7

 

Greg war still und nervös, als sie ihn durch das große Haus hinausschmuggelten. Seine Nervosität verließ ihn so lange nicht, bis sie in einen großen blauen Van in der Garage gestiegen waren. Er hörte nur halb zu, als Mirabeau Lissianna erzählte, dass jemand namens Bastien Marguerite den Wagen geschickt hatte, damit sie ihn benutzen konnte, wenn sie Besuch hatte, und dass sie ihn für dieses Unternehmen „ausliehen”, weil sie nicht alle in Thomas’ Jeep passten.

Greg sah den Firmennamen auf der Seite des Fahrzeugs, als Thomas ihn auf den Beifahrersitz dirigierte: ARGENEAU ENTERPRISES, und versuchte ihn sich einzuprägen.

Die anderen sprachen ebenfalls kein Wort mehr, nachdem Thomas den Van angelassen und eine Fernbedienung benutzt hatte, um die Garagentür zu öffnen. Auf ihnen allen lastete eine große Spannung, als er den Van aus der Garage und zur Einfahrt lenkte. Greg nahm an, sie hatten alle Angst, jemand würde aus dem Haus kommen und vor das Auto springen, um sie aufzuhalten. Aber das geschah nicht, und sie erreichten unbehelligt das Ende der langen Auffahrt.

„Und, wohin?”, fragte Thomas, als er auf die Straße einbog.

Greg zögerte, denn er wollte ihm nicht gerne seine Privatanschrift geben. Gerade, als er ihnen seine Büroadresse nennen wollte, fiel ihm ein, dass seine Aktentasche und sein Mantel mit den Schlüsseln sich noch in Lissiannas Zimmer befanden. Er hatte sie am Vorabend bei sich gehabt und nicht daran gedacht, sie vorhin mitzunehmen. Er würde es allerdings auf keinen Fall riskieren, deshalb zurückzukehren, denn bei seinem Glück würde Marguerite sie schließlich doch noch erwischen.

Am Ende gab Greg widerstrebend die Adresse seiner Wohnung preis. Der Pförtner konnte sie zumindest ins Gebäude lassen und den Hausmeister rufen, damit dieser ihm die Ersatzschlüssel brachte.

Außerdem war es ein sicheres Gebäude. Sie würden nicht einfach hineinspazieren können und ihn wieder herausholen, falls sie es sich später anders überlegten.

Der Weg kam Greg sehr lang vor. Er nahm an, dass er nicht der Einzige war, der das empfand. Die Zwillinge schwatzten jetzt ununterbrochen und hielten die gesamte Episode offenbar für ein großartiges Abenteuer, aber die Erwachsenen waren überwiegend still. Zumindest, bis sie die Stadt erreichten. Dann hörte er, wie Elspeth Lissiannas Namen flüsterte. Ihr Flüsterton bewirkte nur, dass er sich unbewusst sehr anstrengte zu verstehen, was sie sagte.

„Lissi? Ich nehme Wellen von Zorn in Greg wahr. Ist etwas passiert, während wir unten waren und uns umzogen?”

„Zorn?” Lissianna klang besorgt. „Bist du sicher?”

O ja, es ist Zorn, dachte Greg sarkastisch, dann wunderte er sich, dass Elspeth es bemerkt hatte. Er musste in der Nähe dieser Leute wirklich vorsichtig sein. Er glaubte inzwischen fest, dass Marguerite eine starke außersinnliche Wahrnehmung hatte. Warum sollte es bei den anderen nicht ebenso sein?

„Er ist sehr stil, seit er im Bad war.” Lissiannas ernste Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, und er folgte wieder dem Gespräch, das hinter ihm stattfand. „Aber ich habe gedacht, er sei nur nervös, weil wir uns heimlich aus dem Haus schleichen mussten, ohne dass Mom uns sah.”

„Oh. Nun, vielleicht ist er das ja auch.” Elspeth klang nicht überzeugt.

„Soll ich ihn für euch deuten?”, ließ sich Mirabeaus leise Stimme jetzt hören.

„Was? Lissianna, hast du das denn nicht selbst schon getan?”

Dieses halbe Flüstern, halbe Quietschen konnte von niemand anderem als einem der Zwillinge kommen. Wahrscheinlich war es Juli, nahm er an, denn sie schien immer die Erste der beiden zu sein, die etwas sagte.

