattrasiert und hatte freundliche Züge; und er roch nach gutem Parfum, würzig und aromatisch, nicht so schwer und altbacken wie Opa Paschulke.
Er trug sie den Hang hinunter zur Straße, stellte sie neben einem großen, dunklen Wagen kurz auf die Beine und öffnete ihn, danach setzte er sie auf die Beifahrerseite.
»Das … darf … ich … nicht«, brachte sie bibbernd raus, während er sie anschnallte.
»What?«
»Zu … jung. Kinder … müssen … Rücksitz.«
»Das ist mir ziemlich egal.« Er lief um das Auto herum, stieg ein und startete den Motor. Vorbildlich setzte er den Blinker und fädelte sich in den Verkehr ein. »Mein Hotel ist nicht weit von hier.« Er warf ihr nochmals einen beruhigenden Blick zu. »Keine Angst.« Er schaltete die Heizung auf höchste Stufe und drehte das Gebläse auf. »Ich bin Jeoffray.« Sein Mantel war bis zur Hälfte der Brust nass.
Elena genoss die Wärme, das Zittern ließ nach. »Wer bist du? Warum hast du mich verfolgt? Und wer waren …«
»Später. Erst möchte ich, dass du die nassen Sachen ablegst.« Jeoffray bog ab und fuhr nach wenigen Metern in die Einfahrt einer Tiefgarage. Nachdem er geparkt und ihr eine Decke aus dem Kofferraum umgelegt hatte, fuhren sie mit dem Lift nach oben, direkt in die achte Etage.
Kurz darauf kamen sie in das geräumige, stilsicher und modern eingerichtete Zimmer, von dem man einen wunderbaren Ausblick über den beleuchteten Augustusplatz mit Gewandhaus und Oper hatte. Nicht weit weg von hier hatte Elena gelebt, in der Ritterstraße. Und sie konnte somit nachvollziehen, in welches Hotel er sie gebracht hatte. Nicht das billigste, wie Mama immer gesagt hat.
»Geh ins Bad und zieh dir die Kleider aus. Nimm meinen Bademantel. Er ist dir zwar zu groß, aber besser als das nasse Zeug.« Jeoffray schleuderte die Schuhe von den Füßen und streifte den Mantel ab.
Sie nickte und verschwand in dem kleinen Raum. Seltsamerweise spürte sie keine Angst, sondern machte sich viel mehr Sorgen darum, was ihre Tante zu alldem sagen würde. Ich rufe sie an. Sie wird mir sagen können, was ich machen soll. Sie nahm das Handy aus der Tasche – totes Display. Das Bad im Eiswasser hatte ihm nicht gutgetan.
Elena setzte sich auf den Toilettendeckel und nahm den Föhn, um das Telefon zu trocknen. Sie war hin- und hergerissen, schwankte zwischen Neugier und dem Wunsch, sofort aus dem Hotel zu verschwinden, um sich noch mehr Ärger zu ersparen.
Im Bademantel? Die Polizei würde mich sofort schnappen. Mit der Polizei hatte sie in letzter Zeit zu oft zu tun gehabt. Die Sache in der Ritterstraße. Das Massaker. Befragungen über Befragungen. Da habe ich keine Lust zu.
Die Neugier siegte nach langem Abwägen. Elena versuchte noch einmal, das Handy in Betrieb zu setzen, aber es weigerte sich. Sie zog sich um, nahm die Schere aus dem Hotel-Necessaire und steckte sie als improvisierte Waffe in die Bademanteltasche; gleich darauf verließ sie das Bad. Sie fand, dass sie mit dem überlangen weißen Mantel aussah wie ein Nachwuchs-Jedi, der sich die Robe seines Vaters geklaut hatte.
