„Oh!” Keuchend ließ Greg ihre Brust los und zog die Hand wieder unter ihrem T-Shirt hervor. Verlegen machte er einen Schritt zurück. „Ich werde bald ins Bett gehen.” Lissianna nickte, und ein kleines Lächeln umspielte ihre weichen Lippen. „Aber ich werde wach sein, wenn du wieder zurückkommst.” Wieder nickte sie „Vielleicht koche ich dir etwas Besonderes.”
„Okay”, flüsterte sie. „Darauf freue ich mich schon.”
Greg ging weiter den Flur hinunter, dann sagte er: „Gute Nacht.”
„Schlaf gut.” Sie tastete nach der Türklinke hinter sich und öffnete die Tür. Lächelnd nickte er, dann drehte er sich seufzend um, als sie schließlich in ihrem Raum verschwand.
„Was für ein Anblick für meine alten müden Augen!” Lissianna lächelte bei Debbies Begrüßung, als sie zu ihrer Schicht ins Obdachlosenheim kam. „Das ist ein sehr netter Willkommensgruß. Was gibt’s Neues?”
„Eigentlich nichts.” Debbie folgte ihr den Flur entlang in ihr Büro. „Das Übliche. Der alte Bill war heute Abend so störrisch wie ein Esel und ist gerade erst ins Bett gegangen; zwei Jüngere hatten Krach miteinander und schlugen sich ein bisschen, bevor wir sie trennen konnten, und Vater Joseph leidet immer noch unter Schlaflosigkeit.”
Lissianna zog die Brauen hoch. „Immer noch?”
„Ja. Und er fängt an, mit sich selbst zu reden. Und segnet die Wasserbehälter.” Sie zuckte die Achseln. „Ich glaube, die Schlaflosigkeit setzt ihm so zu.”
„Wahrscheinlich”, antwortete Lissianna und zog den Mantel aus, als sie ihr Büro betrat.
„Es kommt mir seltsam vor, dich an einem Sonntag hier zu sehen”, bemerkte Debbie, als sie ihr folgte. „Seltsam, aber nett. Diese Claudia, die deine Schicht in den Nächten übernimmt, in denen du frei hast, ist irgendwie dauernd am Jammern. Sie fehlt mir nicht gerade, selbst wenn hier alles drunter und drüber geht.”
„Hm.” Lissianna warf ihr einen mitleidigen Blick zu und hängte den Mantel an die Garderobe in der Ecke, dann ging sie um ihren Schreibtisch herum. Tatsächlich fand sie diese Claudia selbst nervtötend. Sie übernahm Debbies Schicht zwei Nächte in der Woche und Lissiannas in deren beiden freien Nächten. Also arbeiteten Debbie und sie drei Nächte in der Woche zusammen, aber beide verbrachten jeweils zwei Nächte in der Woche mit Claudia. Lissianna waren die Nächte mit Debbie viel lieber. Claudia ging ihr wirklich ein wenig auf die Nerven.
„Und, ist Vater Joseph immer noch hier oder ist er nach Hause.” Lissiannas Frage endete in einem überraschten Quieken, als sie sich auf ihren Stuhl setzen wollte und sie etwas unangenehm in den Po stach.
„Was ist denn das?” Debbie sah überrascht zu Lissianna hin über, als diese aufsprang, um nachzusehen, worauf sie sich beinahe gesetzt hatte. Beide starrten verdutzt das Kreuz auf ihrem Stuhl an.
„Was zum.... ”
„Sind Kreuze irgendwo im Angebot?”, fragte Debbie, doch als Lissianna sie verwirrt ansah, stellte sie fest, dass Debbie das Kreuz auf ihrem Stuhl gar nicht mehr beachtete, sondern ihren Blick durch den ganzen Raum wandern ließ. Lissianna folgte ihnen und sah auf einmal eine Unzahl von Kreuzen in ihrem Zimmer. Große, kleine, hölzerne, metallene jede nur erdenkliche Größe und Art war in ihrem Büro verteilt. Sie bedeckten ihren Schreibtisch, ihren Stuhl, die Regale, ihren Aktenschrank.... Sie waren einfach überall.