„Sie konnte seine Gedanken doch nicht lesen, erinnert ihr euch?”, schloss sich Jeanne Louise dem Gespräch an. „Deshalb hat sie ihn gebissen.”

Juli seufzte. „Ich wünschte, wir könnten auch mal al fresco’ speisen. Wenigstens ein einziges Mal, um zu sehen, wie es ist. Es hört sich viel angenehmer an als Blut in Beuteln.”

„Das werdet ihr schon noch”, erklärte Elspeth. „Mom führt euch aus, wenn ihr achtzehn seid.”

„Ja, ja”, seufzte Juli ungeduldig. „Damit wir wissen, wie man sich natürlich ernährt, falls es zu einem Notfall kommt und uns keine andere Möglichkeit als diese bleibt.”

Sie leierte die Worte herunter wie etwas, das sie auswendig gelernt hatte, stellte Greg zerstreut fest, aber sein Hirn war angestrengt damit beschäftigt zu begreifen, was sie da sagten. Er hatte keine Ahnung, worüber sie redeten. Lissianna hatte ihn nicht gebissen, vielleicht ein bisschen an ihm herumgeknabbert, aber überwiegend hatte sie an seinem Hals gesaugt und ihm wahrscheinlich einen gewaltigen Knutschfleck verpasst. Und als ihm das einfiel, wünschte er sich, er hätte es überprüft, als er im Bad gewesen war. Aber seine Gedanken waren so wirr gewesen, nachdem er erfahren hatte, dass die gefürchtete Phobie nichts weiter war als Hämophobie, dass er nicht mehr an den Knutschfleck gedacht hatte.

„Und wenn es zu einem Notfall kommt, bevor wir achtzehn sind?”, fragte Vicky.

„Dann solltest du einfach hoffen, dass das nicht vor eurem achtzehnten Geburtstag geschieht”, antwortete Elspeth kurz angebunden.

„Das ist so unfair!”, nörgelte Juli. „Ihr konntet al fresco’ essen, als ihr viel jünger wart als wir.”

„Juli, damals gab es noch keine andere Möglichkeit”, sagte Jeanne Louise geduldig.

„Soll ich ihn für euch erforschen und nachsehen, ob es ein Problem gibt?” Greg war sicher, dass die Sprecherin diesmal Mirabeau war. Ihre Worte brachten Julis Klagen sofort zum Verstummen. Tatsächlich schienen sie alle Gespräche beendet zu haben. Greg stellte fest, dass in dem folgenden Schweigen selbst die Luft still stand, und fragte sich, ob er irgendwie verhindern konnte, dass diese Frau seine Gedanken las. Vielleicht, wenn er jeglichen Gedanken verjagte? Oder wenn er

„Da sind wir!” Die fröhliche Ankündigung bewirkte, dass Greg sich umdrehte. Thomas musste blinzeln, nachdem er den Wagen zum Stehen gebracht hatte und einen Blick durch das Fenster warf. Nicht, dass er wegen der Sonne hätte blinzeln müssen, denn die Fenster des Wagens waren alle auf irgendeine Weise verdunkelt. Es war, als trüge das Fahrzeug eine Sonnenbrille. Doch Thomas schien sich selbst noch an dem wenigen Licht zu stören, das hereinfiel.

Greg schaute durch das Fenster auf sein Apartmenthochhaus.

Nach einem kurzen Zögern öffnete er die Tür und stieg aus. Er schauderte, als ihn die kalte Luft traf. Er wäre beinahe einfach losgegangen, aber etwas ließ ihn sich noch einmal umdrehen und zurück in den Van schauen. Sein Blick glitt über die Passagiere. Sie starrten ihn alle mit ernster Miene an.

„Danke, dass Sie mich losgebunden und hierher gebracht haben”, murmelte er widerstrebend, dann schloss er mit einem Nicken die Tür und eilte den Eingangsweg entlang auf das Gehi ude zu. Bei jedem Schritt rechnete er damit, dass einer von ihnen herausspringen und versuchen würde, ihn zurückzuholen.

Er seufzte erleichtert, als er durch die große Glastür die Lobby betrat.

