27

Die Zelle war klein und befand sich auf einem der unteren Decks des ’Sko-Mutterschiffs. Sie saß auf dem Boden, Knie an die Brust gezogen, und spürte das Vibrieren der Antriebsaggregate in ihrem Körper. Es gab keine Sitzbänke, keine Betten.

Es hatte sie überrascht, dass die ’Sko sie mit Dallon und Farra zusammen eingesperrt hatten. Sie hatte nichts dagegen. Die Zelle war gut erleuchtet, aber kalt. Sie war froh, die Wärme von Dallons um ihre Schultern gelegten Arm zu spüren. Zu dritt saßen sie dicht aneinandergedrängt vor der Wand. Dallons anderer Arm umschlang Farras Taille.

Die Zellentür bestand aus einem unangenehm orangerot schimmernden Kraftfeld. ’Sko-Offiziere standen lange auf der anderen Seite und sprachen in Ycskrit miteinander. Falls sie darauf warteten, dass ihre drei Gefangenen etwas taten oder sagten, konnten sie noch lange warten.

In unabgesprochener Übereinkunft verhielten Dallon, Farra und sie sich vollkommen still. Abwarten, beobachten, weitersehen.

Sie fragte sich, ob die ’Sko wussten, wer sie war und ob sie deshalb noch lebte.

Sie fragte sich, ob Rhis gewusst hatte, wie sehr sie ihn liebte.

Sie begann zu zittern, riss sich zusammen und ärgerte sich über ihre Reaktion. Sie war immer noch Captain. Sie konnte es sich nicht erlauben, zusammenzuklappen.

Zwei der drei ’Sko, die sie beobachteten, zogen sich zurück. Schließlich schlich auch der dritte langsam davon. Er drehte sich mehrmals um, bevor sie das Britzeln eines aktivierten Kraftfeldes aus dem Gang hörte.

Der Knast war gesichert.

Sie drehte sich zu Dallon um. Das Blut auf seinem Gesicht war fest geworden, verkrustet und verklebt mit Strähnen seiner langen Haare. Seine dunklen Augen glänzten. Ihr war klar, dass er Schmerzen hatte. Sein Hinken war schlimmer geworden, nachdem die ’Sko sie durch die Korridore und Gänge befördert und in diesen Knast gestoßen hatten.

»Ihr Bein«, fragte sie sanft. »Gebrochen?«

Er grinste angestrengt. »Nicht ganz.«

»Farra?«

»Nur ein paar Schnitte und Prellungen.« Ihre Stimme schwankte. Aber sie war eine Stegzarda. Trilby wusste, sie würde sich nicht gehen lassen.

»Und Sie, Captain?« Dallons dunkle Augen suchten ihr Gesicht ab.

War es wirklich erst einen Trike her, dass sie sich in der Lounge auf Degvar bei einer Tasse Tee kennengelernt hatten?

»Ebenso. Keine ernsthaften Verletzungen.« Ihre Brust tat weh. Es sollte sie nicht wundern, wenn ihr der ’Sko eine Rippe gebrochen hätte, als er seinen Gewehrkolben in ihren Oberkörper rammte. »Ich kann versuchen, mit meiner Jacke Ihr Bein zu verbinden. Aber wir brauchen etwas zum Schienen.«

»Ohne Jacke frieren Sie sich hier tot, Captain. Mein Bein wird erst zum Problem, wenn wir an einem Marathonlauf teilnehmen wollen.«

»Vielleicht bringen sie uns ja eine Decke oder irgendwas anderes, was uns weiterhilft.«

»Darauf würde ich nicht setzen«, war sein knapper Kommentar.

Doch so kam es, eine Stunde später. Drei Decken. Ein Eimer Wasser.

Sie stand auf, als das Kraftfeld wieder schimmerte. »Ich brauche eine Stütze. Irgendwas, um sein Bein zu schienen. Es ist gebrochen.« Sie sah dem ’Sko direkt in die Augen und hielt eisern Blickkontakt. Sie sollte eigentlich Furcht empfinden. Aber sie empfand überhaupt nichts. Nur Leere.

Rhis war tot.

Der ’Sko schwätzte sie in seiner Sprache an. Dann griff er nach einem kleinen Gerät an seinem Gürtel. »Wiederhole.«

»Ich brauche eine Stütze. Eine Beinschiene. Sein Bein«, sie zeigte hinter sich, ohne ihren Blick von den Augen des ’Sko abzuwenden, »ist gebrochen.«

»Medi?«

»Ich bin ausgebildet«, rief Farra.

Das dünne ’Sko-Gesicht wackelte hin und her. »Kann Information sagen. Nicht. Mehr.« Er verzog sich.

