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„Ich weiß, Sie sind wahrscheinlich stinksauer, weil Sie hier sind, aber es ist nicht Lissiannas Schuld, und sie braucht wirklich Ihre Hilfe.”
Greg atmete langsam aus. Er hatte den Atem so lange vor Spannung angehalten, bis Spiderman zu reden anfing. Er hatte keine klare Vorstellung davon, was er eigentlich erwartet hatte, aber das war es bestimmt nicht gewesen.
Der Mann, den Lissianna Thomas genannt hatte, schien Ende zwanzig oder Anfang dreißig zu sein und damit ein bisschen jünger als Greg selbst. Er sah auch ebenso gut aus wie jeder andere in diesem Irrenhaus, hatte dunkles Haar und dieselben durchdringenden silbrigblauen Augen wie Lissianna und ihre Mutter. Aber obwohl Greg ihn schon zweimal gesehen hatte und er beide Male freundlich gelächelt hatte, nahm Greg nicht an, dass Thomas oft solche Appel e an das Verständnis und die Hilfsbereitschaft anderer machte. Dennoch, für Lissianna schien er dazu bereit zu sein.
Greg sah zu, wie der Mann erst zum Fußende seines Bettes ging und dann wieder an seine Seite trat. „Sehen Sie, Lissianna.... ”
Er zögerte, dann sagte er: „Wir stehen uns sehr nahe. Meine Mutter ist kurz nach meiner Geburt gestorben, und mein Vater hatte keine Ahnung, was er mit mir anfangen sollte, also hat Tante Marguerite mich aufgenommen. Dasselbe hat sie für meine Schwester Jeanne Louise getan.”
„Sie und Ihre Schwester sind zusammen mit Lissianna aufgewachsen?”
„Wir haben zusammen gespielt, sind zusammen zur Schule gegangen.... wir.... stehen uns eben nahe”, schloss er hilflos.
„Wie Geschwister”, sagte Greg verständnisvol.
„Ja, genau.” Thomas lächelte. „Lissianna ist wie eine Schwester für mich, und Tante Marguerite wie eine Mutter.”
„Ich verstehe.” Greg nickte.
„Deshalb begreife ich auch, wieso Tante Marguerite Sie hergebracht hat. Ich weiß, dass sie sich schreckliche Sorgen um Lissianna macht. Ihre Phobie.... ” Er schüttelte unglücklich den Kopf. „Es ist schlimm. Es ist etwa so, als würden Sie beim Anblick einer Mahlzeit ohnmächtig und könnten deshalb nichts essen. Es wirkt sich auf ihr gesamtes Leben aus, und so war es schon immer.”
Thomas runzelte die Stirn und wanderte erneut zum Fußende und wieder zurück, während er fortfuhr: „Es war nicht so schlimm, als Jean Claude noch lebte. Lissianna ließ sich von Tante Marguerite Infusionen verabreichen, aber.... ”
„Wer ist Jean Claude?”, unterbrach Greg.
„Tante Marguerites Mann, Lissiannas Vater.”
„Warum ist er dann Jean Claude für Sie und nicht Onkel’, während Marguerite den Titel einer Tante verdient?”, fragte Greg neugierig.
Thomas kniff die Lippen zusammen. „Weil er nicht gerade ein netter Onkel war. Er hatte auch nicht viel von einem guten Ehemann oder Vater. Er war herrisch und wirklich altmodisch, und ich rede hier von ernsthaft altmodisch. Er war auch so bösartig wie eine Klapperschlange und hat Tante Marguerite und Lissi das Leben zur Hölle gemacht.”
„Und was ist mit Ihnen?”
„Was soll mit mir sein?”, fragte Thomas, aus dem Konzept gebracht.
„Na ja, Sie sagten, Sie seien von Ihrer Tante zusammen mit Lissianna aufgezogen worden; ich nehme an, dann mussten Sie sich auch mit Ihrem Onkel abgeben. Hat er Ihnen denn nicht auch das Leben zur Höl e gemacht?”
„Ach das.” Thomas tat es als unwichtig ab. „Mit mir war er nicht so streng. Außerdem musste ich mich nicht so lange mit ihm abgeben; ich bin ausgezogen, als ich neunzehn war.”
„Lissianna hätte das auch tun können”, bemerkte Greg, aber Thomas schüttelte den Köpf.
