22
„Mach die Augen bitte nicht auf, du könnest wieder ohnmächtig werden.”
Das waren die ersten Worte, die zu Lissianna durchdrangen.
Ihre Lider hatten geflattert, als sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, aber jetzt drückte sie sie fest zu und holte tief Luft. „Greg?”
„Ja.”
„Bist du rechts von mir?”, fragte Lissianna, obwohl sie genau wusste, dass er sich in der Richtung befand, aus der seine Stimme kam. Sie stellte die Frage nur, um ihn noch einmal sprechen zu hören. Sie war nicht ganz wach gewesen, als er zuerst gesprochen hatte, und das Wort „Ja” war zwar nichts, woraus man irgendetwas mit Sicherheit schließen konnte, aber Lissianna fand, dass seine Stimme ein wenig seltsam geklungen hatte.
„Ja, ich denke, das macht mich zu deiner rechten Hand.” Den Worten folgte ein gezwungenes Lachen. Sie nahm an, dass er die Zähne zusammengebissen hatte. Was ihr wiederum sagte, dass er schreckliche Schmerzen haben musste.
Sie drehte den Kopf nach links, schlug die Augen auf und schaute hinaus in einen sonnigen Hof. Es gab keine Anzeichen von Vater Joseph oder von Dwayne, und Lissianna war sicher, dass sie sich im Augenblick allein im Wintergarten befanden.
Als sie den Kopf ein wenig drehte, konnte sie sehen, dass sie an der einzigen nicht gläsernen Wand das Raumes saß. Ihre Arme waren über ihren Kopf hochgezogen worden und ihre Handgelenke in Handschel en gefangen. Sie war an die Wand gekettet.
„Wie im mittelalterlichen England”, murmelte sie, dann fragte sie Greg: „Bist du auch an die Wand gekettet?”
„Ja.”
Lissianna nickte. „Was ist denn passiert? Warum haben sie uns nicht umgebracht?”
„Na ja, dass du beim Anblick von Blut ohnmächtig wurdest, hat sie verwirrt, denn das passt nicht zu ihrem Bild von einem großen bösen Vampir”, sagte er verächtlich. „Jetzt wissen sie nicht, was sie tun sollen. Vater Joseph hatte einen Wutanfall. Er wusste nicht, was er machen sollte, aber er musste unbedingt gehen und konnte sich nicht die Zeit nehmen, die er für angemessen für unseren Fall hielt. Also beschloss er, uns anzuketten, bis er mit diesem Notfall im Obdachlosenheim fertig ist.”
„Du meinst, sie glauben nicht mehr, dass wir Vampire sind, und sind trotzdem verschwunden und haben dich verwundet und blutend zurückgelassen?”, fragte Lissianna erstaunt.
„Ja, hm, sieht ganz so aus”, sagte Greg, und Lissianna war nun überzeugt, dass er die Zähne beim Sprechen zusammenbiss.
„Dein Vater Joe ist nach vorn gestützt, um mir zu helfen, nachdem du ohnmächtig geworden warst. Er hat mir das Hemd aufgerissen und angefangen, das Blut wegzuwischen, dann hatten er und Dwayne einen Streit, ob sie einen Krankenwagen rufen sollten oder nicht. Vater Joseph bestand darauf, dass sie es tun sollten, ich glaube, er hat uns die Geschichte abgenommen. Dwayne wollte es nicht er hatte Angst, er käme ins Gefängnis, weil er mich angeschossen hat. Vater Joseph hat ihn schließlich überredet anzurufen, dann hat er sich wieder umgedreht, um sich weiter um meine Wunde zu kümmern und festgestellt, dass sie kleiner geworden war. Er sagte Dwayne, er solle auflegen.”
„O je”, murmelte Lissianna.
„Ja”, stimmte Greg mit einem müden Seufzen zu. „Er war aufgeregt, weil die Silberkugel mich nicht getötet hatte.... und da wir gerade davon sprechen, die Kugel kam raus, während sie sich stritten. Wie kann das.... ”
„Nanos betrachten sie als einen Fremdkörper und setzen alles daran, sie wieder auszustoßen.”
„Unglaublich.” Er seufzte.
„Nicht, nicht ganz. Der Körper tut das selbst bei Normalsterblichen mit Splittern und solchen Dingen.” Sie blickte wieder zu den Ketten hoch. „Sie haben also vor, uns zu erledigen, wenn Vater Joseph zurückkommt?”