»Ob das was gebracht hat?«, fragte Farra.

»Ich hab ja schon nicht an die Decken geglaubt«, sagte Dallon. Er legte Farra eine der Decken um die Schultern, bevor er sich selbst eine weitere über die ausgestreckten Beine zog.

Trilby stand mit vorsichtig vor der Brust verschränkten Armen in der Mitte der Zelle. Sie brauchen uns offenbar lebend. Ich weiß nur nicht, warum. Aber sie brauchen uns lebend. Sie fragte sich, ob sie Jagans Leiche gefunden hatten. Vielleicht hatten sie begriffen, dass es das Schiff war, auf das Garold Grantforth gewartet hatte. Hatten begriffen, dass sie einen Fehler gemacht hatten.

Jagan hatte das angenommen. Sie konnte seine Stimme über das Intracom fast noch hören: Ich schwöre dir Trilby, das hätte eigentlich nicht passieren –

Was hätte eigentlich nicht passieren dürfen? Der ’Sko-Angriff, ganz offensichtlich. Also hatte er gewusst, dass das Mutterschiff auf die Quest wartete. Er wusste, dass sie in ein tödlich gefährliches Spiel verwickelt waren, als er sie auf Saldika abgepasst hatte. Aber er glaubte, er wäre immun, wohl wegen der Datenbanken.

Rhis hatte gesagt, er habe die Sternenkarten den ’Sko angeboten. Sie hatten sie nicht gewollt.

Vielleicht waren sie von einer anderen Fraktion der Niyil? Nicht die, von denen Jagan zugegeben hatte, dass sie mit seinem Onkel zusammenarbeiteten?

Es war schmerzhaft klar geworden, dass Garold Grantforth mit den ’Sko gemeinsame Sache machte. Und zwar sowohl mit der Niyil-Sekte als auch den Beffa-Kartellen. Aber laut offizieller Verlautbarung nur mit den Beffa. Seine Geschäfte mit den Niyil waren geheim. Und wie Trilby vermutete, mehr als nur hochverräterisch.

Sie drehte sich um und betrachtete die verkrümmte Form, die Dallons Bein der darüber liegenden Decke gab. Das dunkel erkaltete Blut verschmierte immer noch Dallons Gesicht. »Augen zu, Patruzius.« So hatte Rhis ihn immer genannt.

»Wie?«

»Augen zu.« Sie zog ihre Jacke aus und begann, sich das Hemd aufzumachen. »Ich brauche irgendwas, um die Wunde auf Ihrer Stirn auszuwaschen, und ich möchte keine Decke nass machen.«

Er schloss die Augen. Sie legte das Hemd zur Seite und zog sich das T-Shirt über den Kopf.

Dasselbe T-Shirt, was Rhis ihr über den Kopf gezogen hatte, bevor sie gemeinsam auf die Brücke gegangen waren. Vor acht oder zehn Stunden. Er hatte sie angezogen, liebevoll, verführerisch. Von den Strümpfen bis zum Hemd, zur Jacke. Hatte ihr sanft die Haare durchgebürstet.

Sie begann erneut zu zittern. Sie fuhr mit den Armen ins Hemd, zog den Reißverschluss hoch und streifte die Jacke über. Dann faltete sie das T-Shirt zu einer Kompresse zusammen.

»Okay.« Mehr brachte sie nicht heraus. Sie traute ihrer Stimme nicht.

Das Wasser im Eimer war klar und kalt. Sie tunkte einen Teil der T-Shirt-Kompresse hinein, dann kniete sie neben Dallon nieder und drückte ihm die kühle Kompresse behutsam auf die Stirn.

Farra fiel ihr in den Arm. »Lassen Sie mich das machen, Captain. Onkel Yavo …« Sie schluckte schwer. »Er bestand auf meiner Ausbildung für medizinische Notfälle. Er würde es mir nie verzeihen, wenn ich das hier jetzt nicht hinbekäme. Stegzarda. Wir sind Stegzarda. Sie wissen doch, es gibt nichts, was wir nicht können.«

Trilby reichte ihr das gefaltete Shirt.

»Vad. Lehn dich zurück und halt den Kopf nach hinten«, sagte Farra auf Zafharisch zu Dallon. »Ich muss erst mal das Blut aufweichen, um sehen zu können, wie tief die Wunde ist. Guter Junge, ja, Dallon-Chevo. So ein braver Junge. Du kennst das schon, was? Oder hat dir jemand was zum Naschen versprochen, wenn du lieb still hältst?«

Trilby hörte Dallons leises Kichern. Farra Rimanava vollbrachte ein Wunder. Yavo Mitkanos hatte gute Gründe gehabt, sie zu protegieren.

