19

Sie konnte sich einfach nicht überwinden, in diesem Kapitänssessel Platz zu nehmen. Noch nicht. Der Schmerz über den Verlust der Venture war noch zu frisch.

Aber die Anziehungskraft dieses Schiffs, einer Endurance der Kleintransporterklasse, höchstens ein paar Jahre alt, war schon verführerisch. Das Imperium präsentierte ihr diese Schönheit auf dem Silbertablett. Tivahr hatte sich klar ausgedrückt. Sie durfte das Schiff nach Abschluss der Operation behalten. Unabhängig davon, ob es ein Erfolg oder ein Misserfolg wurde.

Eine teuflische Belohnung für die Rückkehr ihres gelobten Commodores. Natürlich nur auszuzahlen, wenn sie am Leben blieb.

Der arme Dezi lag wohl immer noch irgendwo in Einzelteilen herum. Keine Spur von ihm zu sehen.

Sie fuhr mit der Hand über die Rückenlehne des Sessels. Hohe Lehne mit Kopfstützkissen, Bezug aus einem Material, das sich wie gewobenes Leder anfühlte. Kein Klebeband. Keine plumpen Punktschweißnähte, die die Armlehnen am Sitz festhielten. In der Konsole ein ultradünner Bildschirm, der auf Berührung sofort lautlos herausfuhr und eingeschaltet bereit stand.

Sie spürte Tivahr hinter sich. Er wartete auf eine Reaktion. Sie war den ganzen Weg hierher gespannt gewesen. Ein Weg, der sie durch die großen Frachtareale Degvars geführt hatte, wobei er bewusst die Markt- und Warenumschlagshallen umging und auch die Docks der Stegzarda. Ein Weg, bei dem sie drei Kontrollpunkte hatten passieren müssen.

Bis eben war sie noch davon ausgegangen, er würde sie zu einem einfachen, imperialen Frachtschiff führen. Jetzt musste sie sich regelrecht zwingen, nicht ein anerkennendes ›Verdammt noch mal!‹ auszustoßen.

Eine Endurance, ein erstklassiger Kleintransporter. Verdammt heißer Ofen.

Er fasste sie sanft am Ellenbogen und führte sie um den Sessel herum. »Setz dich.«

Seine Berührung schoss ihr wie Feuerwespen in die Adern, und sie zuckte zurück. »Moment noch.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und setzte die ausführliche Musterung der Kommandokonsole fort. Dann drehte sie sich nach rechts und betrachtete die Bildschirme des Kopiloten und die dahinterliegende Navigation.

Dies war eine richtige Brücke. Mit Platz, begehbarem Raum zwischen den Stationskonsolen. Nicht wie auf der Venture, deren Brücke eher einem größeren Cockpit glich.

Lebenserhaltung. Kommunikation. Waffen. In Bezug auf Letzteres konnte sie deutlich sehen, dass die Umbauten noch in vollem Gange waren. Kabel schlängelten sich über die Konsole und verschwanden in einem geöffneten Fach an der Unterseite.

Sie hörte, wie er hinter sie trat. Rasch drehte sie sich um, weil sie nicht noch mal seinen Atem in ihren Haaren spüren wollte und erst recht nicht seine Wärme in ihrem Rücken.

»Wem hast du das gestohlen?« Plötzlich fragte sie sich erschrocken, wie viele konklavische Crewmitglieder wohl ihr Leben hatten lassen müssen, als sie es zu verteidigen versuchten.

Er schüttelte den Kopf. »Ist nicht gestohlen.«

Oh ja, richtig. Das hatte sie vergessen. Während des Krieges hatte das Imperium jedem aufgebrachten Schiff den Stempel »Übertragenes Eigentum« aufgedrückt. »Okay, wer hat euch dieses Schiff gegen seinen Willen übertragen?«

Seine Lippen formten sich zu einem schmalen Grinsen. Er packte die Rückenlehne des Kapitänssessels, wirbelte ihn herum und stoppte ihn ab. »Niemand.«

Warum grinste er bloß so? Sie konnte beileibe nichts Lustiges daran finden, an einem Ort herumzustehen, an dem möglicherweise Landsleute von ihr ihre Freiheit bis zum bitteren Ende verteidigt hatten.

»Du glaubst wirklich, das ist eine normale Endurance C-Zwo? Trilby, Trilby.« Er schüttelte den Kopf. »Komm schon. Noch mal drei Minuten. Ich geb dir noch mal drei Minuten Zeit.«

Einen Moment lang kapierte sie nicht. Natürlich war das eine Endurance C-Zwo. Sie erkannte eine C-Zwo, wenn sie eine C-Zwo sah. Sie …

… ließ die Arme sinken und schaute sich erneut auf der Brücke um.