„Was soll denn das?”, murmelte sie erstaunt. Dann bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung und sah Vater Joseph, der in der Tür stand und sie ausdruckslos ansah. „Vater Joseph? Was.... ” Sie machte eine Geste, die den ganzen Raum mit all den Kreuzen umfasste.
„Ich habe Kreuze sortiert”, erklärte er entschuldigend.
„Kreuze sortiert?”, wiederholte Lissianna verblüfft. „In meinem Büro?”
„Ja.” Vater Joseph nickte. „Es war heute das einzige leere Büro.” Er machte ein paar Schritte in den Raum. „Ich wollte eigentlich damit fertig sein, bevor Sie kamen. Tut mir leid.” Er sah sich um, dann streckte er die Hand aus. „Wenn Sie mir einfach das Kreuz von Ihrem Stuhl reichen würden, fange ich an, sie wegzuräumen.”
Lissianna griff nach dem Kreuz und gab es ihm. Vater Joseph nahm es entgegen, starrte es schweigend an und drehte es hin und her. Dann wandte er sich der Tür zu. „Ich werde einen Karton für den Rest holen. Könnten Sie sie bitte einsammeln, bis ich wieder zurück bin?”
Sobald er außer Sicht war, sah Debbie Lissianna an und zog eine Braue hoch. „Er sieht furchtbar aus, findest du nicht?”
„Ja. Ich hoffe, er kommt bald über diese Schlaflosigkeit hinweg. Irgendetwas muss ihn wirklich sehr beschäftigen, wenn er trotz aller Müdigkeit noch immer unterwegs ist.”
Debbie nickte nachdenklich, während sie anfingen, die Kreuze einzusammeln. Bald schon kam Vater Joseph mit einem Karton zurück, und Lissiannas Büro war wieder kreuzfrei. Sie sah ihm nach, als er den Karton hinaustrug, und bemerkte seine hängenden Schultern und seinen bleiernen Gang. Der Mann war offenbar vollkommen erschöpft, dachte sie und schüttelte den Kopf. „Er muss wirklich endlich schlafen.”
„Ja”, stimmte Debbie seufzend zu. „Ich werde mit ihm sprechen und ihm raten, sich Schlaftabletten zu besorgen. So geht es nicht weiter.”
Das war ein Gedanke, dem Lissianna am Ende ihrer Schicht nur zustimmen konnte, als sie sich auf die Suche nach einem Kandidaten machte, um sich zu nähren, bevor sie nach Hause ging. Denn wiederum sah sie Vater Joseph durch die Flure streifen. Sie hätte in seine Gedanken schlüpfen und ihn wegschicken können, aber Lissianna vermied für gewöhnlich diese Spielchen bei den Leuten, mit denen sie zusammenarbeitete. Sie sah sie beinahe jeden Tag und hatte nicht das Bedürfnis, irgendetwas über sie zu erfahren, das es unangenehm machen würde, mit ihnen umzugehen.
Sie kam zu dem Schluss, dass sie es schaffen würde, einen Tag ohne Nahrung auszukommen besonders, da sie dank Thomas am Abend zuvor drei Beutel zu sich genommen hatte, und gestattete Vater Joseph daher, sie zum Auto zu bringen, wünschte ihm einen guten Tag und ließ den Motor an.
Sobald sie unterwegs war, musste Lissianna wieder an Greg denken. Er hatte versprochen, wach zu sein, wenn sie von der Arbeit kam. Er würde während ihrer Schicht schlafen und dann Kaffee und eine besondere Leckerei für sie bereitet haben, wenn sie nach Hause kam. Sie nahm an, dass es sich um die eine oder andere Art von Essen handelte, die er mochte obwohl er offenbar alle Arten von Essen mochte. Lissianna war eigentlich egal, was es sein würde. Sie war nur aufgeregt bei der Aussicht, ihn wiederzusehen.