Jeoffray hatte mit dem kleinen Wasserkocher einen Tee für sie zubereitet. Hagebutte. Er trug nun einen schwarzen Hausanzug, der sehr bequem aussah. »Here she comes, the little lady.« Er stellte die Tasse auf das Tischchen und setzte sich auf einen der beiden Sessel. »Was machst du bloß für Sachen?«
»Schlittschuh fahren«, gab sie schnippisch zurück. »Kann ich meine Tante anrufen?«
»Klar. Aber zuerst reden wir mal. Meine Standpauke hast du dir verdient! Danach wirst du dir das Gleiche von deiner …«
Elena blitzte ihn an. »Du hast mich verfolgt!«
»Sah es so aus? Ich war heute zufällig beim Völkerschlachtdenkmal, und du bist mir aufgefallen, weil du ohne Eltern da warst«, erklärte Jeoffray ruhig.
Als ob er das hätte einschätzen können. Und er müsste gesehen haben, dass ich mit Trishas Mama gesprochen habe. Elena glaubte ihm nicht. »Und der Mann mit der Bomberjacke und der andere? Was haben die von mir gewollt?« Elena setzte sich und spielte mit dem Fädchen des Teebeutels, zuppelte daran. Kräftig rote Schlieren drangen aus den Poren des Zellstoffs und färbten das Wasser weiter ein. »Mich umbringen?«
»Ich … bin mir nicht sicher.«
»Bist du Amerikaner? Du klingst so.«
»Little lady, das war fast eine Beleidigung. Ich bin Brite.« Er grinste und sah damit ein bisschen aus wie ein Bruder von George Clooney. »Sag mal, wieso wolltest du eigentlich ins Eis einbrechen?«
»Wollte ich gar nicht.« Elena hatte nicht vor, dem Fremden von ihren Vampirplänen zu berichten. »Ich habe gedacht, dass so eine Eisscholle mich immer noch trägt, aber die zwei Männer nicht. Das hat leider nicht gestimmt.«
Seine freundlichen Augen waren fest auf sie gerichtet, ergründeten ihre Mimik. »Ich kann mich täuschen, aber es sah für mich aus, als hättest du schon vor dem Überfall probiert, ein Loch ins Eis zu schlagen? Und zwar ausgerechnet dort, wo abgesperrt ist. Bist du ein bisschen lebensmüde?«
»Ich wollte halt sehen, wie dick das Eis ist.« Sie trank von ihrem Tee. Er sollte mir noch ein paar Fragen beantworten. »Wo sind denn die Männer abgeblieben?«
»Ich habe sie verjagt. Ich kann mächtig gefährlich aussehen, wenn ich will.« Jeoffrays heiteres Zwinkern sagte genau das Gegenteil.
Elena konnte sich ihn so gar nicht als einschüchternden Mann vorstellen. Er sah vollkommen normal und freundlich aus. »Danke sehr«, sagte sie viel zu spät. »Danke für deine Hilfe.«
»Bitte sehr, little lady.«
Sie schwiegen, und währenddessen versuchte Elena, sich einen Reim auf alles zu machen. Nach wie vor wusste sie nichts über Jeoffray und über die beiden Angreifer. Sie saß im Hotelzimmer des fremden Mannes, in einem viel zu großen Bademantel, und schlürfte Hagebuttentee. Sia soll kommen und sich mit Jeoffray unterhalten. Ich verstehe es nicht. Sie langte nach dem Telefon. »Ich rufe meine Tante an. Sie macht sich bestimmt Sorgen.«
Jeoffray öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, da flog die Tür aus dem Schloss und schlug mit Wucht gegen die Wand dahinter.
Der schwarzhaarige Mann mit der Bomberjacke stürmte herein, den Teleskopschlagstock in der Rechten hoch erhoben.
Elena schrie spitz auf, saß wie angewurzelt auf dem Sessel und wusste nicht, was sie tun sollte. Dieses Mal war der Angreifer keine drei Meter entfernt, und sie sah den Zorn in seinem Blick. Er hatte vor, jemandem weh zu tun. Ihr weh zu tun!