Dann tauchte der ’Sko wieder auf. Er hatte ein stabförmiges, seltsames Gestell in der Hand. Ein weiterer Wächter stand hinter ihm und zielte mit dem Gewehr auf Trilby. Der erste ’Sko schaltete an einem Kästchen in der Mitte des Ganges das Kraftfeld aus. Dann schleuderte er das Gestell in die Zelle.

»Stütze. Für. Bein.« Er schüttelte hektisch den Kopf.

Das konnte, dachte Trilby, entweder Ja oder Nein bedeuten. Sie sah davon ab, zurückzunicken. Wenn sie deren Körpersprache nicht verstand, verstanden die ihre bestimmt auch nicht.

Sie hatte ohnehin keine Lust, sich zu bedanken. Weil sie ihnen nicht das kleinste bisschen dankbar war. Und es auch einem ’Sko gegenüber niemals sein würde.

»Wenn wir es nicht brauchen können, sag ich Bescheid.«

Sie hob das Gestell auf, ließ die Wachen stehen und ging zu Farra.

Farra wischte noch ein paar Minuten Dallons Gesicht sauber, dann begutachtete sie die Wunde. »Gar nicht so tief, und jetzt wenigstens einigermaßen sauber.«

»Danke, Doktor.«

»Heb dir deinen Dank für später auf, Dallon-Chevo. Ich nehme mir jetzt nämlich das Bein vor.«

»Muss ich die Hose ausziehen?« Er grinste sie an.

»Nein, bedauerlicherweise nicht. Sicher entgeht mir deshalb ein außerordentliches Vergnügen.«

Sie musste über Farras Schlagfertigkeit automatisch grinsen. Wahrscheinlich neckte sie den schüchternen Lucho auf Degvar ebenso gnadenlos.

Und genau dort gehörte Farra hin. Nach Degvar. Zu ihrem Lucho. Onkel Yavo war tot. Farra brauchte jetzt Lucho. Und er sie auch.

Ich werde dich zurückbringen, irgendwie, schwor sich Trilby. Ich werde dich nach Hause bringen.

Es war kalt. Und dunkel. Jemand hatte das Licht ausgemacht. Er rollte sich zur Seite – oder vielmehr, er versuchte es. Es ging nicht. Irgendetwas Hartes drückte ihm in den Rücken. Sein Brustkorb schmerzte fürchterlich, als hätte ihn jemand in Stücke gerissen.

Oh. Das stimmte. Er war erschossen worden.

Rhis blinzelte erneut. Angestrengt. Seine Sicht verschwamm erst, dann wurde sie klar. Es herrschte Totenstille. Rot gefärbte Totenstille. Notbeleuchtung.

Das Schiff. Die ’Sko.

Trilby.

Er öffnete den Mund und versuchte seine Zunge aus dem Rachen in den Gaumen zu schieben. Und stieß zwei Silben scharf und atemlos hervor. »Tril-by?«

Nichts. Dann ein Grunzen, tief und kehlig. Von der anderen Seite der Brücke.

Er schob sich den Ellenbogen unter die Seite und drückte sich etwas hoch. Schmerz durchpeitschte ihn und machte ihn fast blind. »Verfluchte Hölle noch mal!«

»Tivahr?«

Eine schwache Stimme nannte seinen Namen. Er durchforstete seine Erinnerung. Treffer. »Mitkanos?«

»Vad.« Ein keuchendes, röchelndes Atmen. »Vad.«

»Halten Sie durch!« Blödsinn, so was zu sagen. Er wusste nicht mal, wie weit sie voneinander entfernt lagen. Geschweige denn, ob er überhaupt laufen konnte. Oder kriechen. Vorsichtig hob er den Kopf und schaute an sich herunter. Er hatte noch Beine. Gut. Was er von seinem Oberkörper sehen konnte, bestand aus dunklem Blut.

Ach ja, richtig. Er war ja erschossen worden.

Er versuchte wieder, sich zur Seite zu rollen, und stellte fest, dass es gar nicht sein Körper war, der ihn daran hinderte, sondern ein Sitz und ein ziemlich großes Stück der Navigationskonsole, zwischen denen er eingeklemmt war. Mühsam robbte er ein Stück in Richtung Kopilotensessel. Hinter dem Trilby gestanden hatte, als –

Trilby. Er sah sie vor sich, die Augen vor Angst weit aufgerissen, wie sie versuchte, ihn mit der Hand zu erreichen, die Wangen tränenüberströmt. Und der rot uniformierte ’Sko hatte ihr im selben Moment den Gewehrkolben in die Brust gerammt.