Dann stürmte sie von der Brücke den Korridor entlang. Tivahrs Stiefel donnerten ihr nach. Sie hörte sein Kichern. Verflucht!

Sie sprang die Rampe hinunter, ließ die Hand übers Geländer gleiten, packte am Ende rasch zu und ließ sich durch die Wucht ihres eigenen Körpers herumschleudern. Sie bückte sich unter die dicken Landegestelle und betrachtete den Bauch des Frachters. Die quadratischen Versorgungsventile, die rot markierten Treibstoffstutzen, die Dockkrampen. Alles wohlvertraut.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Sie tauchte auf der Steuerbordseite wieder auf und ließ ihren Blick über die Länge des Schiffs schweifen. Jetzt sah sie, was sie vorher übersehen hatte. Unterschiede. Es gab feine Unterschiede. Die Größe und die Anordnung der Platten an der Außenbordverkleidung. Die Fenster.

Sie trat ein paar Schritte zurück und entdeckte, dass die Bremsfahnen sich nicht befanden, wo sie hingehörten. Dann stolperte sie rückwärts gegen etwas Festes, aber Weiches, Warmes.

Tivahr schloss seine Arme um ihre Taille, zog sie an sich und lachte immer noch, dass ihm der Brustkorb bebte. Sie schlug mit der Faust halbherzig auf seine Hände in ihrer Bauchmitte. Sie war zu beeindruckt von dem Schiff, um sich ernsthaft über ihn aufregen zu können.

»Okay, also es ist keine Endurance C-Zwo«, stimmte sie zu. Sie lehnte den Kopf gegen seine Schulter, um besser sehen zu können. Das Schiff war nicht mal in Konklavien gebaut. »Was ist es also?«

Seine Stimme drang tief und sexy in ihr Ohr. »Ich würde es vielleicht als einen verbotenen, aber leidenschaftlichen Seitensprung bezeichnen. Verstehst du, es war einmal ein konklavischer Dasja-Frachter, der verliebte sich in ein imperiales Dasjon-Kampfschiff. Dies ist das Ergebnis ihrer Liaison.«

»Ernsthaft, Rhis. Wo hast du das Schiff her?«

Seine Arme zogen sich fester um sie. Seine Finger schlangen sich zwischen ihre. Plötzlich fiel ihr auf, was sie gesagt hatte. Sie hatte ihn nicht mehr Rhis genannt, seit sie herausgefunden hatte, wer er war. Seitdem war er Tivahr, vorzugsweise Captain Tivahr gewesen.

»Tivahr«, sagte sie warnend, mehr zu sich selbst als zu ihm. Sie verfluchte ihre Zunge und wünschte, ihr Verstand würde nicht jedes Mal stillstehen, wenn er in ihre Nähe kam. Ihr Körper jedenfalls stand dabei alles andere als still.

Sie wand sich nachdrücklich. Er musste sie loslassen, was er zögernd tat.

»Es wurde hier gebaut«, sagte er, als sie sich umdrehte. »Nein, nicht auf Degvar, aber auf einer Werft im Imperium, und ja, mit dem Ziel, einer Endurance C-Zwo zu gleichen. Verrückterweise haben es eure Militärs nie geschafft, die Fälschung zu entdecken, was mich in die Lage versetzt, sie einer Captain Elliot zu schenken.«

Jetzt wusste sie also, wie das Imperium und Tivahr verdeckte Einsätze auf konklavischem Hoheitsgebiet durchführten.

»Wie heißt sie?«

»Sie hatte schon viele Namen, aber von denen können wir natürlich keinen verwenden, wenn wir außerhalb dieser Zone herumgondeln wollen.«

Die gesiegelten IDs eines Schiffs zu wechseln war offenbar ganz selbstverständlich für Leute vom Schlage Tivahrs.

»Sie muss einen Namen haben.« Es wäre geradezu ein Frevel.

»Du bist der Captain. Die Ehre gebührt dir.«

Der Gedanke reizte sie sofort und alarmierte sie gleichzeitig. Was immer dies für ein Schiff war, es war überwältigend. Zu überwältigend für Trilby Elliots Geschmack.

Jagan hatte ihr Goldarmbänder, Seidenblusen und Luxusparfüms geschenkt. Tivahr schenkte ihr ein ganzes Schiff.

Und genau wie bei Gold, Seide und Parfüm würde sie auch dieses Geschenk zurückgeben müssen. Nur würde sie es diesmal ihr Leben lang bereuen.