Sie mochte ihn, unterhielt sich gern mit ihm, und der Mann konnte verdammt gut küssen.... wie sie herausgefunden hatte, als sie am vergangenen Abend zur Arbeit aufgebrochen war. Selbstverständlich hatten sie sich auch zuvor schon geküsst, aber diesmal waren sie nicht unterbrochen worden, er hatte keine Fesseln mehr gehabt, und sie war völlig hin gewesen. Sie freute sich schon auf eine Fortsetzung.
Lissianna lächelte bei dem Gedanken, als sie in die Garage fuhr. Erst als sie ausstieg und auf dem Weg zur Küchentür war, bemerkte sie den schwarzen Porsche, der neben dem roten Sportwagen ihrer Mutter stand. Der Anblick ließ sie zögern, und ihr Herz machte einen kleinen erschreckten Sprung.
Onkel Lucian war gekommen.
Sie schluckte mühsam, eilte dann ins Haus und direkt nach oben, und Angst um Greg umkrallte ihre Brust.
So aufgeregt sie war, vergaß Lissianna vollkommen, dass Greg in das Rosenzimmer ziehen wollte, damit sie in ihr eigenes Schlafzimmer zurückkehren konnte. Sie stürzte in ihr Schlafzimmer und erwartete, dort ihre Mutter, Lucian und Greg zu finden, aber der Raum war leer. Sie warf schnell ihre Tasche aufs Bett, drehte sich wieder um und fing die Tür gerade in dein Moment auf, als sie ins Schloss fiel. Sie hätte sie geöffnet und ihre Suche fortgesetzt, wenn nicht das Geräusch einer Tür, die am anderen Ende des Flurs geöffnet wurde, sie hätte innehalten lassen.
„Ich werde mich mit dem Rat in Verbindung setzen, Marguerite”, hörte sie Onkel Lucians tiefe Stimme.
„Du kannst das Telefon im Arbeitszimmer benutzen”, antwortete ihre Mutter ein wenig leiser.
Lissianna blieb starr stehen, während die Schritte sich langsam der Treppe näherten. Sie war vollkommen durcheinander. Er musste sich mit dem Rat in Verbindung setzen? Warum denn? Das klang gar nicht gut.
Sie eilte zur Tür des Rosenzimmers. Als sie hineinging, hatte sie beinahe Angst vor dem, was sie finden könnte. Wenn Lucian nicht imstande gewesen war, Gregs Erinnerung zu löschen, hatte er ihn vielleicht schon Sie atmete heftig, als sie Greg entdeckte, der sie vom Bett aus betrachtete. Sie hatten ihn wieder gefesselt und ihr Onkel rief den Rat an. Diese beiden Dinge zusammen ergaben kein angenehmes Bild.
„Ich wusste, dass du es warst.” Thomas’ Worte bewirkten, dass Lissianna zur Tür herumfuhr, als er und die Cousinen hereinkamen. „Ich hatte das Auto gehört”, erklärte er.
Mirabeau runzelte die Stirn und sagte: „Lissi, du scheinst nur noch aus Angst und Verzweiflung zu bestehen! Du solltest dich lieber zusammennehmen, denn wenn Marguerite und Lucian das merken, kommen sie gleich wieder rauf.”
Lissianna versuchte, die Panik zu unterdrücken, die sie beim Anblick des ans Bett gefesselten Greg überkommen hatte, dann zwang sie sich, gleichmäßig zu atmen und sich darauf zu konzentrieren, ihre Gedanken unter Verschluss zu halten. Starke Emotionen waren immer einfach zu erkennen. Sie schienen sich praktisch den anderen von selbst mitzuteilen, sodass jemand ihrer Art nicht einmal versuchen musste, Gedanken zu lesen, um sie zu empfangen. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war, dass ihre Mutter, Martine oder Onkel Lucian ihre Emotionen bemerkten und nachsehen wollten, was dahintersteckte. Und irgendwie musste sie genauso dafür sorgen, dass auch Greg seine Gedanken nicht ausstrahlte, wenn sie ihn aus diesem Durcheinander herausbekommen wollte.