Teufelsmonster! Er hatte sich geschworen, wenn sie sie nur anschauten, wären sie tot. Sie hatten mehr getan, als sie nur anzuschauen.

Sie hatte noch den Sitz gepackt und trotzdem versucht, ihn zu erreichen.

Denn er starb. Nein, aber sie hatte gedacht, er starb. Und die ’Sko hatten ihn ebenfalls für tot gehalten.

Überraschung.

Er brauchte einige Zeit, um sich von der zerborstenen Konsole zu befreien und unter dem Kopilotensessel hindurchzukriechen. Er konnte Mitkanos’ unregelmäßiges Röcheln hören. Das Medistat klemmte immer noch an seinem Gürtel. Wenn es nicht beim Sturz von der Konsole kaputtgegangen war, würde er es gleich sehr gut gebrauchen können.

Er robbte in den Trümmern herum, bis er schließlich auf den Stegzarda-Major stieß. »Wo haben sie Sie erwischt?«

»Brust. Schulter.«

Er tastete nach dem Medistat und klappte es auf. Summend schaltete es sich ein. Gute, alte, verlässliche imperiale Technologie. »Kollabierte Lunge. Gebrochenes Schlüsselbein.«

»Das freut mich.«

»Das sollte es auch. Sie werden nämlich nicht daran sterben.« Auf der Brücke gab es einen Medi-Notkoffer. Hinter der Kommunikation, wenn er sich recht erinnerte. Wie praktisch.

Er lehnte sich weit zurück, tastete nach einer Wandklappe und riss sie heraus. Handnotstrahler. Antibiotika-Kissen. Und schmerzstillende Auflagen. Synthetisches Heilfleisch. Knochenregeneratoren. Er schaufelte, was er brauchen konnte, zu Mitkanos.

»Tivahr?«

»Hm?« Er platzierte zwei Kissen am Hals des Mannes. Antibiotika und Schmerzstiller.

»Die haben Sie doch umgebracht. Ich hab es gesehen.«

Rhis legte sich die Hand an die Brust und tastete behutsam. Es schmerzte wie Hölle. Nicht mehr lange, und dieses grausame Jucken würde einsetzen. Er machte sich klar, dass das, was Mitkanos im Schein des Handnotstrahlers gerade von seiner zerfetzten Brust zu sehen bekam, wirklich entsetzlich aussah. »Das haben sie.«

»Dann … ist es wahr? Was Sie sind?«

Er schob seine Hand behutsam unter Mitkanos’ Rücken. »Ich möchte, dass Sie sich aufsetzen. Das tut bestimmt scheußlich weh, aber ich will Ihnen den Knochenregenerator umlegen, bevor ich mir die Lunge ansehe.«

Mitkanos knurrte nur. Rhis zog dem Mann schnell die Reste des Hemds aus und richtete ihn auf. Dann legte er ihm den Regenerator um und fixierte ihn unter seinen Achseln.

Vorsichtig legte er Mitkanos wieder hin.

Mitkanos röchelte flach.

»Der Schmerz bringt einen um, stimmt’s?«

»Sie …«, Mitkanos hob einen Arm und wies auf Rhis’ Brust. »Sie nicht?«

»Mir geht’s besser als Ihnen.« Gute, alte, imperiale Technologie.

Mitkanos nickte und schloss die Augen.

Rhis klappte das Medistat erneut auf und scannte die kollabierte Lunge. Da konnte er im Moment wenig ausrichten. Er musste Mitkanos irgendwie in die Krankenstation bringen. Falls das Schiff noch eine hatte. Wenn nicht, konnte er vielleicht irgendetwas zusammenfummeln.

Er stand auf und ging wankend zur Kommandokonsole. Alle Computer tot. Er starrte durch die Aussichtsfenster und fragte sich, warum überhaupt keine Sterne zu sehen waren.

War er am Ende doch tot und hatte es nur noch nicht mitbekommen?

Er durfte nicht tot sein. Er musste doch Trilby noch sagen, wie lieb er sie hatte. Er musste ganz dringend hören, dass sie ihn liebte. Er musste sie in den Armen halten, ihre Tränen fortküssen …

Zwei Lichtstrahlen drangen plötzlich durch die Fenster. Instinktiv duckte er sich, ohne an die Verletzung der Brust zu denken. Scheiße! Der Schmerz ließ für einen Moment seine Atmung stillstehen.

Er schob sich vorsichtig wieder nach oben und spähte über den Rand der Konsole.

Hölle noch mal. Sie lagen in einem Frachthangar.