„Lissi, setz dich auf den Beifahrersitz”, sagte Thomas, als Greg in dem Gebäude verschwunden war.

Lissianna löste den Sicherheitsgurt und rutschte auf den Beilahrersitz vor. Sofort, nachdem sie sich angeschnallt hatte, fuhr Thomas los und fädelte sich in den Verkehr ein.

„Ich habe seine Gedanken gelesen”, verkündete er.

„Du kannst seine Gedanken ebenfalls lesen?”, fragte Lissianna und verzog missmutig das Gesicht. Es war schon schlimm genug, dass ihre Mutter Gregs Gedanken lesen konnte und sie nicht, aber Marguerite war viel älter als Lissianna und viel mächtiger. Sie hätte es sogar akzeptieren können, wenn Mirabeau imstande gewesen wäre, das zu tun, denn ihre Freundin war über zweihundert Jahre älter als sie, aber Thomas war nur vier Jahre älter und beherrschte es ebenfalls! Warum konnte sie dann Gregs Gedanken nicht lesen?

Sich dessen nur allzu bewusst, dass ihre Cousinen hinten im Wagen sich nun neugierig nach vorn beugten und hören wollten, was gesagt wurde, fragte sie trotzdem: „Und?”

„Er war tatsächlich wütend.”

„Warum denn nur?” Sie war überrascht.

„Ich nehme an, er wollte von dir wissen, was du für eine Phobie hast, nachdem wir nach unten gegangen waren, um uns umzuziehen”, stellte Thomas fest. „Und du hast ihm gesagt, dass es Hämophobie ist.”

Als Lissianna nickte, sagte er: „Deshalb war er wütend.”

Juli war die Erste, die darauf reagierte. „Das verstehe ich nicht.

Warum sollte ihn das wütend machen?”

„Tante Marguerite hat seinen Urlaub unterbrochen und ihn zu unserem Haus gebracht, wo sie ihn ans Bett gefesselt hat, nur damit er Lissiannas Phobie kuriert”, erklärte Thomas. „Und dann haben wir alle darauf herumgeritten, dass ihre Phobie etwas Schlimmes ist und ihr Leben ruiniert.”

„Nun, so ist es doch auch”, stellte Elspeth finster fest.

„Ja, aber für einen Sterblichen ist Hämophobie nicht so schlimm”, führte er aus.

„Aber Lissianna ist keine Sterbliche”, sagte Jeanne Louise. „Sie braucht Blut, um zu überleben. Blut ist Nahrung für sie.”

„Genau”, stimmte Thomas zu. „Aber Hewitt wusste das nicht.”

„Oh.” Das waren Juli und Vicki. Die anderen schwiegen vor Überraschung, als ihnen klarwurde, was das bedeutete.

„Wir müssen ihm sagen, dass du eine Vampirin bist, Lissi”, sagte Vicki. „Dann wird er es verstehen.”

„Na klar versteht er es dann”, schnaubte Mirabeau. „Er wird denken, dass wir spinnen. Außerdem: Glaubst du wirklich, er wird uns erlauben, ihm noch einmal nahe genug zu kommen, um es ihm zu sagen? Mann, er plant wahrscheinlich schon umzuziehen, während wir uns hier unterhalten.”

„Mirabeau hat recht”, stellte Jeanne Louise fest. „Er wird wahrscheinlich wirklich umziehen, und er wird uns nicht helfen.”

Sie runzelte die Stirn. „Was ich nicht verstehe, Thomas, ist wenn du das alles wusstest, wieso hast du ihn dann einfach laufen lassen?”

Thomas antwortete nicht, sondern warf Lissianna stattdessen einen Blick zu. „Würdest du ihn immer noch freigelassen haben?”

„Ja”, antwortete sie, ohne zu zögern. „Er konnte nicht richtig von uns beeinflusst oder beruhigt werden. Es war ein Fehler, ihn zu entführen.” Für gewöhnlich konnten sie den Willen von Sterblichen manipulieren und ihnen Gedanken und Überlegungen nahelegen. Die meisten Menschen hätte Marguerite auf diese Weise will fährig machen können. Sie wären sogar erfreut gewesen, dort sein zu dürfen, und mit Eifer darauf bedacht zu lul en. Sie hätten sich auch ganz frei im Haus bewegen können, ohne dass jemand hätte befürchten müssen, dass sie versuchen würden zu fliehen oder auch nur den Wunsch dazu verspürten.