„Ja.” Er lachte atemlos. „Die gute Nachricht ist, Vater Joseph hat das Stück Holz hereingebracht, von dem er sprach, und Dwayne schnitzt jetzt einen Pflock daraus; also werden wir nicht aufeinander warten müssen. Wir können gemeinsam gepfählt werden, wenn das weiterhin ihr Plan ist.”
„Verdammt”, flüsterte Lissianna.
„Genau das finde ich auch”, stimmte Greg zu. Er schwieg, und sie glaubte, ein Stöhnen zu hören, bevor er es unterdrücken konnte. Sie machte sich schreckliche Sorgen und schloss die Augen, drehte den Kopf zur Seite, legte ihn in den Nacken und öffnete sie vorsichtig. Sie atmete in einem kleinen Seufzen aus, als sie die Wand und die Glasdecke über sich sah. Dann holte sie wieder tief Luft und senkte den Blick, bis die Oberseite von Gregs Kopf in Sicht kam.... dann seine Stirn, seine Augen, seine Nase, sein Mund. Lissianna hörte auf, sobald sein gesamtes Gesicht in ihrem Blickfeld lag, denn sie wusste, wenn sie nur ein Tröpfchen Blut erblickte, würde sie wieder ohnmächtig werden.
Jetzt, da sie ihn gesehen hatte, bereute sie beinahe, dass sie ihn angeschaut hatte. Seine Schusswunde und die Sonne bewirkten, dass es Greg sehr schlecht ging. Er lehnte an der Wand wie sie, hatte aber seinen Kopf daran gelehnt, als fiele es ihm schwer, ihn aufrecht zu halten. Er hatte die Augen geschlossen, und sein Gesicht war so blass, dass es beinahe grau aussah. Es war auch angespannt von Schmerzen. Er brauchte unbedingt Blut und litt ganz schrecklich.
Da er nicht wusste, dass Lissianna ihn ansah, holte er tief und vorsichtig Luft, und es gelang ihm, mit fester Stimme zu sagen:
„Vielleicht auch nicht. Vielleicht pfählen sie mich, aber nicht dich.
Als er ging, wusste Vater Joseph nicht, was er tun sollte. Sie glauben, dass ich ein Vampir bin, sind aber nicht sicher, was sie von dir halten sollen. Sie haben darüber nachgedacht, ob du vielleicht ein Neuling bist und deshalb ohnmächtig wurdest, als du das Blut gesehen hast. Vater Joe erwähnte, wenn das der Fall sei, würdest du vielleicht in einen normalen Zustand zurückkehren, wenn ich vernichtet würde.”
„Oh.” Lissianna spürte, wie ihr Herz sich zusammenzog, als er aufhörte zu reden und sich gegen die Schmerzen auf die Lippe biss. Dieser dumme Mann versuchte, tapfer zu sein und ihr nicht zu zeigen, wie sehr er litt. Wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre, hätte sie die halbe Stadt zusammengeschrien und fürchterlich gejammert. Lissianna hatte nicht viel für Schmerzen übrig.
Sie kam zu dem Schluss, dass sie sie beide befreien musste, spähte nach oben und zog versuchsweise an den Ketten, mit denen ihre Arme an der Wand befestigt waren, dann sagte sie:
„Ich bin überrascht, dass Dwayne nicht hiergeblieben ist, um Wache zu halten.”
„Das tat er eine Weile”, sagte Greg. „Er saß hier und schnitzte eine halbe Stunde grinsend an seinem verdammten Pflock, aber dann wurde es ihm irgendwie ungemütlich, und er ist gegangen.
Ich glaube, er schnitzt vor dem Haus weiter, wo er auf Vater Joseph wartete.”
„Es wurde ihm ungemütlich?”, fragte Lissianna.
Greg lachte kurz und harsch. „Das hatte vielleicht etwas damit zu tun, dass ich ihm androhte, ihm das Herz aus der Brust zu reißen und es zu verschlingen.”
„Was?”, fragte sie mit einem ungläubigen kleinen Lachen.
„Na ja, ich hatte Schmerzen, war sehr schlecht gelaunt und verärgert darüber, dass sie keinen Krankenwagen gerufen hatten, als sie bemerkten, dass die Wunde schrumpfte”, entschuldigte Greg sich, dann fügte er hinzu: „Und dieser Idiot stellte die dämlichsten Fragen.”