Einen Augenblick lang, einen ganz kurzen, flüchtigen Augenblick lang keimte ein Name in ihrem Herzen auf. Ihre Kehle wurde trocken, sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, um die aufsteigende Feuchtigkeit wegzuwischen.

Sie starrte das Schiff an, eine Endurance C-Zwo, aber viel besser, mit Ausstattung und Möglichkeiten, die an der Grenze des Unfassbaren lagen.

»Shadows Quest«, sagte sie leise.

Das passte. Denn am Ende würde sie auch diesen Schatten verlieren.

Es war schon die zweite Nachricht, die sie von Jagan erhielt, seit sie sich einverstanden erklärt hatte, mit Tivahr zu arbeiten. Aber die erste, die hier auf der Shadows Quest bei ihr eintraf. Sie saß in ihrem hinter der Brücke gelegenen Büro – klein, aber ihr eigenes – und sah sich die Nachricht zweimal an.

Dann holte sie sich einen heißen Kaffee aus dem Replikator – ihrem Replikator – und nahm sich die Nachricht nochmals vor.

Jagan Grantforth wirkte richtig durcheinander, weil sie nicht mehr im Besitz und somit nicht mehr Captain der Careless Venture war. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du musst am Boden zerstört sein, Tril. Du bist allein. Ich weiß doch, was dir das Schiff bedeutet hat.«

Er wusste einen Scheißdreck. Er hatte nie einen Gedanken an die Venture verschwendet, es sei denn, es war darum gegangen, dass ihm die Matratze in ihrer Kabine nicht weich genug war.

»Lässt dich die Transportgesellschaft, für die du jetzt arbeitest, wenigstens die Bankkarten vom alten ins neue Schiff überspielen? Mach ihnen klar, wie nützlich deine jahrelange Erfahrung im Geschäft ist. Allein die ganzen Kürzel, die du kennst.«

Bankkarten? Die Bankkarten der Venture? Sie konnte für einen Augenblick nichts mit diesem Begriff anfangen, fragte sich, ob das ein Wortspiel sein sollte. Bankkarten? Bank, Karten, Daten, Datenkarten …

Datenpläne. Kartenpläne. Navigationspläne. Navigationskarten. Sternenkarten. Dateien. Datenbank.

Die Datenbanken mit den Dateien der alten Sternenkarten der Venture!

Sie stürmte aus dem Büro, nahm zwei Stufen auf einmal. Der Lift war vermutlich schneller, aber daran dachte sie jetzt nicht. Davon abgesehen schien ihr der Rückstoß der Laufschritte eher zusätzlich Kraft zu verleihen.

Tivahr war im Maschinenraum. Einem richtigen Maschinenraum. Zwei Techniker der Razalka und einer vom Degvar-Tower verrichteten in letzter Minute noch ein paar Handgriffe an den Hyperaggregaten und Schubkraftverstärkern. Geplante Startzeit war 0600 morgen früh. Dann würde sich die Shadows Quest mit amtlicher Zulassung in die Welt der Transportbranche einfügen.

Sie entdeckte ihn auf dem Boden kniend, wie er einen Datalyzer in einen Kabelschacht hielt. »Vad«, rief er bestätigend dem Techniker in Grau am anderen Ende der Konsole zu. »Das Signal ist gleichmäßig.«

Sie bemerkte kaum, dass sie seine zafharische Meldung auf Anhieb verstanden hatte, hockte sich neben ihn und packte ihn am Arm. »Ich bin es gar nicht. Es ist mein Schiff!«

Er setzte sich auf seine Fersen und starrte sie an.

Ihr war ganz schwindelig vor Erleichterung. Wie dumm von ihr, nicht gleich darauf zu kommen.

»Ich bin es nicht«, wiederholte sie. »Jagan. Er ist nicht und er war nie an mir interessiert. Es ist das Schiff. Die Venture. Er hat sich in der letzten Nachricht verplappert, weil er fürchtet, ich hätte die Sternenkarten-Datenbanken geschrottet.«

Die Sternenkarten-Datenbanken, die nicht nur lückenlos Trilbys sämtliche Aufträge und Routen dokumentierten, sondern auch die aller anderen Kapitäne, die das Schiff in den vergangenen fünfundsechzig Jahren kommandiert hatten. Die ganzen alten Strecken, die keiner mehr flog, weil die Leuchttürme überholt waren.

Keiner, außer vielleicht den ’Sko.

Tivahr folgte ihr in den Fahrstuhl und drei Ebenen höher in ihr Büro. Sie drehte ihm den Bildschirm zu. Er hockte auf der Ecke des Schreibtisches, nippte am Kaffee, der eigentlich ihrer war, und folgte der Wiedergabe der Nachricht.

