10. Februar, Irland,
nordwestlich von Galway, 01.56 Uhr
Das dauert. Eric musste warten, bis Sia zu ihnen gestoßen war, und blickte auf die Uhr. Zwei Minuten länger als geplant.
Das fließende Wasser rings um das Gebäude, das abseits eines idyllischen Dörfchens stand, bremste die Judastochter sehr. Ihre unterschiedlichen und sehr beeindruckenden Tricks nutzten ihr nichts gegen einen simplen, kleinen Bachlauf.
Justine kauerte neben ihm, beide waren bis an die Zähne bewaffnet. Die Silberkugeln hatten sie in den Magazinen gelassen, falls ihnen die Wandler doch in feindlicher Absicht begegnen sollten.
»Das hätte ich nicht gedacht«, murmelte sie. »Da bin ich als Werwölfin noch gut dran.«
Soweit man es mögen kann, eine Bestie zu sein. Eric bestätigte nur durch ein Nicken und betrachtete das Haus durch ein Fernglas, das er in einem Laden für Jagdbedarf gekauft hatte. Wahlweise verfügte es über Restlichtverstärker und eine Nachtsichtfunktion.
Zwei Fenster waren erleuchtet, dahinter bewegten sich ab und zu die Umrisse von mehreren Personen.
Vampire oder ihre menschlichen Gefolgsleute?
Ansonsten fand er keinerlei Hinweise, dass es sich um eine Falle handeln könnte – jedenfalls nicht außen. Justine hatte das Haus bereits umrundet und weder frische Reifenspuren noch Fußabdrücke gefunden, die auf eine kleine Armee im Innern schließen ließen. Es sah aus, als ob niemand mit ihrem Kommen rechnete.
»Es sind nicht mehr als vier Leute«, sagte Justine. »Ich kann sie am Geruch unterscheiden.«
»Vampire?«
»Non. Menschen. Wird leicht.« Sie lockerte die Pistolen im Achsel- und Gürtelholster. Eine dritte trug sie auf dem Rücken. »Wir müssen nicht auf Sia warten.«
»Doch. Müssen wir. Es ist ihre Schwester, und sie wird dabei sein wollen.« Eric setzte das Fernglas ab. Er war zufrieden.
»Es ist zu wenig los«, sagte Sia plötzlich hinter ihnen.
Justine fauchte erschrocken. »Merde! Vampirella, hör auf zu schleichen! Das kann schiefgehen.«
Sia lächelte und zeigte ihre Reißzähne.
Eric interpretierte ihre zur Schau gestellte Aggressivität als Zeichen von höchster Anspannung. »Es wird nichts schiefgehen. Es sind nur vier drin«, sagte er beruhigend.
»Ja. Genau das bereitet mir Sorgen. Wenn es wirklich das Versteck von Emma wäre, müssten viel mehr Aufpasser da sein.« Sia stieß einen langen Fluch aus.
Sie ist verunsichert. Eric verstand ihre Aufgebrachtheit sehr gut. »Wir können noch ein anderes Ziel wählen, sie haben uns nicht bemerkt.«
Sia setzte sich lautlos in Bewegung.
Sie bleibt bei ihrer Entscheidung. Eric und Justine folgten ihr nach einem knappen Blickwechsel. Er hatte das schallgedämpfte Sturmgewehr mitgenommen und vorsichtshalber noch ein paar von den Silberrohrbomben. Falls die Anzahl der Verteidiger doch höher wäre, als von ihnen vermutet. Er lauschte in sich, doch ein schlechtes Gefühl wollte sich nicht einstellen.
Ihr Ziel war von Sia ausgesucht worden. Alleine. So trug sie die Verantwortung. Sollte es sich als Niete erweisen, würden sie zu dem Haus fahren, das er für wahrscheinlicher hielt.
Wichtig ist, dass keiner von den Aufpassern eine Gelegenheit bekommt, einen Notruf abzusetzen und die anderen Nachtkelten zu warnen. Gnade durfte niemand von ihrem Team erwarten. Sie kamen, um zu töten.
Mehrmals musste Sia einem Bächlein ausweichen und einen Umweg nehmen, bis Justine mit einem genervten Stöhnen zum Haus rannte, eine Holzplatte, die neben der Tür lehnte, schnappte und zurückkehrte.
»Pst! Vampirella!« Schwungvoll rammte sie das Brett in den weichen Boden und unterbrach den schmalen Strom. Das drängende Wasser ließ sich durch die Barriere nicht lange aufhalten, aber eine Sekunde reichte Sia vollkommen aus, um mit einem Satz über das Bachbett zu springen. »Es kann so einfach sein, n’est-ce pas?«, flüsterte Justine.
Sia erwiderte nichts. Der Ausdruck in ihren grauen Augen schwankte zwischen Dankbarkeit und Mordlust, wie Eric fand.
Sie gelangten zum Haus, in dem eben das Licht hinter einem Fenster erlosch.
Eric spitzte über den Rand hinein. Da sitzen sie. Er hob vier Finger, um die Vampirin und die Werwölfin zu informieren. Damit waren die offensichtlichen Bewohner des Hauses in einem Zimmer versammelt.
»Und?«, wollte Justine ungeduldig wissen und zog eine Pistole. »Sind es die Waltons?«
»Zwei Männer, zwei Frauen, sitzen bei Tee und Gebäck und spielen Karten.«
Justine unterdrückte ihr Lachen. »Wie gut, dass Miss Montesque dir Bridge beigebracht hat. Du gehst einfach rein, und …«
»Halt’s Maul!«, zischte Sia. »Wir gehen rein. Eric kümmert sich um die vier, wir sichern die anderen Räume.« Sie drückte sich vom Boden ab und sprang durch das Fenster hinein.