„Welche denn?”, fragte Lissianna in der Hoffnung, ihn von seinen Schmerzen abzulenken.
„Er fragte mich, wie es ist,es mit einer VampirTussi zu treiben’.
Und ob ein Mann,besser einen hochkriegt’, wenn er ein Vampir ist.” Greg schüttelte angewidert den Kopf. „Der Kerl ist so ein widerwärtiger Jämmerling! Ich kann nicht begreifen, dass du ihn gebissen hast.”
Bevor Lissianna antworten konnte, fragte er: „Es war doch nicht, wie wenn wir.... ich meine, wenn du mich.... ” Er ließ den Satz in der Luft hängen und rutschte ein wenig hin und her, nur um schmerzerfüllt das Gesicht zu verziehen.
„Es war nicht so, wie dich zu beißen”, sagte Lissianna sanft, als sie erkannte, dass er eifersüchtig war. Al ihre Bisse hatten mindestens Küsse beinhaltet und oft erheblich mehr; sie war also nicht vollkommen überrascht, dass er sich fragte, ob sie sich immer so nährte.
„Ich habe Dwayne nie geküsst. Tatsächlich gehört Küssen für mich nicht dazu, wenn ich mich nähre, Greg. Du warst ein besonderer Fall “, informierte sie ihn, dann erinnerte sie sich, dass Dwayne tatsächlich versucht hatte, sie zu küssen. Sie hatte nur nicht darauf reagiert. Achselzuckend tat sie das als unwichtig ab und fuhr fort: „Und da er ein so dämlicher Idiot ist, habe ich nicht mallein schlechtes Gewissen, dass ich ihn gebissen habe.”
Greg gab ein gepresstes Lachen von sich, dann verzog er wieder schmerzerfüllt das Gesicht und musste eine Minute abwarten, bevor er sagen konnte: „Das kann ich gut nachvollziehen.
Mir würde es tatsächlich auch überhaupt kein bisschen leidtun, ihn gebissen zu haben.”
„Vielleicht bekommst du ja noch die Gelegenheit dazu”, murmelte Lissianna, wandte den Blick wieder den Ketten zu und dachte nach. Wenn sie sie aus der Wand reißen könnte, könnte Dwayne Gregs Mittagessen sein. Blutarm oder nicht, sie hoffte, dass er zumindest ein wenig Gregs Unbehagen lindern und ihm genug Kraft zu einer Flucht verleihen könnte. Lissianna würde dann nach Hause gehen und ihre Mutter und die anderen hierher zurückschicken. Sie konnten Dwaynes Erinnerung löschen und daraufwarten, dass Vater Joseph zurückkehrte, und sich auch um ihn kümmern. Da sie Lissianna selbst fürchteten, würde sie es nicht selbst tun können, aber Dwayne und Vater Joseph kannten ihre Mutter, Tante Martine oder Onkel Lucian ja nicht.
„Ich nehme an, das bedeutet, dass ich jetzt arbeitslos bin. Ich kann nicht mehr im Obdachlosenheim arbeiten”, sagte Lissianna, um Greg von seinen Schmerzen abzulenken. „Das beendet dann auch die Sorgen um unsere Stundenpläne.”
„Ja. Das ist wahr.” Greg lachte rau, dann hatte er einen Hustenanfall.
„Kannst du es noch ertragen?”, fragte sie besorgt, als der Anfall vorbei war.
„Ja. Ich habe nur ein Kribbeln im Hals. Ich brauche etwas zu trinken. Ich fühle mich so ausgetrocknet”, beschwerte er sich unglücklich.
Lissianna kniff die Lippen zusammen. Sie wusste, dass es an den Nanos lag, die mit unglaublicher Geschwindigkeit Blut saugten und von überall her im Körper Flüssigkeit nahmen, um sich Blut für ihre Zwecke beschaffen zu können. Das sagte sie Greg allerdings nicht; stattdessen konzentrierte sie sich auf die Ketten, die sie an der Wand festhielten.
Es gab eigentlich nur eine einzige lange Kette, erkannte sie. Sie führte von einem ihrer Handgelenke zum anderen und war dann durch einen Ring gezogen worden, der sich in der Wand befand.