»Tatsächlich. Würde es ihm darum gehen, dich zurückzugewinnen, würde er einfach nur ständig wiederholen müssen, wie leid ihm alles tut.«

Ja, du kennst dich aus und weißt, wie man solche Spielchen spielt, nicht wahr? Sie beugte sich im Stuhl vor. »Jagan wusste nicht mal, dass ein Schiff überhaupt Navigationsdaten als Karten anlegt. Er kann ja nicht mal Bankdaten von Datenbanken, geschweige denn von Sternenkarten unterscheiden. Glaub mir. Das hat ihm irgendjemand gesteckt. Er hat doch von Kürzeln gesprochen. Was sollen denn Kürzel sein? Tastaturbefehle, Abkürzungen? Er hat alles falsch nachgeplappert, weil er nichts davon versteht. Er ist ein Sesselfurzer, bei allen Göttern!«

»Seiner Familie gehört GGA …«

»Und trotzdem ist er ein Sesselfurzer. Er war nicht beim Militär, er hatte keine einzige Flugstunde, hat nie als Händler gearbeitet oder irgendwelche Erfahrungen im aktiven Transportgeschäft gesammelt. Er düst mit der Privatjacht seiner Eltern zu den Warenlagern und zählt das Geld. Er würde eine Sternenkarte nicht mal erkennen, wenn sie ihn in die Nase beißt.«

Sie sah, wie er nachdachte. Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Sie fragte sich, ob er zum selben Schluss kommen würde wie sie. Sie taugte nicht als Köder, weil weder Jagan noch die ’Sko an ihr interessiert waren. Das Imperium konnte sie endlich laufen lassen. Wenn schon nicht mit der Shadows Quest – sie ging nicht davon aus, dass sie ihr das Schiff überlassen würden, wenn die Operation gar nicht erst stattfand –, dann wenigstens mit einer einfachen Fahrkarte nach Port Rumor. Dort würden eine Menge Leute bereit sein, ihr bei der Suche nach Carina zu helfen.

Doch er zerschlug ihre Hoffnung mit dem nächsten Satz. »Wir können doch die Sternenkarten der Venture auf dieses Schiff übertragen. Das kostet uns höchstens noch mal sechs bis acht Stunden.« Er schlug sich die Hand an die Hüfte. »Zum Teufel, warum hab ich nicht gleich daran gedacht?«

»Aber die Datenbanken sind hinüber.«

»Die Daten der einzelnen Sternenkarten und der dazugehörigen Navigationsdateien schienen weitgehend in Ordnung zu sein. Nur die Leseprogramme und ein paar Datenkonverter sind hinüber. Es ist alles ein großes Durcheinander.« Er stellte ihre leere Tasse ab, zog einen Lichtstift aus der Jackentasche und tippte sich mit dem Stiftende gegen die Lippen, während er laut überlegte. »So könnten wir sie drankriegen. Wie laden die Daten so hoch, dass sie herankommen können. Aber ich baue einen Code ein, der uns jede Transaktion zurückverfolgen lässt. Dann können wir sehen, wo die Daten hingehen und zu wem.«

Er drehte den Bildschirm zurück zu ihr. »Bereite eine Nachricht vor, die du in ein, zwei Stunden abschickst. Schwärme ein bisschen von deinem neuen Arbeitgeber, Vanur-Transporte, der mehr als glücklich war, die alten Sternenkarten der Venture in dein neues Schiff integrieren zu dürfen. Und dich dafür auch noch fürstlich entlohnt hat.«

Er grinste, aber in seinem Lächeln lag etwas Animalisches.

Sie sprach ihre Vermutung aus. »Die ’Sko sind scharf auf diese alten Strecken, weil sie auf ihnen ungesehen in Konklavien ein- und ausfliegen können. Und irgendwer bei GGA unterstützt sie nach Kräften.« Sie mochte selbst nicht so ganz glauben, was sie da sagte. GGA und ’Sko arbeiteten zusammen. Hatte Carina oder Vitorio davon gewusst? Vitorio hatte durch Chaser schon Kontakt zur GGA gehabt, lange bevor Trilby Jagan kennenlernte. Sie schob die unschönen Gedanken zur Seite.

Tivahr schien ihr Unbehagen nicht zu entgehen. »Ich hatte schon lange den Verdacht, aber jetzt haben wir den Beweis.«

»Aber warum dann die ganzen Überfälle auf Rinnaker …« Sie schüttelte den Kopf. Dumm, dumm, dumm. Sie wusste ja längst warum, es war ihr nur noch nicht aufgefallen.