Zwei rot uniformierte ’Sko schlenderten über den weitläufigen Boden der Halle und zogen eine Servo-Treppe hinter sich her.

Sie mussten das Schiff per Traktorstrahl an Bord geholt haben. Er erinnerte sich, da war ein Mutterschiff gewesen. Nein, zwei. Eins davon hatte die Shadows Quest in einen Frachthangar eingesogen.

Also brauchten sie die Sternenkarten doch.

Also war Trilby noch am Leben.

Also würden die ’Sko zurück an Bord der Quest kommen. Der, der die Servo-Treppe zog, blieb unter dem Flügel eines kleinen Schnellaufklärers stehen. Nein, so bald würden sie nicht wieder herkommen.

Aber sie würden kommen.

Er musste Mitkanos von der Brücke wegschaffen und ihn an irgendeinen sicheren Platz bringen. Er musste Trilby finden und ihr sagen, wie sehr er sie liebte. Dann blieb eigentlich kaum noch was Wichtiges übrig, außer das Universum von den bösen ’Sko zu befreien, und das Leben würde herrlich werden.

Er bahnte sich den Weg durch die Trümmer zu Mitkanos und legte eine Hand auf die gesunde Schulter des Mannes.

»Yavo.«

Er schlug die Augen auf. »Vad. Captain.«

»Wir sind in einem ’Sko-Mutterschiff. Frachthangar. Ich muss Sie zum Unterdeck bringen. Krankenstation, falls da noch eine ist. Dann muss ich Trilby finden.«

»Und Farra. Dallon.«

»Und Farra und Dallon, ja.«

Mitkanos versuchte strauchelnd auf die Beine zu kommen. »Ich denke, ich kann laufen …«

»Warten Sie, ich hole Hilfe, damit wir Sie in einem Stück die Treppe runterkriegen.«

»Hilfe?«

Aber Rhis stieg schon über die ’Sko-Leichen und verschwand durch die Tür. Dabei sammelte er ein paar Pistolen ein, deren Kontrolllämpchen noch grün leuchteten, und steckte sie sich in den Hosenbund. In seiner Kabine lagerten noch zwei Lasergewehre.

Und Hilfe.

»Yavo? Können Sie jetzt aufstehen?«

Mitkanos schlug die Augen auf. Und blinzelte. »Das ist Hilfe?«

»Das ist Dezi. Dezi, Major Yavo Mitkanos. Wir müssen ihn runter ins Kapitänsquartier bringen.« Die Krankenstation hatte beträchtliche Verwüstungen erfahren.

Der Droide senkte sein metallenes Haupt. »Eine Freude, Sie kennenzulernen, Major«, sagte er in fließendem Zafharisch. »Obwohl ich sagen muss, dass ich die äußeren Umstände sehr bedauerlich finde. Ich freue mich, Ihnen helfen zu dürfen. Ich bin viel stärker, als ich aussehe.«

Rhis fasste den bulligen Mann um die Hüfte, sehr vorsichtig, wegen der zerschossenen Schulter. Dezi legte sich Mitkanos’ Arm über und diente dem Mann als Stütze.

»Bereit?«, fragte Rhis.

»Selbstverständlich, Captain. Es tut so gut, wieder nützlich zu sein.«

Sie waren bereits die erste Treppe runter, bevor Mitkanos endlich zu Wort kam. »Tivahr? Haben Sie diesen Droiden gebaut?«

Rhis schüttelte den Kopf und musste trotz seiner Schmerzen grinsen.

»Er gehört Trilby. Ich hab ihn bloß wieder zusammengebastelt. Er hatte einen kleinen Unfall.«

Mitkanos knurrte. »Mussten Sie unbedingt sein Mundwerk reparieren?«

Trilby döste in die Decke gewickelt unruhig vor sich hin. Durch ihre halb geschlossenen Augenlider sah sie die ’Sko wiederholt kommen und gehen. Sie blieben nie lange. Sie drückten jedes Mal irgendeinen Knopf im Gang und verschwanden dann wieder.

Sie sah auf ihre Uhr. Fast sechs Stunden waren vergangen, seit sie an Bord gebracht wurden. Dallon war eingeschlafen, den Kopf auf Farras Schoß. Die junge Frau bemerkte Trilbys Blick und nickte leicht. Dallon ging es so weit gut. Sie strich sanft über sein Haar.

Trilby war erschöpft, aber Schlafen machte ihr Angst. Denn dann sah sie Rhis vor sich. Das blutige Hemd. Die dunklen, leblos starrenden Augen. So wollte sie ihn nicht in Erinnerung behalten.

