29
Rhis ließ sich gerade aus einem Lüftungsschacht aufs Brückendeck gleiten, als er das Zischen der sich versiegelnden Luftschutztore hörte. Sie hatte es geschafft! Seine Funkenfee fuhr im Basisbetriebssystem Kettenkarussell – und kontrollierte somit das gesamte Schiff.
Jedes Deck war jetzt einzeln abgetrennt und hermetisch abgeschottet. Die Fahrstühle außer Betrieb. Die ’Sko waren gefangen, festgesetzt in der Sektion, wo sie sich gerade befanden.
Und er konnte ihnen einfach die Luft ablassen, aus einzelnen Sektionen, eine nach der anderen, oder gleich aus ganzen Decks. Es unterlag seiner und Trilbys Kontrolle. Er packte Dezis harte Schulter. »Komm, weiter.«
Sie waren kurz vor der breiten blauen Doppeltür zum Konferenzraum angelangt.
Ein Geräusch von hinten, ein fistelnder Aufschrei. Im Umdrehen hob Rhis beide Lasergewehre und feuerte aus der Hüfte. Der ’Sko-Körper zuckte und fiel zu Boden. Ein weiterer kam einen Seitenkorridor entlang angelaufen und kündigte sein Kommen durch eine Laserbrandspur an, die sein feuerndes Gewehr vor ihm auslegte. Rhis passte ihn ab und schoss ihm in den Kopf.
»Los!«, rief er Dezi zu und sprintete bis vor den Konferenzraum.
Dezi folgte mit steifen Schritten.
Rhis stellte sich neben die blaue Tür und legte sich beide Gewehre an die Schultern. »Jetzt.«
Dezi steckte den Mittelfinger in das Wandpad. Die Türen glitten zur Seite, und Rhis hörte zwei Geräusche gleichzeitig.
Das eine war ein markerschütterndes, enervierendes Kreischen.
Das andere war eine Frauenstimme, die bezauberndste, die er je gehört hatte. »Dezi!«
Und aufgrund der Geräusche wusste er exakt, wer wo war.
Er sprang in den Raum, die Lasergewehre im Anschlag, weiße, todbringene Laserstrahlen ausspuckend.
Der lange ’Sko wurde halb aus in seinem Stuhl gerissen. Energieblitze zuckten aus seinem Oberköper, entflammten die Schultern und den Kopf. Dunkle Flecke explodierten auf seiner roten Uniform. Sein Gesicht zog sich zusammen, das grün gefleckte Haarbüschel richtete sich auf und schien ein Stück zu wachsen, bevor es ihm senkrecht vom Kopf abstand. Dann bog sich der qualmende Körper nach hinten, brach in sich zusammen und blieb wie ein verrußter Lumpen über der Armlehne hängen.
Dann, und wirklich erst dann, gestattete Rhis sich einen Blick zu Trilby. Sie hatte sich kleingemacht und in der Hocke hinter ihrem Stuhl verschanzt, eine Defensivposition, die jeden Stegzarda-Major stolz gemacht hätte.
Sowie jeden Commodore der imperialen Flotte.
»Ich bin«, sagte er, als sie aufstand, »ein viel besserer Schütze, als du mir offenbar zutraust.«
Sie stürmte auf ihn zu und warf sich an seine Brust und schlang ihm die Arme um den Hals. Er ließ die Gewehre an den Gurten baumeln und umschloss sie mit beiden Armen. Drückte sie ganz fest an sich und schaffte es zwischendurch noch, Dezi anzublaffen: »Schließ die verdammte Tür!«
Sie heulte Rotz und Wasser, lachte, küsste ihn.
Er nahm ihr Gesicht zwischen die Handflächen und sah sie unendlich lange an, ließ jeden Blitzer aus ihren Augen in sein Herz strahlen, streichelte die sanften Kurven ihrer Lippen, fuhr mit den Daumen über ihre rußverschmierten Wimpern und küsste jede Träne einzeln fort, die ihr die Wangen hinablief.
Sie zitterte unter seinen Berührungen.
Er flüsterte ihren Namen. »Trilby-Chenka. Mein Herz gehört dir.«
Dann küsste er sie und ließ alles jemals empfundene Verlangen mit einer Kraft explodieren, die Sterne zur Supernovas wachsen ließ, versengte sie, brandmarkte sie mit allem, was er fühlte. Mit allem, was er war.
Mit allem, was er nicht war.
»Khyrhis. Khyrhis«, schluchzte sie, flüsterte ihm zärtlich seinen Namen in den Mund.
Er zog sie an seine Brust, seine Finger flochten sich in ihr mondscheinfarbenes Haar, und er hielt sie fest, hielt sie ganz fest. Hielt sie fest.