Sie beantwortete sich die Frage selbst, bevor er es tun konnte. »Rinnakers Schiffe sind zum Teil noch älter.« Sie zeigte mit dem Finger auf ihn, als wollte sie ihm eine Standpauke halten. »Die sind seit mehr als achtzig Jahren im Geschäft. Länger als Norvind und GGA. Nur Herkoid war noch länger dabei.« Über hundertzwanzig Jahre. Und ihre Schiffe, sofern sie noch flogen, behüteten in ihren Datenbanken alles aus dieser Zeit. »Seit Herkoid Pleite gemacht und Rinnaker ihre Schiffe übernommen hat, verfügt Rinnaker also über Datenbanken mit den ältesten Sternenkarten der Branche.«

»Die die ’Sko haben wollen. Und GGA will sie auch.« Tivahr steckte den Stift wieder in die Jackentasche. »Also bringen sie Rinnakers alte Frachter auf, um sie als Schrott verkaufen zu können.«

»An die GGA. Die sich erkenntlich zeigt, indem sie ihnen neue Schiffe zu günstigen Sonderkonditionen verkauft.« Langsam fügten sich die Puzzleteile in Trilbys Gedanken zusammen. Aber nicht alle. »Wenn GGA aber Rinnakers Sternenkarten hat, was wollen sie dann noch mit meinen?«

»Wir müssen uns diese Daten deshalb sehr eingehend anschauen.« Er rutschte vom Schreibtisch, drehte sich um, stützte die Handflächen auf die Tischplatte und sah sie an. »Du hast für Herkoid gearbeitet, war doch so?«

Sie nickte. »Genau wie Vitorio, Carinas Bruder.«

»Habt ihr jemals irgendwelche Navigationsdaten von ihren Schiffen mitgenommen?«

Oh, Göttin. Sie schloss für einen Moment die Augen. »Shadow schon.«

»Shadow?«

Sie warf eine Hand in die Luft. »Der Namenspatron dieses Schiffs. Ich hab sie nach ihm benannt. Shadow war ein Genie. Schon als Kind konnte er sich Zusätze und Zugänge für das Zeug austüfteln, was Leute wie du so programmieren. Wir sind alle zusammen aufgewachsen: Carina, Vitorio, Shadow, Chaser und ich.«

»Und die Herkoid-Datenbanken bekam er von dir oder Vitorio?«

»Nein. Er arbeitete zusammen mit Vitorio und mir für Herkoid auf einem Langstreckenfrachter. Dort starb er auch. Bevor er getötet wurde, hatte er angefangen, alle möglichen Daten und Karten und Banken und Gott weiß was von Herkoid zu kopieren. Er hatte ein total ramponiertes Datapad. In seinen persönlichen Einträgen hat er mich als seine Schwester geführt. Herkoid händigte mir nach seinem Tod seine Sachen aus, inklusive des Datapads.«

»Und die Daten?«

»Als ich die Venture bekam, hab ich alles in ihre Datenspeicher überspielt. Nicht nur die Datenbanken von Herkoid, sondern alles. Alles, was Shadow sich jemals ausgedacht hat, jedes Programm, das er entworfen hat. Es gab beim Überspielen ein paar Fehlermeldungen –«

»Ich habe sie gesehen.«

Natürlich, zum Teufel, das hatte er. Manchmal fühlte sie sich ihm gegenüber geradezu nackt. In mehr als nur einem Sinne … Schlechte Wortwahl, Trilby-Girl. »Der Hauptfehler lag in seinem Programm. Ein paar meiner Diagnosetools lagen ebenfalls falsch. Also erweiterte ich sie und brachte sie auf den Stand, der nötig war. Und die Programme, die er nicht mehr fertig schreiben konnte, die habe ich vollendet.«

»Und Jagan wusste davon?«

»Er wusste, dass wir für Herkoid gearbeitet haben.« Sie dachte scharf nach. »Er hat Vitorio kennengelernt. Und Chaser. Er hat sicher so manche alte Geschichte mitgehört. Üblicherweise spuckte immer irgendeiner von uns große Töne über Shadow. Was er alles gemacht hat. Was alles aus ihm hätte werden können. Aber da war nichts dabei, was Jagan als brauchbare Informationen hätte verwerten können.«

»Aber irgendjemand anders schon.« Er stieß sich von der Tischplatte ab und rieb mit der Hand übers Gesicht. »Und irgendwer will diese Daten immer noch haben. Jagan ist nur der Link. Schick ihm deine Nachricht über diese wundervollen Vorgesetzten von Vanur-Transporte. Ich bin sehr gespannt, wie er darauf reagiert.«

Er blieb stehen, als die Tür zur Seite glitt. »Und nebenbei, informier doch Jagan Grantforth, dass weder dein Herz gebrochen ist, noch du allein oder einsam bist. Sag ihm, dein Verlobter passt sehr gut auf dich auf.«

»Mein Verlobter?« Einen Moment lang dachte sie, er habe vielleicht Dallon Patruzius diesen Job zugedacht. Oder, oh Göttin, Mitkanos. Dann sah sie sein verschlagenes Grinsen und wünschte, sie könnte den Bildschirm vom Schreibtisch reißen und ihm ins Gesicht schleudern.