„Nein. Jean Claude erwartete, dass sie zu Hause lebte, bis sie heiraten würde.”
„Sie hätte rebellieren können”, schlug Greg vor, was ihm einen ungläubigen Blick von Thomas einbrachte.
„Man rebellierte nicht gegen Jean Claude”, informierte Thomas ihn ernst. „Außerdem hätte Lissi Tante Marguerite nie mit ihm allein gelassen. Jean Claudes Kopf war wirklich am Ende schlimm dran. Es war ziemlich erschreckend.”
„Er ist also tot”, murmelte Greg. „Wie ist er gestorben?”
„Ein Brand. Er hatte zu viel.... äh.... Alkohol getrunken und schlief mit einer Zigarette in der Hand ein. Daraus entstand ein großes Feuer, und dabei ist er umgekommen.”
Greg nickte.
„Wie auch immer.... ” Thomas fing wieder an, auf und ab zu laufen. „Das war das Beste, was er je für Tante Marguerite und Lissi getan hat, aber es versetzte Lissi auch in Panik. Sie fing an sich Gedanken zu machen, was sein würde, wenn auch Marguerite nicht mehr lebte. Wer würde sie versorgen? Also beschloss sie, unabhängig zu werden. Sie fing an, im Obdachlosenheim zu arbeiten, und jetzt ist sie auch noch zu Hause ausgezogen und versucht, sich selbst zu ernähren. Aber Tante Marguerite macht sich Sorgen um sie, und uns anderen geht es genauso.”
„Worüber?”, fragte Greg interessiert. Es klang für ihn so, als hätte der Tod ihres Vaters Lissianna befreit, sodass sie erwachsen werden konnte. Sie war wie ein Vogel, der flügge wurde.
„Dass sie wie Jean Claude werden wird.”
„Ihr Vater, der Alkoholiker?”, fragte Greg verwirrt. „Trinkt sie?”
„Nein, jedenfalls nicht absichtlich”, sagte Thomas. „Aber es ist ihre Phobie.”
Greg schüttelte den Kopf. Irgendwo hatte er den Faden des Gesprächs verloren. Bevor er um weitere Erklärungen bitten konnte, erstarrte Thomas und blickte lauschend zur Tür.
„Ich muss gehen; Tante Marguerite kommt zurück.” Er hielt kurz inne und sagte: „Ich weiß, dass Sie es nicht verstehen, aber Tante Marguerite wird Ihnen nachher sicher alles erklären. Wenn Sie es tut, vergessen Sie nicht, dass nichts davon Lissiannas Schuld ist.
Sie hat Sie nicht hergebracht, aber sie braucht Ihre Hilfe wirklich sehr.”
Dann schlüpfte er leise aus dem Zimmer. Einen Augenblick später hörte Greg Stimmengemurmel im Flur, dann wurde es still, und er hörte nur noch ein weit entferntes, leises Klicken einer Tür.
Es schien, als seien alle ins Bett gegangen.
Seufzend ließ er den Kopf wieder auf das Kissen fallen und dachte über das nach, was Thomas ihm gerade gesagt hatte. Die schöne Lissianna hatte wirklich kein einfaches Leben gehabt. Greg verzog das Gesicht, als ihm bewusst wurde, dass das wohl auf viele Leute zutraf. Vielleicht war das eine pessimistische Sichtweise, wie sie sein Beruf manchmal mit sich brachte, aber nach Jahren der Beratung von Gebrochenen und Missbrauchten kam es ihm tatsächlich so vor, als brächten nur wenige ihre Jugend ohne Verletzungen und Narben hinter sich.
Er hatte selbst einige. Seine Mutter war liebevoll und warmherzig gewesen, und seine Schwestern waren wunderbar, ebenso wie seine Tanten und Cousinen und der Best der großen Familie.
Aber sein eigener Vater war eine ziemlich traurige Gestalt gewesen, ein Schürzenjäger mit cholerischem Temperament.
Niemand trauerte ihm nach, als er sie dann eines Tages verließ.
Greg war noch klein gewesen, als sein Vater verschwand, doch hatte ihn das zu einem kleinen Hausvorstand gemacht. Man hatte ihm, als er aufwuchs, immer wieder gesagt, dass er „der einzige gute Mann hier draußen” sei. Das war eine gewaltige Belastung für den Jungen gewesen und vielleicht einer der Gründe, warum er immer noch allein war. Er wollte in den Augen seiner Mutter und seiner Schwestern nicht von dem „einzig Guten hier draußen”
zu einem der Bösen werden, falls er seine Ehe vermasseln würde.