Er presste die Augenlider zusammen.
Sie war nicht die Einzige, die zitterte.
Er stieß einen langen Atemzug aus. »Trilby-Chenka. Wir haben noch was zu tun.«
Sie nickte, rückte von ihm ab und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Aber als sie ihn wieder ansah, grinste sie breit.
Er sah den Bildschirm auf dem Tisch, dort, wo sie hinter dem Stuhl gehockt hatte, und zeigte darauf. »Hast du Zugang von hier?«
Sie nickte, zog die Nase hoch und wandte sich von ihm ab und Dezi zu. Der Droide nahm ihre ausgestreckte Hand und pumpte ihren Arm in einem überschwänglich herzlichen Handschlag auf und ab. »Es ist sehr schön, Sie wiederzusehen, Captain Elliot.«
Rhis glitt auf den Stuhl und vor den Bildschirm, während Trilby Dezi umarmte. Dann stand sie wieder hinter ihm, immer noch schniefend, die Hand vergewissernd auf seine Schulter gelegt.
Er tippte auf den Schirm. »Du hast den Knast ausgespart. Gut. Diesen Frachthangar hier bitte auch. Sonst könnte Onkel Yavo ziemlich sauer werden.«
»Ich wusste ja nicht, wo die Quest ist.«
»Keine Sorge. Ich hab’s schon.« Er spähte über den Bildschirm auf die zusammengefallene Form am anderen Tischende. »Du hast mir deinen Freund noch gar nicht vorgestellt.«
»Thren sonst wie. Oder sonst wie Thren.«
Thren? Er durchforstete seine Erinnerung, während er Deck für Deck die Lebenserhaltung abschaltete. Den ’Sko würde es gleich ziemlich duselig werden.
Thren. »Kalthrencadri?«
»So was in der Richtung, ja.«
Aber er kannte die Antwort schon, bevor sie es bestätigt hatte. Darauf hätte er gleich kommen können. Er hatte schließlich die Gebetskugel auf dem Tisch gesehen.
»Dakrahl«, sagte er. Er sah kurz auf, um sich zu vergewissern, dass sie sah, wie er auf das stachelige Objekt deutete. »Ein Hohepriester. Ungewöhnlich auf einem Niyil-Schiff.«
Andererseits, wenn man die ’Sko kannte, auch wieder nicht. Darüber konnte er später noch nachdenken. Er blickte auf den Schirm. Maschinenraum, Besatzungsunterkünfte, Bordküche waren abgeschaltet. Lebensformen verglimmten. Auf der Brücke würden sie jetzt wohl allmählich durchdrehen. Versuchten vermutlich, sich durch die Panzertüren zu schießen. Völlig sinnlos. Die ’Sko bauten ihre Schiffe beinahe so solide wie die Zafharier.
Er kratzte sich geistesabwesend die juckende Seite. In Kürze würde er auch die Brücke von den Lebenserhaltungssystemen abschneiden, aber irgendetwas Boshaftes in ihm wollte sie zusehen lassen, wie ihr Schiff starb. Deck für Deck. Sie kamen erst am Schluss dran.
»Was hat das Spielzeug damit zu tun?« Sie zeigte auf den Ball.
»Eine Gebetskugel. Das offizielle Spielzeug – wie du gerade so treffend bemerktest – eines Hohepriesters der Dakrahl. Hilft ihnen bei der Zwiesprache mit«, er wedelte ein paar Pirouetten in die Luft, »mit wem auch immer sie Zwiesprache halten.«
Er überprüfte den Bildschirm. In etwa drei Minuten würde das Schiff vollständig lahmgelegt sein bis auf den Gefängnistrakt, den Frachthangar mit der Quest drin und diesen Teil des Brückendecks.
»Der hier hielt jedenfalls Zwiesprache mit den Niyil-Day …«
»Ja, genau.«
»Den Niyil-Day«, wiederholte sie, die letzte Silbe betonend. »Und die Niyil-Pry haben das Grantforth-Abkommen sabotiert.«
Er zog seine Aufmerksamkeit von den sterbenden ’Sko ab. Die Niyil-Day. Verfluchte Hölle. Natürlich. Bei dem Material, für das er beim Einsatz auf Szedcafar mit seinem Team das Leben riskiert hatte, ging es auch vorwiegend um die Grabenkämpfe der Niyil und die Frage, welche Fraktion die Oberhand errang. Dieses Mal.
»Das zumindest hat Thren mir erzählt«, fuhr sie fort. Dann berichtete sie ihm kurz den Rest, einschließlich des Tötungsbefehls für Jagan und sicherheitshalber auch alle anderen Männer in seiner Umgebung. Eine Frau namens Trilby Elliot, das war der Schlüssel.