Lissianna betrachtete diesen Ring interessiert und stellte fest, dass er offenbar aus einem einzigen Metallstück bestand, das zu einem Kreis geformt war, aber die Enden dieses Kreises waren nicht verschweißt. Wenn sie genug Druck ausübte, würde sie die Lücke, an der sich die Ringenden trafen, vielleicht genug weiten können, um ihre Kette loszubekommen. Ihre Handgelenke würden immer noch aneinandergekettet sein, aber sie würde vermutlich imstande sein, aufzustehen und sie beide von diesem Ort wegzubringen.
„Also”, sagte Greg, und sie richtete den Rlick vorsichtig wieder auf ihn, „wie in den alten schlechten Horrorfilmen enden wir hier, zwei Vampire, die in der Sonne gefesselt sind.... oder eher in einem Wintergarten.”
Lissianna musste lachen; sie konnte nicht anders, sein Tonfall war so witzig. „Wie in einem schlechten Film”, stimmte sie zu.
„Hollywood versteht uns Vampire einfach nicht.”
„Ich glaube, sie sind nur eifersüchtig”, verkündete Greg. „Al dieses Geld und diese Erfolge, und dann werden sie eines Tages doch alt und sterben.”
„Ja”, stimmte Lissianna zu, aber sie fand es plötzlich nicht mehr komisch. Sie hatte zweihundert Jahre gelebt, Greg war erst fünfunddreißig und hatte noch nie jemanden gebissen na ja, sie, aber das zählte nicht.... und jetzt würde er vielleicht sterben, weil er einer der Ihren geworden war.... und sie hatte ihm noch nicht einmal gesagt, dass sie ihn liebte. Warum hatte sie es ihm nicht gesagt? Weil sie Angst hatte Angst, einen Fehler zu machen, Angst, verletzt zu werden. Aber vor ein paar Stunden hatte sie beschlossen, keine Angst mehr zu haben, also war es an der Zeit, es ihm zu sagen. Jetzt oder nie.
„Greg”, begann sie leise.
„Ja?” Er klang müde und gequält.
„Erinnerst du dich, dass du mich nach den wahren Lebensgefährten gefragt hast?”
„Ja. Du sagtest, deine Mutter behaupte, dass es für jeden einen wahren Lebensgefährten gebe.”
„Ich habe dir aber nicht gesagt, wie wir sie erkennen können, nicht wahr?”, sagte sie feierlich. Sie wartete nicht darauf, dass er antwortete, sondern holte tief Luft und sagte dann: „Unsere wahren Lebensgeführten sind an zwei Dingen zu erkennen: Wir können ihre Gedanken nicht lesen, und wir können sie nicht beeinflussen und beherrschen. So, wie ich dich nicht beherrschen und deine Gedanken nicht lesen kann.”
„Ich weiß”, sagte er leise, woraufhin sie ihn verblüfft ansah. Er lächelte trotz aller Schmerzen. „Thomas hat es mir gesagt.”
„Wann?”, fragte sie überrascht.
„Letzte Nacht”, gab er zu, dann fügte er hinzu: „Das hat mir geholfen, mich nicht mehr so schuldig zu fühlen.”
„Ach ja? Warum denn?”
„Weil mir klar geworden war, dass das, was ich empfand, wahrscheinlich vom Schicksal vorherbestimmt war.”
Lissianna seufzte müde: „War das hier dann auch vorherbestimmt?”
„Lissianna.” Er drehte langsam den Kopf, um sie anzusehen. Er zog die Brauen hoch, als er bemerkte, dass sie ihn die ganze Zeit beobachtete, sagte aber nichts dazu, sondern erklärte nur: „Ich bedauere nichts. Selbst wenn ich heute sterbe, würde ich es um nichts auf der Welt verpasst haben wollen.”
Als sie ihn einfach nur weiter ansah, lächelte Greg und schloss die Augen. „Lissianna, hast du einmal bemerkt, dass die Zeit sehr schnell vorbeigeht, wenn man glücklich ist, aber wenn man sich elend fühlt, schleppt sie sich endlos lange dahin?”
„Ja.”
Greg öffnete die Augen. „Das Leben mit dir wäre ein Blinzeln gewesen, ob es nun ein Jahrtausend oder einen Monat dauerte.
Ich bin glücklich, wenn ich bei dir bin.”
