16. Februar, Irland,
Shannon, 08.34 Uhr
Wespennest. Das fiel Sia ein, als Justine vorlas, was die Zeitungen über die Vorfälle schrieben, die sich in den vergangenen Tagen ereignet hatten.
Was für die Polizei und die meisten Iren nach Bandenkriegen aussah, war etwas anderes. Persönliches. Sie hatten zu dritt ein Versteck der Sídhe nach dem anderen hochgehen lassen, und das im wahrsten Sinne des Wortes: mit dem Plastiksprengstoff, den die irischen Vampire selbst geliefert hatten, wurden zwei, drei weitere Verstecke in die Luft gejagt. Sie waren hineingestürmt, hatten die Päckchen deponiert und so schnell gezündet, dass sie niemand finden oder gar entschärfen konnte.
Lange muss ich nicht mehr warten. Es ging nicht darum, dabei Sídhe zu töten. Es ging darum, ihnen alle Verstecke zu nehmen und sie an einem letzten Ort zu bündeln, um den entscheidenden Schlag zu führen. Für Emma bin ich bereit, meinen alten Kampfnamen wieder anzunehmen. Passender war er niemals. Damals, als sie ein Teil ihres Einkommens noch mit illegalen CageFights verdient hatte, trug sie für die Zuschauer den Namen Hel. Göttin des Todes, sowohl für die Lebenden als auch die Untoten.
»Die Polizei«, sagte Justine mit Belustigung in der Stimme, »geht weiterhin von einem Bandenkrieg aus. Glaubt man Insider-Informationen, kämpft die IRA angeblich gegen die Vorherrschaft einer Balkanbande um Drogen, Prostituierte und Glücksspiel.« Sie sah zu Sia. »Alors, la Vampirella kann man schon als Balkantruppe bezeichnen.«
»Kann man.« Sia hatte gelernt, die Sticheleien der Französin zu überhören. Dass Justine mitmachte und an ihrer Seite stritt, hatte ihre Toleranzgrenze erweitert.
Eric lud die Waffen der Reihe nach, begutachtete ihren Vorrat an Silberrohrbomben und Plastiksprengstoff. »Für einen Durchgang reicht unser Arsenal mit Sicherheit noch. Danach …«
»Haushaltsreiniger, Zeugs aus Apotheken, aus dem Baumarkt«, sagte Sia. »Ich weiß, wie man sich nette Bomben aus allem Möglichen basteln kann. Das gute alte Terrorist Handbook.« Sie schaute auf das Telefon. Noch hatte sie Wilson nicht angerufen. Die Angst, dass Elena nach ihrer Mutter fragen könnte, war einfach zu groß. Was sage ich dann? Sie wird eine Lüge sofort erkennen.
Auf dem Sims neben dem Fenster stand die unscheinbare Pappschachtel, in er sich Emmas Überreste befanden: Asche und Knochenstückchen.
Sie ist nicht zur Vampirin geworden. Ihren Peinigern hätte ich es gewünscht. Sia nahm das Telefon und wählte in Zeitlupentempo Wilsons Nummer. Jetzt übernehme ich ihre Rache.
»Hello?«, sagte er vorsichtig.
»Hier ist Sia. Können Sie reden?« Das bedeutete so viel wie: Die Kleine soll nichts von unserem Gespräch mitbekommen.
»Ja. Sie schläft, Frau Sarkowitz.«
»Wir … sie ist tot.« Es brach aus Sia einfach heraus. Es, es tut … weh, das Endgültige auszusprechen. »Die Sídhe haben sie sterben lassen und weggeworfen!« Ihre Fänge wuchsen, und sie wünschte sich einen Hals der irischen Vampire zwischen die Zähne. Sie würde sie auseinanderreißen!
»Das … mein aufrichtiges Beileid«, erwiderte Wilson betroffen.
»Sagen Sie es ihr nicht. Elena wird es von mir erfahren.« Gott, das wird … schrecklich. So schrecklich! Sie fürchtete sich vor dem Augenblick.