Rhis sah plötzlich das ganze Drama vor sich. Die Niyil-Day, die am meisten enthnozentrische aller ’Sko-Fraktionen, waren zugleich am allerwenigsten in der Lage, eine Trilby Elliott von anderen weiblichen Wesen an Bord zu unterscheiden.
Tötet die Männchen, schnappt euch die Weibchen. Früher oder später würde schon eine Captain Trilby Elliott dabei sein, Finderin verschollener zafharischer Offiziere und Hüterin der lange verloren geglaubten Sternenkarten.
»Ich glaube, wir im Imperium sollten in Zukunft die ’Sko sehr viel ernster nehmen«, erklärte er ihr. »Wenn die Dakrahl jetzt die Niyil an ihrer Seite haben, verfügen sie nicht mehr bloß über zwei schwache, weil zerstrittene Milizen, sondern über eine gemeinsame Armada.«
Die Dakrahl würden mit schlagkräftigen Argumenten in der Hinterhand auf die Rückgabe der Faytari-Klüfte drängen. Das würde dem Kaiser nicht gefallen.
»Du meinst, diesmal kommen wir wirklich nach Hause?«
Der Schirm zeigte keinerlei Lebenszeichen mehr auf der Brücke. Er fasste nach ihrer Hand und drückte sie, dann zog er sie auf die Füße. »Wir kommen nach Hause, Trilby-Chenka. Diesmal kommen wir nach Hause.«
Rhis erspähte hinter Dezis Schulter eine Datentafel in der Wand des Konferenzraums. Bilder und Icons blinkten auf, untertitelt mit Ycskrit-Geschreibsel. Er deutete auf zwei blinkende Glyphen. »Wir haben hier ein paar Besatzungsmitglieder, die noch leben. Bestimmt Offiziere. Sind in ihren Büros eingeschlossen. Und leben.«
Rhis strich über den Bildschirm und las Trilby, die neben ihm stand, die Personenangaben vor. »Ein Commander der Navigation. Und ein Divisionschef. Taktisch. Ich kann die Lebenserhaltung da nicht abschalten, ohne uns gleich mit abzumurksen. Aber das geht in Ordnung. Sie können nirgendwohin und sind bestimmt nützliche Gefangene, wenn wir ins Grenzgebiet vorstoßen.«
»Sie können nicht durch die Versorgungsschächte krabbeln wie du?«
»Nicht, sofern sie nicht drastisch abgenommen haben und nur noch zehn Zentimeter breit sind. Wenn in einem ’Sko-Schiff die Luftschutztüren zugehen, werden auch alle Schächte mit Sicherheitsbalken verriegelt. Du kannst vielleicht noch deine Hand durchstecken, aber kaum mehr.«
Sie lehnte sich an die Wand, streckte vorsichtig ihre Hand aus und tastete seinen Brustkorb ab.
Verfluchte Hölle. Er hätte doch seinen Anzug wechseln sollen. Aber er hatte nicht genug Zeit gehabt. Es hatte Wichtigeres zu tun gegeben als Trilby finden und ihnen allen das Leben retten.
»Du wurdest erschossen.« Ihre Stimme klang sanft. »Mehr als einmal. Ich hab sie gesehen. Und ich habe dich gesehen.«
Er umfasste ihre Hand und zog sie an seine Lippen. »Ich werde dir alles erklären. Ich verspreche es. Aber nicht jetzt. Wir müssen auf die Brücke und dieses Schiff in Bewegung setzen. Die Razalka ist irgendwo da draußen, und Jankova kann es nicht leiden, wenn ich zu spät komme.«
Er zog sich noch einmal das Raster der Brücke auf den Schirm und stellte zufrieden fest, dass sich nicht mehr das Geringste regte. Er wies Dezi an, die Lebenserhaltung für die Brücke zu aktivieren.
Fünf Minuten später öffneten Dezi und er die weiten Brückentüren und traten einen Moment zur Seite, um die schale Luft und den Gestank des Todes abziehen zu lassen.
Er behielt Trilby hinter sich, bedeutete ihr, im Korridor zu warten, bis er was anderes sagte. Zu seiner Überraschung und untypischerweise gehorchte sie.
Er hätte wirklich seinen Arbeitsanzug wechseln sollen. Jetzt gingen ihr Fragen durch den Kopf. Er hoffte, dass ihr die Antworten gefallen würden.
Malika hatten sie nicht gefallen.
Rot bekleidete Leichen lagen verstreut in teilweise kollabierter Stellung herum. Dezi und er schoben die leblosen Körper in die schlechter beleuchteten Zonen des runden Raums. Eine große ’Sko-Flagge und ein Niyil-Wimpel hingen unter einer Lampe. Er rupfte sie runter und legte sie so gut es ging über die aufgetürmten Leichen.