Rhis war Khyrhis. Und Khyrhis war groß, eindrucksvoll, sanft und fordernd. Mit nachtschwarzem Haar und einem Körper …

Sie riss die Augen auf. Irgendjemand hatte gerade ihren Namen gesagt.

Ein Umriss stand vor dem flimmrigen Kraftfeld.

»El. Li. Ot.« Ein ’Sko.

Sie lehnte den Kopf zurück an die Wand und betrachtete den ’Sko teilnahmslos. »Ich bin Elliot.«

»Elli. Ot.« Er hob eine Hand. Die andere hielt ein Gewehr. »Auf. Steh.«

»Trilby …«

»Ist schon gut, Farra.« Sie stand auf und ließ die Decke über Farras Füße fallen, als sie zur Zellentür ging. Sie hatte sich schon gefragt, wann die ’Sko endlich so weit waren, ihr Fragen zu stellen.

Das Kraftfeld verschwand. Der ’Sko wedelte, sie solle heraustreten. »Komm.«

Einen Moment lang hatte sie geradezu unbändige Lust, sich zu widersetzen, aus reinem Trotz. Aber nein, sie wollte mehr von diesem Mutterschiff sehen, wollte irgendeinen Weg finden, diesem Knast zu entkommen.

Widerstandslos folgte sie der langen, schmalen Gestalt vor sich, spähte dabei unauffällig nach links und nach rechts. Weitere Zellen, alle leer, bis auf einen fiesen orangeroten Schimmer weiter vorne links.

Sie verlangsamte ihre Schritte, als sie an der Zelle vorbeikam und schaute schnell hinein.

Ein Paar dunkelblaue Augen begegnete ihrem forschenden Blick.

Ihr Herz stockte, und es kostete sie alle Kraft, den Namen nicht über ihre Lippen rutschen zu lassen.

Carina.

Sie stolperte und fiel fast hin, aber sie fing sich gerade noch ab. Ihre Eskorte schien das nicht weiter zu interessieren.

Sie waren fast am Ende des Ganges angekommen. Keine weiteren orangerot flimmernden Zellen. Aber Carina war hier. Carina!

Und Vitorio … Sie hatte Vitorio nicht gesehen. Aber er musste am Leben sein. Carina war es.

Carina lebte.

Im Lift gesellten sich drei weitere ’Sko zu ihnen. Sie glotzten sie offen an und sonderten irgendwelche Kommentare in ihrer hochgedrehten Fistelsprache ab. Sie hatte immer noch nicht rausbekommen, wer hier Mann war und wer Frau. Geschweige denn, wer Offizier und wer Soldat.

Rhis hatte gesagt, es wären Niyil. Das hieß, es war das Militär. Sie fragte sich, woher er das eigentlich gewusst hatte.

Die anderen ’Sko stiegen drei Decks höher aus und ließen sie mit ihrer Eskorte allein.

Weiter oben glitten die Türen auseinander, und sie wurde in einen breiten Korridor geführt, kahle Wände, reine Funktionalität, genau wie die Korridore unten. Instrumentenrelais hier und da, unregelmäßig blinkend.

Die Türen waren hier blau. Auf der Razalka waren die Türen farblich markiert, damit man wusste, in welcher Abteilung und auf welchem Deck man war.

Nachträglich fiel ihr ein, dass die Türen auf dem Knastdeck hier grün gewesen waren.

Sie war zu überwältigt gewesen, Carina zu sehen, um groß darauf zu achten. Aber sie waren grün.

Der ’Sko blieb vor einer breiten blauen Doppeltür stehen und stieß eine Reihe zerhackt klingender Worte aus. Die Tür teilte sich. »Rein«, fistelte er.

Ihre Eskorte folgte ihr nach drinnen. Dann verblüffte er sie, indem er sich vor ihr verbeugte, und verschwand.

Ein hagerer ’Sko saß hinter einem niedrigen schwarzen Tisch. Seine dürren breiten Schultern dehnten den roten Uniformstoff wie ein Kleiderbügel, der auszubrechen versuchte. Die Hände auf die Tischplatte gestützt, spielten seine langen Finger mit einem Stachelball aus irgendeinem Weichplastik. Er trug die gleiche Haarstreifenfrisur wie die anderen ’Sko, nur waren seine Haare dunkler und mit grünen Flecken durchsetzt.

Er starrte sie unverhohlen an wie seine Kollegen im Lift. Jetzt erkannte sie ihn wieder: Er war einer von denen, die sie durch das orangerot flimmernde Kraftfeld vor der Zelle gesehen hatte.

Endlich sagte er etwas. »Captain. Elliot. Sitz.« Er deutete auf einen Freischwingersessel.