»Ja, dein Verlobter. Rhis Vanur, Firmenboss von Vanur-Transporte.«

Sie sprang auf. »Das bist du nicht!«

»Hab ich ganz vergessen, dir von meiner Karriere zu erzählen? Gestern ein einfacher Lieutenant, heute Boss der eigenen Firma. Harte Arbeit zahlt sich eben aus.« Er zuckte mit den Achseln, dann duckte er sich schnell, weil eine leere Kaffeetasse auf ihn zuflog.

Die Ruhe im Konferenzraum ging regelrecht unter die Haut. Die Deckenlampen waren gedimmt worden, um die hervorgehobenen Daten auf der Holokarte besser sehen zu können, die sich über dem großen Tisch ausgebreitet hatte. Rhis schlich um den Tisch herum und lugte auf Jankovas Datapad. Sie war mit Demarik verlinkt. Sein Erster Offizier hatte sich wieder auf seinem angestammten Platz am anderen Ende der Tischlänge niedergelassen. Der Platz, auf dem sich bei ihrer letzten Sitzung Kospahr gefläzt hatte.

Aus irgendeinem Grund hatte Rhis glatt vergessen, den Minister zu dieser späten Sitzung zu bitten. Seltsamerweise hatten auch Demarik und Jankova nicht daran gedacht. Allerdings hatten sie sich auch in erster Linie darum zu kümmern, das neue Team in die Pflicht zu nehmen: Mitkanos, Rimanava und Patruzius. Als der Major der Stegzarda den Lapsus spontan mit einem unverhüllt zufriedenen Grinsen quittierte, tauschten alle Blicke aus und zuckten mit den Achseln. Gar keine Frage, sie hatten einfach alle zu viel zu tun gehabt. Ein erklärliches Versehen. Man verständigte sich darauf, dass der Minister zu dieser späten Stunde sicher nicht mehr behelligt zu werden wünschte.

Sie hatten viel geleistet in den vergangenen vier Tagen. Die Übertragung der Datenbanken zur Shadows Quest und das Zuordnen der Sternenkarten hatte sie lediglich sechs zusätzliche Stunden gekostet. Vanur-Transporte würde – vorausgesetzt, es traten keine weiteren unvorhergesehenen Verzögerungen auf – morgen um 1200 an den Start gehen. Mit der Jungfernfahrt des Schiffs Shadows Quest, am Ruder Captain Trilby Elliot.

Mit Captain Khyrhis Tivahr – Rhis Vanur – als Commander.

Er blieb hinter Trilbys Stuhl stehen und strich eine abgeknickte Ecke ihres Jackenkragens glatt. Sie entzog sich ihm, aber nicht mehr so abrupt wie gestern, als er ihr seine Arme um die Taille geschlungen hatte. Oder am Tag davor, als er ihr die Hand auf die Schulter gelegt und ihr Gesicht berührt hatte.

Ein Schritt nach dem anderen. Er würde sie zurückerobern. Eine kleine Berührung hier, ein weiteres Schrittchen da. Alles zu seiner Zeit.

Er wollte damit außerdem eine Botschaft senden. Nicht an Demarik oder Jankova, Cosaros oder Bervanik. Demarik und Jankova hatten schon gewusst, was Trilby ihm bedeutete, noch ehe er die Razalka wieder betreten hatte. Sein Erster Offizier erhielt eben öfters Informationen, die sonst niemand erhielt.

Und Jankovas Team folgte ihren Vorgaben. Wobei durchaus alle selber einen wachen Verstand besaßen und Augen im Kopf hatten.

Ebenso wie Doc Vanko, der Rhis bei seinem ersten Auftauchen nach Trilbys Einlieferung auf der Krankenstation mit den Worten begrüßt hatte: ausgezeichnete Wahl.

Sie kannten sich lange genug, um weitere Erörterungen überflüssig zu machen.

Nein, die Nachricht, die er hier aussandte, richtete sich an zwei Adressen. Die Erste war Trilby. Er würde nicht aufgeben. Er würde dranbleiben und warten, auf sie und auf das, was sie miteinander haben konnten.