Jeoffray trat gegen das Tischchen. Es flog dem Angreifer samt Untertasse entgegen, prallte gegen dessen Körpermitte und verlangsamte sein Heranstürmen, doch den Schlagstock behielt er fest in der Hand. Hinter ihm tauchte schon sein Kumpan auf.
Elena langte nach hinten und hielt das Kissen vor sich, um den kommenden Hieb abzumildern.
Die gewonnenen Sekunden genügten Jeoffray, um seitlich in das Polster zu greifen und eine Pistole mit Schalldämpfer hervorzuziehen.
Die Augen des Schlagstockträgers wurden groß, und er versuchte, sich zu ducken.
Jeoffray war schneller und schoss zweimal, traf ihn in die Schulter und die Brust. Aus vollem Lauf geriet der Angreifer ins Stolpern, fiel an Elena vorbei, die ihm noch einen Tritt verpasste, und durchbrach die Scheibe. Seine Finger verfehlten die Vorhänge, an denen er Halt suchen wollte; schreiend stürzte er in die Tiefe.
Sein Begleiter befand sich bereits auf dem Rückzug, doch auch ihn erwischten zwei Kugeln. Sie trafen ihn in den Rücken, und er brach auf dem Flur zusammen.
Winterluft strömte in das Zimmer und ließ die langen blutverschmierten Vorhänge wehen. Sie umschmeichelten Elena, malten mit Rot auf den weißen Bademantel. Sie sah Jeoffray als Schemen durch den Stoff. Er … kann wirklich gefährlich sein!
Von draußen erklangen verschiedene Autohupen und laute Rufe, auch auf dem Korridor wurde geschrien. Die Leichen waren entdeckt worden.
»Komm, wir verschwinden!«, rief er und packte sie am Arm, zog sie mit sich.
Elena musste ihm notgedrungen folgen. Tante Sia! »Jeoffray, meine Tante kann uns …«
»Später, little lady«, unterbrach er sie und spähte zum Eingang hinaus. »Schau nicht nach unten.«
Elena musste trotz der Warnung auf die Leiche starren und bemerkte die dünnen Rauchfäden, die aus den Einschusslöchern im Rücken aufstiegen. Das war nicht normal!
Wandelwesen! Sie hatte von Anfang an gespürt, dass es kein Zufall war, auf Jeoffray gestoßen zu sein, und jetzt sah sie den Beweis. Er hatte Silbermunition geladen, mit der er die Angreifer zur Strecke gebracht hatte. Die passenden Vorbereitungen auf den Gegner.
Aber was wollten sie von mir? Tante Sia hatte ihr von Gestaltenwandlern berichtet, und dass sie selbst einmal in Leipzig mit ihnen aneinandergeraten war. Werwölfe. Das hatte Sia ihr heimlich erzählt. Mama wollte nicht, dass Elena damit »belastet« wurde. Aber nach der Sache in der Ritterstraße, nach dem Massaker, fühlte sich Elena ohnehin verändert.
Warum sollten sie mir nachstellen und nicht Tante Sia?
Jeoffray lief los und hielt sie nach wie vor gepackt. Elena musste ihm folgen, ob sie wollte oder nicht.
Mit dem Lift ging es wieder in die Tiefgarage, wo sie sich durch die Halle pirschten und in den Wagen stiegen. Rasant, aber kontrolliert fuhr Jeoffray los. Das Ziel sagte er ihr nicht.
Warum hilfst du mir? Elena betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Ihr mehrfacher Lebensretter war mit einem Schlag interessant geworden und barg Geheimnisse, die sie trotz ihrer leichten Angst ergründen wollte.
Jetzt, wo sie fuhren, fiel ihr die Schere wieder ein. Sie hätte die Waffe einsetzen können, um ihn zu verletzen und zu flüchten. Nichts sprach dagegen, dass sie es zu einem späteren Zeitpunkt versuchen könnte, wenn sie angehalten hatten. »Wohin fahren wir?«
Jeoffray gab keine Antwort, sein Blick war ernst.