Gregs Gedanken kamen abrupt zum Still stand, als die Schlafzimmertür wieder aufging. Er hob den Kopf und sah der Frau entgegen, die hereinkam. Es war die Brünette in dem roten Babydoll. Sie schloss die Tür sehr vorsichtig, dann gab sie ein erleichtertes Seufzen von sich, weil sie sein Zimmer ungesehen erreicht hatte. Dann wandte sie sich ihm zu und näherte sich dem Bett.
„Oh, gut, Sie sind wach”, flüsterte sie und setzte ein strahlendes Lächeln auf.
Greg fragte sich überrascht, was jetzt wohl kommen könne, als sie sich auf die Bettkante setzte und ihn prüfend ansah.
„Alle denken, ich bin im Bad, aber stattdessen habe ich mich hier raufgeschlichen, um Sie zu sehen”, erklärte sie, dann fügte sie hinzu: „Ich bin Elspeth, und ich wollte mit Ihnen über meine Cousine Lissianna sprechen.”
„Einverstanden.” Greg nickte und tat sein Bestes, nicht zu aufdringlich al die helle Elfenbeinhaut anzustarren, die von ihrem dürftigen Nachtgewand nicht bedeckt wurde. Es würde zumindest unhöflich wirken, wenn er sich nicht beherrschte, dachte er.
„Tante Marguerite hat Sie also hierher gebracht, um Lissianna zu behandeln. Aber Lissi scheint zu glauben, dass Sie sich so über
‘Tante Marguerites arrogante Vorgehensweise geärgert haben, dass Sie sich weigern werden, ihr zu helfen, und sie braucht wirklich Ihre Hilfe.” Elspeth hielt erwartungsvoll inne.
„Aha”, murmelte Greg, um das Schweigen zu brechen, aber als sie nicht fortfuhr, sondern ihn nur mit Stiller Erwartung ansah, fragte er: „Um was genau geht es denn bei Lissiannas Phobie?”
Die Brünette blinzelte überrascht. „Wollen Sie damit sagen, dass Ihnen das noch niemand mitgeteilt hat?”
Er schüttelte den Kopf.
„Oh.” Sie biss sich auf die Lippe. „Nun, vielleicht sollte ich es dann auch nicht tun. Ich meine, Lissianna behauptet, sie kann Ihre Gedanken nicht lesen, aber Tante Marguerite kann es offenbar, und wenn sie liest, dass Sie wissen, was für eine Phobie es ist, und sie es Ihnen nicht gesagt hat, fragt sie sich vielleicht, wer es war, und ihr wird klar werden, dass ich mich hier hereingeschlichen habe und.... ” In plötzlichem Entsetzen riss sie die Augen auf und stand abrupt auf. „Um Himmels willen! Sie weiß vielleicht jetzt schon, dass ich hier bin.”
Greg starrte sie einfach nur an. Lissianna hatte etwas darüber fallen lassen, dass sie nicht in der Lage war, seine Gedanken zu lesen, als sie das erste Mal in diesem Zimmer gewesen war, und jetzt sprach diese Frau auch davon. Was war mit diesen Leute nur los? Sicher glaubten sie doch nicht wirklich, dass sie die Gedanken anderer lesen konnten.
Selbstverständlich taten sie das doch, berichtigte er sich, als er sich daran erinnerte, dass die Mutter es wirklich getan hatte.
Vielleicht übersinnliche Fähigkeiten, die in der Familie liegen, dachte er. Wie faszinierend.
„Ich sollte wohl lieber gehen.” Die Brünette war jetzt vollkommen aus dem Häuschen. „Aber bitte versuchen Sie zu vergessen, dass ich hier war. Nur würden Sie Lissianna bitte helfen? Sie ist wirklich lieb und witzig und klug, und diese Phobie ist solch eine Last für sie. Sie sollten ihr wirklich helfen. Sie werden sie ebenfalls mögen, wenn Sie sie erst besser kennen, und wenn Sie ihr helfen, werden Sie dazu ja Gelegenheit haben”, sagte sie und wich zur Tür zurück. „Und jetzt vergessen Sie einfach, dass ich hier war, und versuchen Sie, nicht daran zu denken, wenn Tante Marguerite morgen früh kommt, um nach Ihnen zu sehen, ja?”