Er sagte ihr, dass er sie liebe, und Lissianna holte tief Luft, hielt sie an, ließ sie langsam wieder heraus und sagte: „Ich bin auch glücklich mit dir. Ich liebe dich, Greg, und obwohl es dich nicht unbedingt zu meinen Legensgefährten macht, dass ich dich gewandelt habe, wünschte ich, es wäre so.”
Gregs Züge wurden starr, dann erhel te ein plötzliches Lächeln seine Augen. „Ich liebe dich auch, und ich wünschte es mir auch”, erklärte er ernst. „Ich habe fünfunddreißig Jahre auf dich gewartet, und ich habe mich innerhalb von ein paar Tagen in dich verliebt.” Er hielt inne, dann fügte er traurig hinzu: „Und ich wünschte, ich könnte dein Lebensgefährte sein. Für immer wäre nicht lange genug, aber das ist egal, denn es sieht so aus, als hätten wir noch nicht einmallein paar Stunden für uns.” Greg schüttelte den Kopf. „Ich mag nicht glauben, dass ich dich verlieren soll, wenn ich dich doch gerade erst gefunden habe.”
„Du wirst mich nicht verlieren”, sagte sie grimmig.
„Nein?”, fragte er ungläubig.
„Nein”, erwiderte sie entschlossen. „Wir kommen hier raus.”
„Und wie soll en wir das schaffen?”
Er klang erschöpft und fing an, so blutleer auszusehen wie eine Leiche. Lissianna wusste, dass er nicht mehr lange bei Bewusstsein sein würde. Sie spürte, dass sie immer zorniger wurde, und gestattete diesem Zorn zu wachsen, fütterte ihn im Geist, indem sie daran dachte, wie unfair diese ganze Situation war. Sie baute ihn absichtlich zu einer Wut auf, die ihr mehr Kraft geben würde.
Er hatte fünfunddreißig Jahre auf sie gewartet? Diese Frage hallte durch ihren Kopf. Sie hatte über zweihundert gewartet, und sie wollte verdammt sein, ihn sich von irgendjemandem nehmen zu lassen, besonders nicht von einem verwirrten Priester und einem Blödmann wie Dwayne.
Sie blickte nach oben, packte die Ketten über ihren Handgelenken, stützte sich gegen die Wand und sagte: „So etwa”, wobei sie sich plötzlich nach vorn warf und mit ihrer ganzen Kraft an den Ketten riss.
„Wir sind stärker als sie, Greg”, erinnerte sie ihn, als sie sich aufrichtete und den Ring untersuchte, durch den ihre Kette gezogen war. Ein kleines triumphierendes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sah, dass es nun eine Lücke gab, wo sich die beiden Enden des Rings trafen. Sie war nicht groß genug, dass sie die Kette hätte losreißen können.... noch nicht.
„Ich glaube, wir sind auch klüger als sie, zumindest weiß ich, dass wir klüger sind als Dwayne.” Sie warf sich wieder nach vorn, dann richtete sie sich auf und sah, dass die Lücke ein wenig größer geworden war.
„Und ich werde nicht erlauben, dass einer von uns von einem Idioten vernichtet wird, der mit falscher Bräune und einer Gurke in der Hose herumläuft.” Wieder warf sie sich nach vorn, und die Lücke weitete sich gerade genug, dass die Kette herausrutschte und ihr auf den Kopf fiel.
„Ist dir etwas passiert?”, fragte Greg. Er klang jetzt lebhafter, wie sie bemerkte, und sie schüttelte leicht den Kopf und stand auf.
Die Hoffnung schien ihm ein wenig zu helfen. Nachdem Lissianna sich befreit hatte, wollte sie sich ihm zuwenden, aber dann erinnerte sie sich gerade noch rechtzeitig, dass sie ihn nicht ansehen durfte. Das war ein kniffliger Fall.
„Das könnte schwierig werden”, sagte Greg, und sie wusste, dass er sie beobachtet hatte, wie sie aufstand und sich von ihm abwandte, bis sie der Wand gegenüberstand.
„Was könnte schwierig werden?”, fragte sie, machte ein paar Schritte an der Wand entlang, bis sie an seinen Arm stieß und die Ketten sehen konnte, mit denen seine Arme an der Wand befestigt waren. Seine Kette war länger, und deshalb hingen seine Hände nicht an Handschel en über ihm. Lissianna packte den Ring, durch den seine Kette sich zog, und untersuchte ihn.
„Na das hier”, sagte Greg. „Von einem Mädchen gerettet zu werden. Das könnte schlecht für mein Selbstbewusstsein sein.