Die zweite waren Mitkanos und Patruzius, die ihr am Tisch gegenüber saßen. Sie gehört mir. Ihr solltet nicht mal daran denken, an diesem Umstand zu zweifeln.

Er bereute es bereits, Patruzius den Eintritt ins Team gewährt zu haben. Denn die lässige Kumpelhaftigkeit, die den jungen Versorgerkapitän im Umgang mit den Frachterleuten auf den Docks als Naturtalent auswies, machte ihn auf dieser Mission zum naturtalentierten Flirtpartner für Trilby. Und Farra Rimanava. Aber um Rimanava machte sich Rhis keinen Kopf.

Er ging auch nicht davon aus, dass Mitkanos oder Trilby seine Bauchschmerzen verstanden hätten. Und jetzt hatten sie sich sowieso erst mal alle auf den geplanten Abflug um 1200 zu konzentrieren – nur noch gut zehn Stunden.

»Da steckt irgendwas in den Datenbanken von Herkoid, daran gibt es keinen Zweifel.« Mitkanos fuchtelte auf die gleiche Art mit dem Finger zur Holokarte, wie Trilby ihm vorhin mit dem Finger vor der Nase herumgefuchtelt hatte. Es ging ja auch um die Beantwortung der gleichen Frage.

»Vad! Yasch – ja, ich habe zusätzlich die Statistiken von Rinnaker überprüft.« Osmar nickte Trilby kurz zu, als er von Zafharisch zu Standard wechselte. »Sie beziehen sich alle auf eine Herkoid-Route. Hier, das spart Ihnen Zeit.« Osmar drückte auf sein Pad und schickte seine Zusammenfassung an Mitkanos’ Team.

Dies war das erste Mal, dass sich Mitkanos Team einen Gesamtüberblick verschaffen konnte. Rhis war gespannt auf ihre Beiträge, besonders auf den von Patruzius, auch wenn er schon im Vorfeld abgeneigt war, seinen Einlassungen zuzustimmen.

Patruzius war vor fünf Jahren von der Handelsflotte zur Kriegsflotte gestoßen. Davor hatte er für Fennik Import-Export mit Sitz auf Saldika gearbeitet und nach Kriegsende ein paar Mal Port Rumor angeflogen.

Auch Patruzius war im Flyboy gewesen. Was Rhis, als Patruzius es gestern auf der Brücke erwähnte, mehr überrascht hatte als Trilby. Angeblich aber war er nie zur selben Zeit wie Trilby in Neadis Pub gewesen.

»Das ist Herkoids Schwarze-Sterne-Linie.« Trilby starrte auf Osmars Zusammenfassung auf dem Bildschirm. Rhis stützte sich auf ihre Rückenlehne und las über ihre Schulter mit.

»Strezza ebohr«, raunte er ihr ins Ohr. Er wusste, dass sie mehr und mehr von seiner Sprache lernte. Das wollte er auch. Sie würde sie brauchen.

Trilby tippte auf ihr Pad. Die Handelsroute baute sich flimmernd auf der linken Seite der Holokarte auf, bis sie sich stabilisierte. Sie zog mit einem Lichtstift die Route nach. Sie führte von Marbo in ein leeres Gebiet im Yanir-Quadranten. Imperiales Gebiet.

Die Strecke müsste doch irgendwohin führen. Rhis setzte sich, rief Trilbys Datei auf und überprüfte die Koordinaten. Nein, alles richtig. Außer, dass es nur einen Punkt A gab. Keinen Punkt B. Keine Station, keinen Planeten, nicht mal eine Orbitalkreuzung mit einer anderen Handelsroute.

Er hörte, wie Rimanava und Cosaros das Gleiche diskutierten. Glücklicherweise auf Standard, Trilby zuliebe.

»Mister Demarik, wie alt sind die ältesten Sternenkarten, die wir an Bord der Razalka haben?«

Demarik sah ihn quer über den Tisch hinweg durch ein Gewirr bunter Holostrahlen an. »Fünf Jahre die in unseren Banken, und zehn Jahre die im Archiv, Captain.«

Zur Hölle. Manchmal war er besser, als gut für ihn war. Herkoid hatte den Betrieb vor fünfzehn Jahren eingestellt, aber diese Karten sahen aus, als wären sie mindestens dreißig Jahre alt, wenn nicht noch älter.

»Wir haben ältere als die auf der Nalika Gemma.« Dallon Patruzius beugte sich vor und sah ihn zwischen den Köpfen von Rimanava und Mitkanos hindurch an, die gerade irgendetwas auf ihren Pads verglichen. »Lassen Sie mich an den Bordcomp, und ich schau mal, was ich für Sie zutage fördere.«

Farra Rimanava hielt ihn am Arm zurück, als er aufstehen wollte. »Aber die Towerkontrolle auf Degvar …«

»… muss wirklich nicht wissen, was wir hier tun.« Patruzius stand auf.