Elspeth wartete nicht auf eine Antwort, sondern öffnete die Tür, steckte den Kopf hinaus, um zu sehen, ob die Luft rein war, dann winkte sie noch einmal und huschte davon.
Greg schüttelte den Kopf und ließ ihn wieder auf das Kissen lallen. Er hatte das Gefühl, mitten in einer Filmepisode von Unwahrscheinliche Geschichten zu stecken, und zwar in einer, die er noch nie zuvor gesehen hatte.
Lissianna behandeln? Sie brauchten alle dringend eine Behandlung, dachte er, dann erstarrte er, als er hörte, dass sich die Tür schon wieder öffnete. Diesmal hob er nicht den Kopf, um hinzusehen, sondern wartete mit geschlossenen Augen und horchte auf das Flüstern, als die Tür leise wieder zuging und er die Geräusche von mehreren Personen hörte, die sich vorsichtig dem Bett näherten.
„Verflixt, er schläft”, wisperte eine der Personen enttäuscht.
„Dann müssen wir ihn eben wecken, Juli”, flüsterte eine andere Stimme pragmatisch zurück. „Das hier ist wichtig. Er muss Cousine Lissi helfen.”
„Ja, da hast du recht, Vicki.” Kurze Pause und dann: „Wie sollen wir ihn denn wecken?”
Greg kam zu dem Schluss, dass er lieber nicht in Erfahrung bringen wollte, was sie sich ausdenken würden, also öffnete er die Augen und entdeckte die Zwillinge mit dem rötlich braunen Haar.
Sie standen zu beiden Seiten des Bettes, und er schaute von der in Pfirsich zu der in Blau und fragte sich, welche Juli und welche Vicki war.
„O Vicki, er ist wach, er hat die Augen aufgemacht”, stellte das Mädchen in Blau erleichtert fest. Das war also Juli.
„Gut”, sagte Vicki, dann teilte sie ihm mit: „Wir wollten Sie gerade wecken.”
„Wir haben den anderen gesagt, wir holten uns etwas zu trinken, aber wir wollen in Wirklichkeit mit Ihnen reden”, fügte Juli hinzu.
„Über unser Cousine”, schloss Vicki.
„Warum bin ich nicht überrascht, das zu hören?”, fragte Greg ironisch, und die Zwillinge wechselten einen unsicheren Blick, dann zuckten sie gleichzeitig die Schultern und setzten sich auf die gegenüberliegenden Bettkanten.
Es würde eine sehr lange Nacht werden, dachte Greg mit einem Seufzen.
Eine Viertelstunde später schloss sich die Schlafzimmertür hinter ihnen, und Greg fing an, über sein Gespräch mit den Zwillingen nachzudenken. Sie waren ein charmantes Paar, und offensichtlich hielten sie viel von Lissianna, aber das galt offenbar für jeden, der an diesem Abend in diesem Raum gewesen war, inklusive ihrer Mutter Grund genug jedenfalls dafür, dass er sich jetzt hier befand.
Es war vor allem Marguerites eigenmächtige Entscheidung, die ihnen allen Sorgen machte. Sie fürchteten, dass er es Lissianna anlasten würde, dass ihre Mutter ihn hergebracht hatte, und dass er sich deshalb weigern würde, ihr zu helfen. Und das verwirrte Greg. Er war schließlich aus eigenem Willen in den Kofferraum gestiegen und in dieses Zimmer gegangen, um sich fesseln zu lassen. Und obwohl er seine eigenen Handlungen nicht verstand, konnte er ja wohl kaum Marguerite die Schuld daran geben.
Nicht wahr?
Unfähig, seine eigene Frage zu beantworten, warf Greg immer wieder einen Blick zur Tür und fragte sich, wann sie sich das nächste Mal öffnen würde. Wenn er sich recht erinnerte, waren sechs Personen bei Lissianna gewesen, als er erwacht war und sie alle um sein Bett herumstanden. Vier waren bereits bei ihm gewesen. Er nahm an, das bedeutete, dass ihn mindestens noch zwei weitere aufsuchen würden.
Er irrte sich nicht. Nur einen Moment später ging die Tür auf, und eine Frau in lavendelfarbenem Babydoll kam herein. Greg beobachtete, wie sie näher kam, und schüttelte innerlich den Kopf. Eins musste man dieser Familie lassen, dachte er, sie hatten wirklich einen guten Geschmack, was Nachtbekleidung anging.