Sie ließ sich auf der vordersten Kante nieder. Anlehnen wollte sie sich nicht, denn es würde zu lange dauern, aufzuspringen, falls sie sich plötzlich schnell bewegen musste.

Nicht, dass sie etwa fürchtete, die ’Sko hätten sie hierher gebracht, um ihr wehzutun.

Nicht, dass sie sicher war, dass sie das nicht wollten.

»Ich Kalthrencadri. Thren. Mehr leicht spricht.«

Falls er hoffte, sie würde jetzt begeistert aufspringen und jubeln – »Toll, dass ich Sie endlich kennenlerne!« –, musste sie ihn enttäuschen. »Thren«, wiederholte sie kühl. »Was willst du?«

Threns Mund verzog sich. Vielleicht ein Grinsen, vielleicht eine Drohgebärde, es konnte sonst was bedeuten. »Du. Kennt. Grantforths.«

»Nicht die ganze Sippe. Nur zwei.« Jagans Mutter hatte sie nie leibhaftig getroffen.

»Sippe?«, wiederholte Thren. Der Übersetzer an seinem Kragen knisterte irgendwas. »Ja. Familie. Du kennt Grantforth.«

»Ich kenne zwei Grantforths.«

»Lord Generalsekretär.«

In Konklavien gab es keine Titel wie Lord. Vielleicht hatten ihn die ’Sko zum Dank für seine loyalen Dienste in den Adelsstand erhoben. »Garold Grantforth. Ja.«

»Und Blutkind?«

Der Neffe, offenbar. »Jagan Grantforth.«

»Lord spricht Beffa. Beffa spricht Niyil-Pry. Lord hat Blutkind. Blutkind spricht Elliot. Elliot hat Bankkarte. Viel alt. Viel geheim.« Thren machte eine Pause. »Will Karten.«

Zorn brodelte in Trilby auf. »Wir haben euch doch die Karten angeboten!«

»Niyil-Pry. Schiff spricht Niyil-Pry.« Thren richtete einen dürren Finger auf sein Kinn. »Dakrahl«, sagte er, sich selbst identifizierend. Der Finger klopfte auf die Tischplatte. »Niyil-Day.«

Die Scanner der Quest hatten zwei Mutterschiffe erfasst. Wie es jetzt schien, hatte auch die beste imperiale Technologie nicht erkennen können, dass sie konkurrierenden Fraktionen angehörten. Obwohl sie sich plötzlich erinnerte, dass es da eine seltsames Langwellensignal gegeben hatte, kurz bevor Mutterschiff zwei aufgetaucht war.

Niyil-Pry. Niyil-Day. Letztere offenbar Verbündete der Dakrahl. Es war ihr schon lange bekannt, dass die ’Sko eine tief gespaltene Gesellschaft waren, und sie hatte Gerüchte über diverse Grabenkämpfe gehört. Jetzt steckte sie mitten in einem davon. Einem, mit dem Garold Grantforth wohl nicht gerechnet hatte.

»Will Karten«, wiederholte Thren.

Trilby würde ihm die Karten mit Kusshand überreichen, wenn das Rhis zurückbrächte. Doch das würde es nicht. Aber vielleicht konnten die Sternenkarten ihnen die Freiheit bringen. Und Carina.

Nur Idioten glauben, mit ’Sko könne man Geschäfte machen, hatte Rhis zu Jagan gesagt. Das hatte sie sich gemerkt. Aber die Karten waren die einzige Option, die sie hatten.

»Du bist Elliot?«, fragte Thren.

»Ja, ich bin Elliot. Ich habe die Bankkarten«, sagte sie deutlich. »Zwei Versionen. Eine falsche. Eine richtige. Ich bin die Einzige, die am Leben geblieben ist und weiß, welche welche ist. Und wie man sie dekodiert.«

Sie wartete, während der Transistor ihre Worte übersetzte.

Threns Kopf wackelte schnell hin und her. »Nein zwei! Nein zwei! Niyil-Pry sagen, Elliot-Frau hat alles. Frau! Töten Blutkind. Töten alle Männer!«

Töten Blutkind. Trilbys Vermutungen bestätigten sich. Sie waren hinter Jagan her gewesen – und allen, die gerade mit ihm zu tun hatten.

Wahrscheinlich hatten sie nicht mal gewusst, wie Jagan Grantforth überhaupt aussah. Töten alle Männer hatte ihre Erfolgsaussichten mächtig erhöht.

Töten alle Männer hatte Rhis das Leben gekostet. Wegen Jagan.