Männer wissen nicht, wie sie darauf reagieren sollen, wenn sie von einem Mädchen gerettet werden.”
Lissianna lächelte dünn, erleichtert über seinen scherzhaften Ton. Das war viel gesünder als diese Stimmung, die ihn vorher befallen hatte. „Dein Ego wird es schon überleben”, versicherte sie ihm. „Und du kannst uns das nächste Mal retten, wenn du dich besser fühlst.”
„Willst du etwa behaupten, dass so etwas wie das hier häufiger passiert?”, fragte er, als sie den Ring losließ und seine Kette mit beiden Händen festhielt.
Lissianna kicherte und versicherte ihm: „Kaum.” Dann stützte sie einen Fuß gegen die Wand und zog mit aller Kraft.
„Was genau bedeutet,kaum’?”, fragte er und klang besorgt, als sie aufhörte und das Ergebnis ihrer Arbeit inspizierte. „Ich sollte nach dieser Art Dingen Ausschau halten, sagen wir mal, alle fünfzig Jahre?”
„Alle hundert oder so”, antwortete sie, dann zog sie wieder an der Kette. Die Lücke wurde noch größer. „Außerdem”, sagte Lissianna, als sie ihren Griff veränderte, um noch einmal zu ziehen, „hast du mich gerettet, als ich gepfählt wurde. Diesmal bin ich dran.”
Sie riss noch einmal an der Kette, stolperte zurück und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, als die Kette sich löste. Sie fing sich, ließ die Kette los und stützte sich einen Moment lang erschöpft an die Wand. Sie beide zu befreien hatte viel Energie gekostet, und obwohl sie vermutete, dass sie nicht lange bewusstlos gewesen war, waren sie der Sonne nach ihrer Schätzung doch sicherlich eine Stunde lang ausgesetzt gewesen.
Sie spürte die Auswirkungen jetzt ebenfalls.
„Alles in Ordnung?”, fragte Greg.
„Ja”, sagte Lissianna und überlegte gleichzeitig, wie sie ihn hier herausbringen konnte, ohne das Blut auf seiner Brust zu sehen und ohnmächtig zu werden. Sie hörte ein Klirren und wusste, dass Greg versuchte aufzustehen. Sie wusste auch, dass er das nicht alleine würde tun können. Sie schob sich von der Wand weg, kniete sich neben ihn und tastete blind zur Seite, bis sie seinen Arm spürte, dann schob sie ihre Hand darunter und hielt ihn fest, um ihm aufzuhelfen.
„Du musst für mich sehen”, sagte sie, als es ihnen gelang aufzustehen. Sie selbst schloss die Augen, sodass sie seinen Arm über ihre Schulter ziehen und ihn aufrecht halten konnte.
Greg seufzte. „Wir müssen wirklich mit dieser Phobie fertig werden.”
„Morgen”, versicherte Lissianna ihm und hörte das leise, atemlose Lachen, das er ausstieß. „Was?”
„Nichts”, sagte er, aber sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. „Ich fange nur langsam an zu glauben, dass es wirklich ein Morgen für uns geben wird.”
„O ja. Jede Menge davon”, versicherte sie ihm und fing an, ihn vorwärtszudrängen. „Die Tür liegt in dieser Richtung, ja?”
„Ja, genau.”
Lissianna spürte die Veränderung, als sie aus der Sonne kamen, noch bevor Greg sagte: „Wir sind im Haus. Es ist dunkel. Du kannst wahrscheinlich die Augen aufmachen.”
Sie hob den Kopf, sodass sie geradeaus schauen würde und nicht auf Greg, dann öffnete sie die Augen. Sie befanden sich in dem Flur, der vom Wintergarten zur Haustür führte. Lissianna zögerte, eigentlich wollte sie Greg dort lassen und sich um Dwayne kümmern, aber sie wagte es nicht, ihn allein zu lassen.
Sie hatte keine Ahnung, wo Dwayne steckte, und sie wollte nicht, dass er Greg fand, während sie das Haus nach ihm durchsuchte.
Aber sie konnte Greg auch nicht mitschleppen.