Selbstverständlich, wenn man das männliche Familienmitglied nicht mitzählte, fügte er noch hinzu, als er sich an Thomas’ Spiderman-Pyjama erinnerte.
„Hallo, es tut mir leid, Sie zu stören”, sagte die junge Frau leise, als sie das Bett erreicht hatte. „Aber ich bin Jeanne Louise, Lissiannas Cousine, und ich möchte mit Ihnen über sie reden.”
„Jeanne Louise”, murmelte Greg. „Sie sind Thomas’ jüngere Schwester.”
Als sie überrascht nickte, fügte er hinzu: „Und alle denken, dass Sie im Bad sind, aber Sie sind hierher gekommen, um mich zu bitten, meinen Ärger darüber, dass ich hier bin, nicht meine Entscheidung beeinflussen zu lassen, ob ich Lissianna helfe oder nicht.”
„Oh”, hauchte Jeanne Louise staunend.
„Und Sie wollen mich bitten, ihr auf jeden Fall zu helfen”, fuhr Greg fort. „Denn sie braucht wirklich meine Hilfe, und Sie machen sich große Sorgen um sie.”
„Unglaublich.” Jeanne Louise sank auf die Bettkante, die Augen vor Erstaunen riesengroß. „Sie sind wirklich gut. Ich wusste nicht, dass Psychologen so etwas herausfinden können und mit sowenig.... ”
„Ihr Bruder hat vorhin mit mir gesprochen und erwähnt, dass der Name seiner Schwester Jeanne Louise ist”, unterbrach Greg sie freundlich. „Er verlieh seiner Sorge um Lissianna Ausdruck und bat mich, ich soll e mich von meinem Arger über ihre Mutter unter keinen Umständen davon abhalten lassen, ihr zu helfen.”
„Oh.” Jeanne Louise lächelte dünn. „Ja. Das ist typisch für ihn. Er und Lissianna haben einander immer nahegestanden.”
„Stört Sie das?”, fragte Greg neugierig.
Sie schien über die Frage überrascht zu sein, schüttelte aber den Kopf. „O nein, sie und ich stehen uns ebenfalls nahe. Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt, und Tante Marguerite hat mich aufgezogen, ebenso wie Thomas.”
„Die gleiche Mutter wie die von Thomas oder.... ”
„Nein, eine andere Mutter”, sagte Jeanne Louise, dann verzog sie kurz das Gesicht, als Erinnerungen in ihr hochstiegen, und sie sagte: „Vater hatte nicht viel Glück mit seinen Frauen. Ich war die Tochter seiner dritten Frau. Thomas’ Mutter war Vaters zweite Frau.”
„Gibt es auch einen Bruder oder eine Schwester von der ersten Frau?”, fragte Greg neugierig.
Jeanne Louise schüttelte den Kopf. „Seine erste Frau war schwanger, als sie starb, aber das Kind ist nicht zur Welt gekommen.”
„Eindeutig Pech mit Frauen”, stimmte Greg zu, dann sagte er:
„Aber Sie sind zusammen mit Lissianna und Thomas aufgezogen worden, nachdem Ihre Mutter gestorben war?”
„Thomas war bereits ausgezogen und lebte für sich, aber Lissianna war noch da”, sagte Jeanne Louise. „Sie war erheblich älter als ich und kümmerte sich um mich. Als ich klein war, war sie wie eine zweite Mutter oder Tante für mich. Jetzt sind wir Freundinnen.”
Greg starrte sie verständnislos an, und sein Hirn rebellierte gegen das, was sie gerade behauptet hatte. Thomas war alt genug, um ausgezogen zu sein, als diese Frau zur Welt kam? Und Lissianna war alt genug, um sich wie eine zweite Mutter um sie zu kümmern? Das konnte auf keinen Fall der Wahrheit entsprechen.
Die drei schienen einander im Alter zu nahe zu sein, als dass das stimmen konnte. Er würde akzeptieren, dass es einen Altersunterschied von einem oder zwei Jahren zwischen Jeanne Louise und den beiden anderen gab, aber das war’s auch schon.
Bevor er seine Gedanken in Worte fassen konnte, ging die Schlafzimmertür erneut auf, und die Frau mit den fuchsienroten Haarspitzen im mintgrünen Babydoll kam herein. Sie zögerte, als sie Jeanne Louise sah, dann machte sie ein resigniertes Gesicht und trat trotzdem ein.