Dann hätte sie ihren Willen wieder freigelassen.... und die ganze Episode wäre aus ihrer Erinnerung getilgt gewesen und hätte lediglich undeutliche Bilder an ihrer Stelle zurückgelassen. Sie hätte der Person sozusagen Zeit gestohlen, aber es wäre Zeit gewesen, von der die Person nicht einmal gewusst hätte, dass sie ihr fehlte. Lissianna hätte das als notwendiges Übel akzeptieren können, um ihre Phobie zu heilen.

Aber Greg war nicht wie die meisten Leute. Er schien eine slarke Willenskraft zu haben und widersetzte sieh der Beherrschung durch andere. Er hätte während seines gesamten Aufenthalts gefesselt bleiben müssen, und sie hätten ihn dazu zwingen müssen, ihre Phobie zu behandeln, indem sie Drohungen und Versprechen einsetzten. Das war für Lissianna inakzeptabel.... und sie wusste, dass auch ihre Mutter ihrer Meinung sein würde wenn sie erst einmal über ihren ersten Zorn hinweggekommen war, dass sie Greg befreit hatten.

„Ja”, wiederholte sie. „Ich würde immer noch wollen, dass er geht, selbst wenn ich gewusst hätte, dass er nicht zurückkommen und mich behandeln würde.”

„Ich wusste, dass du das sagen würdest”, erklärte Thomas, dann nickte er seiner Schwester im Rückspiegel zu und antwortete:

„Genau deshalb habe ich ihn nicht aufgehalten.”

Niemand sagte mehr etwas, und sie sehwiegen auf der ganzen Rückfahrt. Erst als Thomas eine Weile später den Van in die Garage zurückfuhr, unterbrach eine Stimme die Stille; es war Julianna.

„Ohoh. Seht nur, wie wütend sie aussieht.” Die Worte waren ein halbes Flüstern.

Lissianna blickte von ihrem Sicherheitsgurt hoch, den sie gerade gelöst hatte, und verzog ein wenig das Gesicht, als sie ihre Mutter in der offenen Tür zwischen der Garage und dem Haus sah. Marguerite Argeneau wirkte tatsächlich wütend. Sehr wütend. Offenbar war auch sie früh aufgestanden. Seufzend fasste Lissianna nach dem Türgriff.

„Warte auf uns”, rief Juli, beeilte sich, auch auszusteigen und sich zu ihr zu gesellen, und bald war der Van nur noch ein einziges Geräusch von sich öffnenden und schließenden Schiebetüren. „Wir stehen zusammen, erinnerst du dich?”

Jeanne Louise fing Lissiannas Blick ein und lächelte ermutigend.

„Es wird nicht so schlimm werden”, versicherte sie ihr zweifelnd.

„Ich meine, wie zornig kann sie denn schon sein?”

Ziemlich zornig, dachte Lissianna kurze Zeit später, als ihre Mutter beherrscht vor ihr auf und ab ging.

Marguerite hatte gewartet, bis sie alle ausgestiegen und zu ihr gekommen waren, dann hatte sie „Kommt mit” gefaucht und sie ins Haus geführt, in das vordere Wohnzimmer, wo auch Tante Martine schon auf sie wartete. Sie hatte sie nur so weit eintreten lassen, dass alle drin waren, aber nicht weit genug, dass sie sich hinsetzen konnten. Dann hatte sie sie kalt angesehen und eine Erklärung verlangt. Lissianna hatte sofort zugegeben, dass sie Greg nach Hause gebracht hatten. Marguerites Schweigen war ihnen wie eine Ewigkeit vorgekommen, aber wahrscheinlich dauerte es nur ein paar Minuten. Sie versuchte ihrer immer heftiger werdenden Wut Herr zu werden.

Schließlich fuhr sie zu ihnen herum. Ihre Lippen bewegten sich, als wüsste sie nicht, wie sie das Ungeheuerliche in Worte fassen sollte, dann schüttelte sie den Kopf und fragte: „Ihr habt was getan?”