Rhis nickte zustimmend. Verdammt! Der Mann war gut.

»Sie können mein Büro nehmen, Captain Patruzius«, sagte Jankova und erhob sich, um ihn zu begleiten.

»Dallon«, erwiderte er grinsend.

Rhis wartete, bis sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, bevor er Demarik ansah. Sein Erster Offizier zuckte nur die Achseln. Verdrossen wandte sich Rhis wieder den Daten auf seinem Pad zu.

Sein Combutton piepste. Er antwortete mit einem Druck auf den Knopf. Der Schirm baute das Bild des wachhabenden Offiziers auf. »Captain, eine Depesche, Priorität Delta eins, aus dem Büro von Admiral Vanushavor.«

»Legen Sie sie rüber.« Er mochte keine Delta-eins-Prios und nahm sie normalerweise in seinen Privaträumen entgegen, wo er lautstark und nachhaltig fluchen konnte, ohne die Crew zu verstören. Andererseits nahm er nicht wirklich an, dass er einen der im Konferenzraum Anwesenden sonderlich überraschen konnte, würde er sich freie Luft machen.

»Schlechte Nachrichten, Tivahr. Vorläufig noch unbestätigt.« Neville Vanushavor verengte die dunklen Augen. Er trug seine Ausgehuniform, wahrscheinlich hatte man ihn aus irgendeiner schicken, illustren gesellschaftlichen Zusammenkunft abgerufen. Medaillen blitzten auf der Brust, Goldkordeln schmückten die linke Schulter. Er war Ende sechzig, steckte aber immer noch voller Energie und Lebenskraft. Und stand immer noch der gesamten imperialen Flotte vor.

»Unsere Quellen wollen erfahren haben, dass es ein ›offenes Handelsabkommen‹ zwischen den Beffa-Kartellen und der konklavischen Regierung gibt. Ich weiß, die Gerüchte kennen wir bereits. Ich teile Ihnen das noch mal mit, weil ein ganz bestimmter Name fiel. Garold Grantforth.«

Rhis sah, wie Trilby sich im Stuhl versteifte. Der Admiral sprach zafharisch. Wie viel sie verstanden hatte, konnte er nur raten. Aber sie hatte in den letzten Tagen weiter an ihrem Vokabular gearbeitet. Der Name Grantforth allerdings dürfte in jeder Sprache zu verstehen sein.

»Ich schicke Ihnen mit dieser Depesche eine Kopie des Vorgangs. Dann muss ich mich jetzt nicht in Details verlieren.

Vielleicht nur so viel im Moment. Welchen Zeitplan auch immer Sie für den Beginn Ihrer Mission vorgesehen haben, Sie müssen ihn straffen. Umgehend. Nichts ist schlimmer für uns als ein ›offenes Handelsabkommen‹ mit den ’Sko. Haben sie sich erst einmal Konklavien einverleibt, können sie auch uns verschlingen.«

Der Bildschirm zeigte am Ende der Depesche das kaiserliche Siegel des Hauses Vanurin, bevor er schwarz wurde.

Schweigen im Raum. Rhis sprang auf und deutete mit dem Daumen zur Tür. »Holen Sie Jankova«, befahl er Demarik, der ebenfalls aufgestanden war.

Er schaute zu Trilby hinunter. Ihre Augen wirkten dunkel und blickten argwöhnisch, ihr Mund drückte Missmut aus. »Hast du alles verstanden?«

»Einiges. Eher zu viel. Grantforth hält den Beffa-Kartellen die Tür auf.«

Er zeigte auf die Holokarte. »Wenn Jankova und Patruzius wieder hier sind, gehen wir noch mal alles durch. Dann entscheiden wir, ob wir den Countdown vorverlegen.«

»Wir können in zwei Stunden so weit sein«, sagte Mitkanos und blickte kurz zu Rimanava.

»Zwei Stunden«, bestätigte Trilby.

Rhis zog die Luft scharf ein und unterdrückte das ungute Gefühl, das ihm im Magen aufstieg. Das war zu eilig, zu bald. Er war sich so sicher gewesen, Grantforth würde warten, bis sich sein kleiner Neffe wieder mit Trilby traf, um an die Herkoid-Sternenkarten zu gelangen, hinter denen er so beharrlich her war.

Aus irgendeinem Grund hatte er offenbar seine Meinung geändert. Rhis kam nicht dahinter, warum. Ein Zustand, den er überhaupt nicht leiden konnte.