»Sicher, Frau Sarkowitz.«
Sia räusperte sich. »Gibt es bei Ihnen etwas Neues?«
»Nein. Alles ist ruhig. Wir sind gerade in Oslo, und es gefällt Ihrer Nichte sehr gut hier. Morgen geht es weiter nach Kopenhagen.« Wilson schien sich etwas zu trinken einzuschenken. »Ich habe eine Sache gehört, die Sie interessieren könnte, Frau Sarkowitz. Wie Sie wissen, ist das Hauen und Stechen um die kriminelle Nachfolge von Harm Byrne losgegangen. Ich hatte mich umgehört, weil jemand ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt hat, um mich aus dem Rennen der potenziellen Könige zu entfernen. Dass ich keinerlei Ambitionen habe, das interessiert niemanden.«
»Oh, là, là«, warf Justine halblaut ein. »Eine freie Position als Königin der Unterwelt? Hmm … cela semble intéressant. Sieht Monsieur Wilson gut aus?«
»Sagen Sie der Dame im Hintergrund, ich bin nicht an Frauen interessiert«, sagte er entspannt. »Aber Sie können ihr ausrichten, dass sie gerne ihr Strumpfband in den Ring werfen kann.«
Sia sah zur Französin und konnte sich gut vorstellen, dass die Werwölfin eine exzellente Nachfolgerin für das Monstrum Byrne sein würde. Hart genug wäre sie. »Das werde ich, Mister Wilson. Aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen damit einen Gefallen tue. Und jetzt gehört meine Aufmerksamkeit ganz Ihnen.«
»Es verhält sich so. Es sind vor ein paar Wochen neben den traditionellen Anwärtern ein paar neue hinzugekommen, die sich mit sehr viel Brutalität ihre Claims sichern wollten. In einer Schießerei hat es zwei von ihnen erwischt, und meine Informanten haben Fotos von den Leichen geschickt. Aus dem Polizeibericht. Und zwei davon hatten ähnliche Tätowierungen wie die Herrschaften, die ich im Hotel in Leipzig erledigt habe. Daraus schließe ich, dass die Verantwortlichen, die hinter Elena und Emma her waren, auch die Macht über die kriminellen Strukturen in England … sagen wir, in Großbritannien erlangen wollten.«
Das passt zu den Sídhe. Sie hörte, dass Wilson noch nicht am Ende war. »Aber?«
»Nun, es macht den Anschein, als hätte etwas diese neuen Herrschaften erschreckt. Sie haben sich so schnell zurückgezogen, wie sie aufgetaucht sind. Das lag nicht daran, dass sie besonders viel Gegenwehr erhalten hätten.«
Sia konnte sich denken, warum die Nachtkelten die Unternehmung in England unterbrochen hatten: Sie wollen sich auf mich und ihr Stammterritorium Irland konzentrieren. Bevor sie etwas dazu sagen konnte, redete Wilson weiter.
»Ich war so frei, mich zu erkundigen, und hatte die Überwachung der Leute von Anfang an angeordnet.« Papier raschelte. »Es hat sich herausgestellt, dass viele Anrufe in ein Gebäude in Maghera gehen. Laut meinen Erkenntnissen …«
»Der TeaRoom!« Sia schaute zuerst Justine, dann Eric an. Er stand nicht auf der beschissenen Liste! Dabei lag es auf der Hand.
»Ganz genau, Frau Sarkowitz«, wunderte sich Wilson. »Dann muss ich Ihnen auch nicht sagen, dass sich darin ein schönes Café und ein Gentlemen’s Club befinden?«
»Sie sind mehr wert als jedes Edelmetall auf der Erde! Sonst noch was?«
»Ich habe die Adresse des Inhabers und die Baupläne, falls Sie das interessiert? Es sind zwar keine Keller eingezeichnet, aber das muss nichts heißen, würde ich sagen.«
»Immer her damit, Mister Wilson! Das ist ausgezeichnet.« Sia fühlte eine Vorfreude, die einherging mit unbeschreiblicher Erleichterung. Das Ende der Sídhe rückt näher. Hel kommt über euch. »Senden Sie es mir bitte als Mail.«
»Sie bekommen es im Verlauf der nächsten Minuten. Wenn ich Ihnen noch irgendwie weiterhelfen kann, dann …«
Der Kontakt zu ihm brach abrupt ab.
»Mister Wilson?« Sia wählte die Nummer sofort wieder, doch sie bekam nur den Hinweis, dass der Teilnehmer nicht erreichbar sei. Elena!