„Ich dachte einfach, ich komme und rede mit ihm”, murmelte sie und näherte sich dabei dem Bett.
„Ich weiß, Mirabeau. Ich bin ebenfalls hier, um ihn zu bitten, Lissi zu helfen”, sagte Jeanne Louise, dann grinste sie und fügte hinzu: „Denken sie, dass du auch im Bad bist?”
Mirabeau lächelte schwach. „Nein, ich sagte, ich würde mir etwas zu trinken holen.”
„Und stattdessen sind Sie alle hergekommen”, sagte Greg, und die beiden Frauen sahen ihn überrascht an.
„Wir alle?”, fragte Mirabeau.
Greg nickte. „Thomas war zurückgeblieben, als Sie alle gegangen sind. Dann kam eine Brünette in einem roten Babydoll herein.”
„Elspeth”, informierte Jeanne Louise ihn.
Greg nickte erneut. „Und dann die Zwillinge.... Juli und Vickie?”
„Ja”, bestätigte Jeanne Louise.
„Und jetzt Sie und.... ” Sein Blick ging zu der Frau mit dem schwarzen und fuchsienroten Haar, und er fragte: „Mirabeau?”
Sie nickte.
„Naja.... ” Jeanne Louise seufzte. „Ich nehme an, wenn schon alle anderen hier waren, verschwenden Mirabeau und ich wohl nur unsere Zeit und haben Sie wegen nichts gestört.”
„Nicht wegen nichts”, versicherte er ihr. „Ich habe viel von Ihnen allen gelernt.”
Sie sah ihn zweifelnd an, aber er fügte seinen Worten nichts mehr hinzu, und so sagte Mirabeau: „Wir sollten lieber zurückgehen, bevor Martine oder Marguerite von unserem Treiben Wind bekommen.”
Jeanne Louise nickte und stand auf, dann zögerte sie und sagte: „Lissianna braucht wirklich Ihre Hilfe. Sie könnten ihr das Leben so sehr erleichtern, wenn Sie ihre Phobie heilten.”
„Ja, das könnten Sie, und wir wären Ihnen alle dankbar”, fügte Mirabeau feierlich hinzu, dann verließen die beiden das Zimmer.
Greg ließ den Kopf wieder zurückfallen. Er hatte immer noch keine Ahnung, um was es bei Lissiannas Phobie ging. Nachdem Elspeth in Panik geraten war, hatte er sich nicht mehr die Mühe gemacht, die anderen zu fragen. Nicht, dass er eine Chance gehabt hätte, die Zwillinge viel zu fragen. Die beiden waren ein eingespieltes Team, wenn es zu Gesprächen kam wenn eine nichts sagte, tat es die andere. Sie hatten auf beiden Seiten des Betts gesessen und ihm klargemacht, dass er ihrer Cousine einfach helfen müsse, dass es lebenswichtig für ihr künftiges Wohlergehen sei und dass es einfach herzzerreißend sei mit anzuschauen, wie sie wegen dieser „Phobie” leiden müsse. Und sie war nicht die Einzige, die litt. Ihre Tante Marguerite litt mit ihrer Tochter, ebenso wie al e, die sie liebten, und das musste einfach aufhören. Sie hofften wirklich, dass er imstande sein würde, sie zu heilen, und würden ihm bis ans Ende aller Zeiten dankbar dafür sein.
Das kurze Gespräch mit Jeanne Louise und Mirabeau war im Vergleich dazu ruhig verlaufen, aber Greg hatte auch sie nicht nach der Phobie gefragt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er geglaubt, er wüsste, um was es ging. Thomas hatte ja gesagt, es sei, als würde man beim Anblick von Essen ohnmächtig. Dauernd. Greg hatte gedacht, Lissiannas Vetter würde das Beispiel nur benutzen, um zu zeigen, wie schwerwiegend die Phobie war, aber dann hatte Thomas erwähnt, dass sie unter anderem intravenös ernährt werden müsse, und er hatte daraus geschlossen, dass Lissianna beim Anblick von Essen tatsächlich ohnmächtig würde oder dass sie sich nicht dazu überwinden konnte, es zu sich zu nehmen.
Und beides waren in der Tat Phobien, die geheilt werden mussten.