Das musste reichen. Auch wenn ihm nicht ganz klar war, warum er das überhaupt tat. Trilby Elliot hatte schon Schlimmeres gesehen. Sie hatte für Herkoid gearbeitet, nein, war von ihnen ausgenutzt worden. Sie hatte in den schmutzigen Straßen von Port Rumor um ihr Leben gekämpft.
Sie hatte gesehen, wie Khyrhis Tivahr erschossen wurde.
Und genau deshalb deckte er die Toten ab. Sie hatte schon genug gesehen. Zu viel. Zumindest konnte er ihr noch mehr ersparen.
Als er in den Korridor ging, um sie zu holen, hielt sie die Gebetskugel umklammert. »Hat sie dir schon all ihre Geheimnisse preisgegeben?«
»Nein. Aber ich habe sie auch noch nichts gefragt.«
Er brachte sie auf die Brücke und begann die Sequenzen für das Freischalten des Basisbetriebssystems zu aktivieren.
»Ich hab noch ein selbstdrehendes Kettenkarussell in das zentrale Com-Pack geschleudert«, sagte sie, als die Bildschirme vor ihr hochfuhren. »Es ist auf Threns ID geeicht, aber es kann sich auch selbst starten.«
»Ein Kettenkarussell?« Er war beglückt.
»Es kettet sich an alle rausgehenden Nachrichten, entpackt und installiert sich in die Empfänger-Com-Packs, wo es sich sofort selbst kopiert und mit jeder weiteren Nachricht reproduziert.«
»Und dann?«, fragte er eifrig.
»Dann ist über kurz oder lang das Einzige, was sie alle noch empfangen, das Rezept für meinen berühmten Kartoffel-Käse-Auflauf.«
»Ich muss sagen«, warf Dezi ein, »dass dieser Auflauf immer, wenn ich ihn serviert habe, auf allseitige Begeisterung gestoßen ist. Wobei ich wiederum nicht annehme, dass die ’Sko …«
»… noch Gelegenheit bekommen, ihn zu probieren«, schloss Rhis den Satz ab. »Kannst du das rückgängig machen?«
Sie sah ihn mit diesem Blick an, als zweifle sie ernsthaft an seinem Verstand. »Ja, natürlich.«
Er drehte sich grinsend zur Kommandokonsole.
Weitere Bildschirme erwachten zum Leben.
»Das Intracom steht«, sagte er. »Schätze, Farra und Dallon würden sich freuen, von dir zu hören. Und Carina.«
Er bemerkte die Tränen, die ihr in Augen stiegen. Dann wandte sie sich um und gab die Intracom-Koordinaten der nächstliegenden Gefängniszelle ein.
»Dallon? Farra?«
»Captain?« Das war Dallons Stimme. Er klang weit entfernt. »Sind Sie in Ordnung?«
»Mir geht’s gut. Das Schiff ist in unserer Hand. Rhis hat … Rhis lebt. Er steht hier. Es geht ihm gut. Er sagt, auch Yavo lebt. Hören Sie zu, ich deaktiviere jetzt die Kraftfelder und öffne die Zellen. Aber die dicken Luftschutztüren sind blockiert. Wir haben die Lebenserhaltung außerhalb überall gekappt. Ich kann Sie deshalb im Moment nicht raus aufs Deck lassen. Aber bitte gehen Sie den Gang runter, nach links. Eine Freundin von mir ist dort in einer der Zellen. Sie heißt Carina. Bestimmt ist sie krank oder verletzt. Ich weiß es nicht genau.«
»Farra ist schon unterwegs.« Dallons Stimme klang jetzt näher, fester. »Tivahr ist noch am Leben?«
Rhis klinkte sich von seiner Station ins Intracom. »Das bin ich, und seien Sie versichert, ich bin immer noch der arrogante, ekelhafte Bastard, der ich immer war.«
Auf einem Bildschirm in der Ecke begann ein großer Punkt rhythmisch zu blinken. Rhis schaltete das Intracom aus und bedeutete Trilby mit einer Handbewegung, ihm über die Schulter zu schauen.
Sie starrte auf den Schirm, Angst schlich sich in ihre Gesichtszüge. »Was ist das?«
Er hatte nicht daran gedacht, dass sie kein Ycskrit lesen konnte. »Die Razalka. In einer Stunde ist sie hier.«
Ihre Angst wich spontaner Erleichterung. Dann grinste sie und warf ihm einen hochnäsigen Blick zu. »Du hörst nicht zu, was, Tivahr? Ich hab es dir schon mal gesagt. Niemals habe ich dich als ekelhaft bezeichnet.«
Er erinnerte sich. Aber andererseits kannte sie seine ausstehenden Erklärungen ja noch nicht.