Aber Dallon war noch am Leben. Sie hatten Dallon nicht umgebracht. Sie hatten ihn sogar auf ihre Nachfrage hin mit einer Beinstütze versorgt …

Dallon Patruzius trug seine Haare lang. Farras waren ebenfalls lang. Selbst ihr eigenes kurzes Haar war deutlich länger als Rhis’ Militärhaarschnitt. Und Yavos.

Natürlich. Die ’Sko konnten Frauen nicht von Männern unterscheiden. Da ging es ihnen genauso wie ihr.

Sie machte ein ungerührtes Gesicht. »Ich habe zwei Versionen von den Sternenkarten«, wiederholte sie. »Beide verschlüsselt. Wenn ich sterbe, sterben die Karten mit. Du willst die richtigen? Wir machen ein Geschäft.«

»Geschäft? Geschäft?«

»Handel, Übereinkunft.«

Thren lehnte sich zurück und rollte den Ball unter seiner Hand. Sie unterdrückte das dringende Bedürfnis, aufzuspringen und ihm den Ball in den Schlund zu stopfen. »Ein Schiff. Freiheit«, fuhr sie fort. »Für mich und meine Besatzung im Gefängnis. Und die andere Frau, die ihr da unten habt. Carina von der Bellas Dream

Thren rollte den Ball vor und zurück, vor und zurück.

Trilby wartete geduldig. Im Augenblick arbeitete die Zeit für sie. Die Notrufe waren noch rausgegangen. Irgendwer in Konklavien sollte sie inzwischen empfangen haben.

Und Rhis hatte Demarik befohlen, die Erste Flotte anzufordern und sie nach Syar zu schicken. Imperiale Schiffe konnten der Ionenspur eines ’Sko-Mutterschiffs folgen. Irgendwer würde früher oder später kommen.

»Du frei. Du bricht Übereinkunft. Du sagt Militär, ’Sko haben Karten.«

Sie zuckte die Achseln. »Aber dann wird es zu spät sein, um dich aufzuhalten, Thren. Dann hast du ja bereits alle Sternenkarten. Die ganzen unbekannten Hyperraumtunnel. Die versteckten Stützpunkte. Die Konklaven können vermuten, wo du steckst, aber sie werden es nicht sicher wissen.«

Thren nahm den Ball in die andere Hand und rollte ihn im Kreis.

»Konklav egal. Grantforth. Niyil-Pry. Beffa.« Die dünnen Lippen verzogen sich. »Imperium Problem.«

Die Sternenkarten verzeichneten auch Stützpunkte im Imperium. Demarik verfügte über eine Kopie der richtigen Karten von ihrem Schiff. Nicht aber von Carinas. »Kompromiss. Lass uns frei, gib uns ein Schiff und was dazugehört. Du kannst uns zu einer kleinen Welt auf Gensiira eskortieren. Niemand kennt den Ort. Gifthaltig. Wir nehmen zu niemandem Kontakt auf. Mehr will ich nicht. Vier Leben für die Karten.«

Der Ball rollte nicht mehr. »Thren denkt viel. Muss.«

»Denk, so viel du willst.« Sie stand auf und stopfte die Hände in die Taschen ihrer Uniformjacke. Sie starrte die bleichgesichtige Kreatur an, die mit dem Ball auf dem Tisch herumspielte. So gedankenverloren, wie sie mit ihren Leben gespielt hatte. »Aber jeder Tag, den du länger wartest, ist ein Tag, an dem du Konklavien nicht kontrollierst. Du hast noch einen Deuce, vielleicht einen Trike, bis Lord Generalsekretär Grantforth erfährt, dass du sein Blutkind ermordet hast. Er wird einen Tötungsbefehl für die Dakrahl ausgeben. Für die Niyil-Day.«

»Konklavien nicht stark.«

»Es sind nicht mehr nur die Konklaven. Mein Schiff, die Menschen auf meinem Schiff …« Trilby holte kurz Luft, um sich zu beruhigen. »Die Männer, die ihr ermordet habt, waren Offiziere des Imperiums. Von der Razalka und der Stegzarda

Der Stachelball ruhte unter Threns Fingern. Der kleine Transistor schnarrte in kurzen, spotzenden Abständen.

Der ’Sko hatte keine Ahnung, das Khyrhis Tivahr unter den Toten war. Das machte ihr Threns angespanntes Schweigen klar.

»Das Imperium wird sich auf jeden Fall rächen wollen. Und dann bekommst du es mit Konklavien und dem Imperium gleichzeitig zu tun, vereint im Krieg gegen die ’Sko.« Sie hob das Kinn leicht an. »Überleg es dir, Thren. Überleg es dir gut.«