Lissianna biss sich auf die Lippen, als sie das Entsetzen ihrer Mutter bemerkte. Sie hatte zwar gefürchtet, dass sie die Nachricht nicht besonders gut aufnehmen würde, nicht aber, dass sie reagieren würde, als hätte sie gerade gehört, die Leute aus dem Dorf seien unterwegs, um ihr Haus mit Fackeln und Pflöcken zu stürmen.

„Mutter”, sagte Lissianna seufzend. „Er war außer sich. Er hatte seinen Flug verpasst und.... ”

„Er hätte überhaupt nichts verpasst”, unterbrach Marguerite sie gereizt. „Ich hätte ihm Erinnerungen an einen großartigen Urlaub ins Hirn gesenkt. Er wäre so entspannt und vergnügt nach Hause zurückgekehrt, als sei er wirklich in Urlaub gewesen. Vielleicht noch mehr, weil er all dem wirklichen Stress eines normalen Urlaubs wie verspätete Flüge, Sicherheitschecks, Sonnenbrand und Lebensmittelvergiftung entgangen wäre.”

Marguerite schloss die Augen und seufzte kurz, dann wandte sie sich dem Kühlschrank in der Bar zu und fragte: „Welche Erinnerungen hast du ihm denn eingegeben?”

„Erinnerungen?”, fragte Lissianna ausdruckslos, und ihr Blick glitt erschrocken zu ihren Mitverbrechern. Sie schauten alle ebenso leer drein, wie sie sich fühlte.

„Um seine Erinnerungen zu ersetzen, dass er hier war”, erklärte Marguerite. Sie schaute missbilligend in den Kühlschrank und murmelte: „Verdammt, wir haben beinahe kein Blut mehr. Wir haben letzte Nacht fast alles für die Party verbraucht.”

„Bastien schickt heute frisches herüber”, erinnerte Martine sie.

„Ah ja.” Marguerite entspannte sich ein wenig, spähte aber immer noch unzufrieden in den Kühlschrank und wünschte sich wahrscheinlich, sie könnte einen der wenigen verbliebenen Beutel herausholen und ihre Zähne hineinschlagen. Aber sie wusste nur zu gut, dass das unmöglich war, wenn sie nicht wollte, dass Lissianna von diesem Anblick ohnmächtig wurde.

„Und?”, fragte sie schließlich. „Welche Erinnerungen hast du ihm im Austausch eingegeben?”

„Äh.... ” Lissianna warf den anderen einen Blick zu, dann seufzte sie und gab zu: „Keine.”

Marguerite hatte sich gebückt, um die Dinge im Kühlschrank hin und her zu räumen, aber nun erstarrte sie und richtete sich langsam auf. Wenn ihre Mutter zuvor entsetzt gewesen war, war das nichts, verglichen mit ihrer jetzigen Miene.

„Wie bitte?”, fragte sie kraftlos. „Du hast was nicht getan? Bitte sag mir nicht, dass du diesen Mann einfach hast davongehen lassen mit voller Kenntnis unserer Existenz! Bitte sag mir, dass du seine Erinnerungen ausgelöscht und sie durch neue ersetzt hast, wie man es dir beigebracht hat.”

Lissianna seufzte. Seit sie ein Kind gewesen war, hatte man ihr eingetrichtert, dass sie bei Sterblichen immer die Erinnerungen an sie auslöschen musste; sie durften gar nicht wissen, dass sie existierten. Sie hatte zweihundert Jahre Zeit gehabt, das zu lernen. Und dennoch hatte sie ihn einfach gehen lassen, ohne es zu tun.

„Ich hätte es selbst dann nicht tun können, wenn ich es gewollt hätte. Ich konnte nicht in seine Gedanken eindringen, auch nicht, um sie lediglich zu erforschen. Erinnerst du dich?”, antwortete sie.

Tante Martine war verblüfft. „Du konntest seine Gedanken nicht lesen?”

„Nein, konnte ich nicht.”

Tante Martine warf Marguerite einen Blick zu. Lissiannas Mutter öffnete den Mund, wahrscheinlich, um Gift auszuspucken, aber Elspeth eilte zu Lissiannas Verteidigung herbei und sagte: „Es ist schon in Ordnung, Tante Marguerite. Greg weiß nicht, was wir sind.”