Er verstand nicht, was der Alkohol damit zu tun hatte, aber es war möglich, dass sie anfing, sich mit Alkohol abzustumpfen, um die Probleme in ihrem Leben auszublenden.
Nein, er hatte sich nicht die Mühe gemacht, nach ihrer Phobie zu fragen, aber die Wahrheit gesagt, als er Jeanne Louise und Mirabeau mitgeteilt hatte, dass sie nicht umsonst zu ihm gekommen seien. Er hatte tatsächlich viel gelernt. Greg hatte erfahren, dass Lissianna von den Ihren sehr geliebt wurde, dass sie sie für intel igent, freundlich, liebevoll und einen guten Menschen hielten und dass sie sich alle wünschten, sie wäre gesund und es ginge ihr gut. Offenbar war Lissianna nicht nur äußerlich schön, sondern ihr Wesen entsprach auch ihrem Aussehen.
Was sehr schön ist, dachte Greg und gestand sich ein, dass er ihr gerne helfen würde. Nun ja, wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, war er zwar beeindruckt, dass alle so viel von ihr hielten, aber er wollte ihr ebenso sehr wegen dieser kleinen Episode mit den Küssen und dem Am-Hals-Saugen helfen.
Er verdrehte die Augen über sich selbst, wurde sich eines Juckens oben an seiner Schulter bewusst und versuchte instinktiv, dorthin zu fassen. Doch wurde er von den Stricken um seine Handgelenke davon abgehalten. Er hatte sie ganz vergessen.
Überrascht blinzelnd betrachtete er sie, dann schloss er die Augen und sank seufzend zurück. Es war nicht zu fassen. An diesem Abend waren neun Leute in dieses Zimmer gekommen. Sechs nur knapp bekleidete Frauen, ein MöchtegernSpiderman und die Tanten Martine und Marguerite. Die meisten waren sogar öfter als einmal im Raum gewesen, und was hatte er erreicht? Hatte er sie davon überzeugen können, ihn freizulassen, oder hatte er sich auch nur darum bemüht? Nein, Greg hatte das Wesentliche aus den Augen verloren und sich in das Drama dieser verrückten Familie hineinziehen lassen.
Er trat sich im Geist in den Allerwertesten, dann sah er sich im Zimmer um, aber es gab keine Uhr, die ihm gezeigt hätte, wie spät es war. Er vermutete jedoch, es müsse früher Morgen sein.
Immer noch genug Zeit, seinen Flug zu erwischen, wenn er hier herauskam. Wahrscheinlich würde es ihm nicht gelingen, sich von den Fesseln zu befreien, aber wenn noch jemand kommen sollte, um mit ihm zu sprechen, konnte er diese Person vielleicht überreden, ihn gehen zu lassen.
Er nahm sich vor zu versprechen, dass er Lissianna behandeln würde, sobald er aus Mexiko zurück sei, wenn sie ihn jetzt losbanden, und überlegte es sich dann sofort wieder anders. Vielleicht wäre es doch besser, wenn ein anderer Therapeut sie behandelte.
Greg hatte mehrere Kollegen, die ihr ebenso gut helfen konnten wie er selbst. Nicht, dass er etwas dagegen gehabt hätte, sie zu behandeln. Aber nach dieser Sache mit den Küssen und mit seinen so ganz und gar nicht ärztlichen Gefühlen für sie wäre es aus ethischen Gründen besser, es jemand anderem zu übertragen.
Das würde es ihm erlauben, eine Beziehung mit ihr einzugehen, um die Gefühle zu erforschen, die er für sie hegte.
Greg würde ihnen allerdings nichts davon sagen. Er würde sich nicht einmal gestatten, solche Gedanken in seinem Kopf aufkommen zu lassen, denn es bestand durchaus die Möglichkeit, dass Marguerite sie lesen könnte. Er würde einfach zustimmen, dafür zu sorgen, dass sie behandelt würde, sobald er zurückkam.
Und dann konnte er immer noch das Thema eines anderen Therapeuten ansprechen.
Zufrieden mit seinem Plan, schaute Greg erwartungsvoll auf die Tür. Es war hier die letzte Zeit wie in der Grand Central Station zugegangen, mit all diesem Kommen und Gehen. Er war sicher, er würde nicht lange warten müssen, bis wieder jemand auftauchte, um mit ihm zu sprechen. Vielleicht würde es ja Lissianna selbst sein.