»Très subtile.« Justine folgte ihr. »Aber so ist mir das lieber.«
Sie schlägt vor lauter Sorge um Emma unseren Plan in den Wind. Eric setzte nach und richtete den wegen des Schalldämpfers verdickten Lauf auf das perplexe Quartett. Sia und Justine waren bereits zu den zwei Türen hinaus, jede in eine andere Richtung. »Sitzen bleiben, Hände auf den Tisch«, befahl er.
Der Mann rechts von ihm wollte aufspringen, doch eine Kugel durch den Hals stoppte ihn. Er fiel zuckend auf den Boden, Blut rann aus der Wunde. Die verbliebenen drei kamen der Aufforderung jetzt nach. Ihre Blicke schworen Eric den Tod.
Ich halte die Stellung, bis ich einen Bericht bekomme. »Ihr seid Nachtkelten«, sagte er. »Wir suchen die Deutsche, die von den Sídhe entführt worden ist. Wenn ihr redet, lassen wir euch am Leben. Wo finden wir sie?«
Niemand von ihnen sprach.
Er überlegte, ob er zwei weitere erschießen sollte, nur um den Letzten genug einzuschüchtern. Lieber nicht. Am Ende ist dann genau derjenige tot, der Informationen hätte liefern können.
Justine kehrte als Erste zurück. »Rien. Das sind die einzigen vier im Haus gewesen. Alle anderen Zimmer sind leer, keine Spuren und keine Gerüche, die auf Emma weisen. Aber ich wette, les dames et le monsieur wissen was.« Sie trat zur schwarzhaarigen Frau und versetzte ihr einen so derben Faustschlag, dass sie vom Stuhl geschleudert wurde. Ihre Lippen waren aufgeplatzt. »Wo ist sie?«
Die Geschlagene lachte leise. »Ich scheiße dir was, du …«
Wie aus dem Nichts stand Sia plötzlich da. Sie packte die Frau und schleuderte sie mit einem lauten Schrei nach oben gegen die Decke, wo sie die Lampe zerschmetterte. Krachend landete die Schwarzhaarige auf dem Tisch und blieb regungslos liegen; eine rote Lache breitete sich um ihren Kopf aus.
Eric wollte die Vampirin an weiteren Morden hindern, wenn auch nicht aus Gutherzigkeit. Tote verraten nichts mehr. »Sia, wir brauchen mindestens einen von ihnen …«
»Wo ist Emma?«, schrie Sia und packte den Mann am Hals, warf ihn quer durch den Raum gegen den Schrank, der unter dem Einschlag zu Bruch ging und ihn mit Geschirr überschüttete.
Sie hört nicht auf mich. »Sia!«
Justine rührte sich nicht. Sie wusste, dass es nicht gesund wäre, vor die Blutsaugerin zu treten, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Schon war die Vampirin bei ihrem Gegner. Die Krallen schlugen sich in seinen Rücken, sie hob ihn an, als wäre er nicht schwerer als ein Sixpack, und schmetterte ihn gegen die Wand, so dass sein Gesicht zu explodieren schien. Ein gewaltiger roter Fleck und viele Spritzer blieben zurück. Tot fiel er vor ihre Füße.
»Sia, nein! Wir brauchen …«, rief Eric erneut und hoffte, dass ihr Wüten endete. Er machte einen Schritt nach vorne, um ihre letzte Gefangene zu schützen.
Schreiend war die vom Lebenssaft der Menschen besudelte Sia bei der letzten Frau angelangt und holte zu einem waagrechten Stoß mit ihren langen Klauen aus.
»Nein, im Keller! Im Keller!«, kreischte die Nachtkeltin. »Wir haben sie im Keller untergebracht!«
Sia schlug ihr von oben herab gegen die Nase, brach sie und riss das Fleisch auf. »Da ist niemand im Keller!« Sie verteilte eine ganze Folge von Faustattacken über den Körper der Frau, die durchgeschüttelt wurde, Blut und Zähne ausspie.
Gleich geht sie drauf. Eric schob sich mit Gewalt dazwischen. »Sia, lass sie antworten! So kann sie nichts sagen!«
Schnaufend, mit weit aufgerissenen Augen machte die Vampirin einen Schritt nach hinten. »Rede«, grollte sie. Die Arme hielt sie abgespreizt, zu neuerlichen Angriffen bereit.
»Im Keller, neben dem Regal mit dem Whiskey, gibt es einen braunen Stein, der aus der Wand ragt. Den müsst ihr drücken, und der Eingang zum Tunnel öffnet sich«, lallte sie und war wegen der Verletzungen kaum zu verstehen. Tränen rannen über ihre Wangen. Ihre Augen zuckten kurz, ängstlich und hoffnungsvoll zugleich in die Höhe und wieder zurück.
Wohin hat sie geschaut? Eric blickte zur Decke und erkannte ein kleines, grünes Licht, das blinkte. Die winzige Kamera unterhalb des Balkens war nur zu erkennen, wenn man wusste, wo sie sich befand. Ihr Eindringen war von Anfang an verfolgt worden. Jetzt musste es schnell gehen. »Los!«, rief er und stürmte los.
Eric war es gleichgültig, was Sia mit der Nachtkeltin anstellte.