Lissianna seufzte, dann ging sie zur nächsten Tür und zog Greg mit sich. Die Tür führte zu einer Küche. Die Lampen waren nicht eingeschaltet und die Vorhänge an den Fenstern zugezogen, aber ein bisschen Sonnenlicht schien um die Ränder und ermöglichte es, sich zu orientieren. Sie half Greg in den Räum und ließ ihn auf einen Küchenstuhl am Tisch sinken, wobei sie einen kleinen Stapel Post auf dem Tisch bemerkte. Auf dem ersten Briefstand Dwayne Chisholm, aber der darunter war an Mr. und Mrs. Jack Chisholm gerichtet.
„Das hier muss das Haus seiner Eltern sein”, murmelte Greg, der sich die Post ebenfalls ansah. „Er wohnt immer noch bei seinen Eltern.”
„Ja”, stimmte Lissianna zu.
„Wenn man nach diesem Stapel geht, sind sie im Augenblick wohl verreist”, stellte Greg seufzend fest.
„Ja”, wiederholte Lissianna, dann schaute sie zur Küchentür, als das Geräusch eines Fahrzeugs, das die Auffahrt hochkam, an ihr Ohr drang.
„Vater Joseph ist wieder da”, sagte Greg finster.
„Bleib hier.” Lissianna wandte sich ab, um zur Tür zu gehen, dann schlich sie in den Flur hinaus. Sie hörte etwas, das nur das Zufallen einer Autotür bedeuten konnte, dann noch eine Tür und schließlich das charakteristische Geräusch der Seitentür eines Vans, die aufgeschoben wurde. Hatte Vater Joseph Verstärkung mitgebracht?, fragte sie sich nervös.
Sie schlich zum Fenster neben der Haustür und spähte durch eine Ritze im Vorhang, bereit, sich sofort in den nächsten Raum zurückzuziehen, wenn sie aufs Haus zukamen. Aber sie hatte sicher noch ein wenig Zeit, um zusehen zu können, was draußen vor sich ging, denn seit dem Schließen der Schiebetür war höchstens eine Minute vergangen. Wahrscheinlich hatten sie etwas herausgeholt.
„Vielleicht ein Schwert, um uns die Köpfe abzuschlagen, nachdem sie uns gepfählt haben”, murmelte Lissianna angewidert, dann erstarrte sie, weil jemand im Hof neben Dwayne stand.
„Greg, es ist alles in Ordnung”, schrie sie durch den Flur, dann riss sie die Tür auf und trat auf die Veranda hinaus.
„Lissianna!” Juli entdeckte sie als Erste und kam auf sie zugerannt. Vicki, Elspeth und Marguerite folgten ihr beinahe sofort.
Nur Martine blieb zurück, und Lissianna nahm an, dass sich ihre Tante in Dwaynes Gedanken befinden musste, ihm ihren Willen aufzwang und seine Erinnerungen tilgte.
„Können wir rauskommen?”, hörte sie Thomas aus dem Van rufen.
„Ja”, antwortete Marguerite. „Martine hat ihn unter Kontrol e.”
Mirabeau, Jeanne Louise und Thomas kletterten aus dem Van.
„Bringt Blut mit, wenn ihr welches dabeihabt! Es geht Greg sehr schlecht”, rief Lissianna, dann taumelte sie, als die Zwillinge sie erreichten und beide gleichzeitig versuchten, sie zu umarmen.
„Bist du in Ordnung?”, fragte Marguerite, als sie die Veranda betrat.
Lissianna nickte und lächelte, als ihre Cousinen sie losließen.
„Wie habt ihr uns denn überhaupt gefunden?”
„Als du nicht nach Hause gekommen bist, haben wir uns Sorgen gemacht. Da war immer noch diese kleine fiese Sache mit dem Pflock. Und obwohl ich wusste, dass du nicht glaubtest, dass es deine Freundin Debbie war, war ich skeptisch. Als du also nicht auftauchtest, habe ich das Heim angerufen. Ein Mädchen namens Kelly ging an dein Telefon. Sie sagte, du und ein wirklich gut aussehender Bursche wärt mit Vater Joseph zusammen weggefahren.”
Lissianna nickte. Das Büro, das sie und Kelly teilten, hatte ein Fenster auf den Parkplatz hinaus. Das Mädchen musste aus dem Fenster geschaut haben, als Lissianna und Greg aus dessen Auto gestiegen und zum Lieferwagen gegangen waren.
„Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also sind wir alle in den Van gestiegen und zum Heim gefahren”, fuhr ihre Mutter fort.
„Deine Freundin Debbie war gerade im Aufbruch begriffen.”
Lissianna verzog das Gesicht. Debbie war noch schlimmer als sie, wenn es darum ging, länger zu arbeiten. Seit dem Tod ihres Mannes schien sie nicht mehr gerne allein zu Hause sein zu wollen.
„Da sie gerade dort war und wir das Rätsel mit dem Pfählen noch nicht gelöst hatten, habe ich ihre Gedanken gelesen und herausgefunden, dass sie nur ihrer Mutter und jemandem namens Claudia gesagt hatte, dass du in dieser Nacht in ihrem Haus warst, dass aber Vater Joseph ebenfalls in der Nähe gewesen war, als sie es dem Mädchen sagte.”
„Also nahmen wir an, dass Vater Joseph unser Mann war”, warf Thomas ein, der mit einer Kühltasche in der Hand zur Veranda kam. Blut für Greg, dachte Lissianna.
„Tante Marguerite hat es uns mitnehmen lassen, als wir aufbrachen.... Nur für den Fall”, erklärte Thomas, als er sah, wie sie die Kühltasche ansah. „Wo ist Greg?”
„Letzte Tür links am Ende des Ganges”, sagte sie und wünschte sich, sie könnte mitgehen, aber das war Unsinn. Sobald sie seine blutige Brust sah, würde sie ja doch nur wieder ohnmächtig werden. Dieser Gedanke ließ sie fragen: „Ich nehme nicht an, dass du ein zweites TShirt bei dir hast, das Greg sich ausleihen könnte?”
„Ich finde schon etwas”, sagte Thomas und ging schließlich ins Haus hinein.
Lissianna wandte sich ihrer Mutter zu. „Ja. Wir wussten, dass wir Vater Joseph finden mussten. Wir ließen diese Kelly ihn anrufen, aber er wollte nicht sagen, wo er war. Also mussten wir einen Notfall erfinden, um ihn ins Heim zurückzulocken, damit wir seine Gedanken lesen und herausfinden konnten, wo ihr wart.”
„Und die ganze Zeit hatten wir Angst, wir würden zu spät sein”, murmelte Elspeth leise.
„Aber ihr wart es nicht.” Lissianna streckte die Hand aus und drückte die Schulter ihrer Cousine. „Was habt ihr denn mit Vater Joseph gemacht?”
„Lucian kümmert sich um ihn”, informierte Marguerite sie. „Er wird seine Erinnerungen an die ganze Sache löschen, und dann treffen wir uns wieder zu Hause.”
„Und Martine kümmert sich um Dwayne”, sagte Lissianna und warfeinen Blick zum Vorgarten, aber die beiden waren nicht mehr zu sehen.
„Martine hat ihn nach hinten gebracht”, berichtete Marguerite gleichmütig. „Sie braucht Ruhe, um ihre Arbeit zu tun, und will mit ihm allein sein. Denn er sollte möglichst nicht wissen, wer wir sind.”
Lissianna nickte.
„Komm.” Marguerite dirigierte sie auf die Verandatreppe zu.
„Du bist blass. Du brauchst Blut. Wir haben noch eine Kühltasche im Auto.”
„Wir können dir allerdings keine Infusion verabreichen”, warnte Jeanne Louise sie. „Aber Thomas sagte, wenn du die Augen schließt, würde es auch mit Blutbeuteln klappen.”
„Unglaublich”, sagte Marguerite, dann schüttelte sie den Kopf.
„Ich wünschte, der Trick wäre mir vor Jahren eingefal en. Es geht viel schneller als eine Infusion.”
„Was ist mit Greg?”, fragte Lissianna und schaute zurück in den dunklen Flur.
„Thomas wird sich um ihn kümmern”, versicherte Marguerite ihr. „Sie werden sicher bald nachkommen.”
Lissianna nickte und ließ zu, dass man sie von der Veranda führte.
„Und?”, fragte ihre Mutter, als sie zum Van kamen. „Wisst ihr jetzt, was ihr miteinander anfangen werdet?”
„Ja”, murmelte Lissiana, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Wir haben uns endlich ausgesprochen und sind uns einig, dass wir Lebensgefährten sind.”
Marguerite schnaubte. „Es bestand nie ein Zweifel daran, dass ihr Lebensgefährten seid, meine Liebe. Du musstest es nur begreifen.... und dazu hast du lange genug gebraucht.”