PROLOG
November 2000
„Bitte, es ist wirklich nur eine ganz normale kleine Dinnerparty.”
„Mhmmhm.” Greg Hewitt hatte sich das Telefon zwischen Schulter und Hals geklemmt und hielt es mit dem Kinn fest, während er anfing, seinen Schreibtisch aufzuräumen, weil er bald gehen wollte.
Annes Stimme hatte jetzt diesen knatschigen Tonfall, was immer ein schlechtes Zeichen war. Mit einem innerlichen Seufzer schüttelte er den Kopf, während seine Schwester nicht aufhörte zu reden und ihm erzählte, was sie als Essen geplant hatte: alles in dem Versuch, ihn zu überreden, doch zu kommen. Ihm fiel auf, dass sie nicht erwähnte, wer sonst noch bei diesem kleinen Dinner anwesend sein würde. Er befürchtete jedoch, es bereits zu wissen. Greg bezweifelte nicht, dass es wieder einmal nur Anne, ihr Mann John und eine weitere al einstehende Freundin sein würden, die sie hoffte mit ihrem immer noch unverheirateten älteren Bruder verkuppeln zu können.
„Also?”
Greg verscheuchte seine Überlegungen und nahm das Telefon in die Hand. Offenbar war ihm etwas entgangen. „Tut mir leid, was hast du eben gesagt?”
„Wann wirst du morgen hier sein?”
„Ich komme nicht.” Bevor sie losjammern konnte, fügte er schnell hinzu: „Ich kann nicht. Ich werde morgen nicht mal im Land sein.”
„Was?” Sie hielt kurz inne, dann ertönte ein misstrauisches: „Warum? Wohin fährst du denn?”
„Nach Mexiko. Ich mache Urlaub. Das ist überhaupt der Grund, wieso ich anrufe. Ich fliege gleich morgen früh nach Cancün.”
Er wusste, dass es ihr die Sprache verschlagen hatte, und erlaubte sich ein kleines Zucken der Belustigung um die Mundwinkel, während er gleichzeitig mit dem Telefon jonglierte, um in sein Anzugsakko zu schlüpfen, das er im Laufe des Tages abgelegt hatte.
„Mexiko?”, fragte Anne nach einer langen Pause, „Urlaub?”
Greg konnte nicht entscheiden, ob ihr Staunen Belustigung verriet oder nur ihre Betrübnis über sein bisheriges Leben kommentierte. Das hier war sein erster Urlaub, seit er vor acht Jahren seine psychologische Praxis eröffnet hatte. Tatsächlich hatte er seit Beginn seines Studiums keine richtigen Ferien mehr gemacht.
Er war ein typischer Workaholic, der unbedingt Erfolg haben wollte und bereit war, seine gesamte Zeit in Arbeit zu stecken, um dieses Ziel zu erreichen. Freizeit hatte er so gut wie keine gehabt.
Dieser Urlaub war also seit Langem überfällig.
„Anne, ich muss gehen. Ich schicke dir eine Postkarte aus Mexiko. Bis dann!” Greg legte auf, bevor sie noch etwas sagen konnte, dann griff er nach seiner Aktentasche und floh aus dem Büro. Es überraschte ihn nicht, das Telefon klingeln zu hören, als er die Tür hinter sich schloss. Anne gab nicht so schnell auf. Mit einem dünnen Lächeln ignorierte er das Läuten jedoch und steckte den Schlüssel ein, während er den Flur entlang zum Fahrstuhl eilte.
Dr. Gregory Hewitt befand sich nun offiziell im Urlaub, und diese Gewissheit bewirkte, dass er sich bei jedem Schritt, der ihn weiter von seinem Büro wegführte, entspannter fühlte. Tatsächlich pfiff er leise, als er den Fahrstuhl betrat und den Knopf für P3 drückte. Das Pfeifen erstarb jedoch schnell auf seinen Lippen, als Greg sah, dass eine Frau mit hastigen Schritten auf die sich schließenden Türen zukam. Er griff instinktiv nach der Schalttafel des Fahrstuhls, und sein Blick suchte nach dem HALT-Knopf, um die Tür wieder zu öffnen. Doch er hätte sich keine Gedanken zu machen brauchen, denn die Frau war schnell, und es gelang ihr, in die Kabine zu schlüpfen, bevor die Türen sich ganz geschlossen hatten.
Greg ließ die Hand wieder sinken und trat höflich zur Seite, damit sie das von ihr gewünschte Stockwerk wählen konnte. Er sah sie neugierig von oben bis unten an, als sie sich vor ihn stellte, und fragte sich, woher sie wohl gekommen war.
Der Flur war vollkommen leer gewesen, als er hergekommen war, und er hatte nicht einmal gehört, dass sich eine Tür geöffnet oder geschlossen hatte. Aber er war auch mit seinen Gedanken bei seinem bevorstehenden Urlaub gewesen. Es gab mehrere Büros auf dem Stockwerk, und sie konnte aus jedem von ihnen gekommen sein. Er war sich jedoch sicher, dass er sie noch nie zuvor dort gesehen hatte.
Greg hatte kaum ihr Gesicht sehen können, als sie eingestiegen war, und der größte Teil davon war nur verschwommen in seiner Erinnerung, aber ihre Augen waren von einem silbrigen Blau gewesen, das seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Ungewöhnlich und schön, aber wahrscheinlich das Ergebnis gefärbter Kontaktlinsen, dachte er und verlor sofort das Interesse an ihr.
Greg bewunderte schöne Frauen und fand überhaupt nichts dabei, wenn sie das Beste aus ihrem Aussehen machten. Nur wenn sie diese Art von Künstlichkeit einsetzten, um noch attraktiver zu wirken, ging ihm das eher gegen den Strich.
Doch dann schüttelte er jeden Gedanken an sie ab, lehnte sich entspannt an die Bückwand der Kabine und begann sofort wieder, an seinen bevorstehenden Urlaub zu denken. Greg hatte zwar schon oft Ausflüge geplant, war aber noch nie zuvor in einem Land wie Mexiko gewesen und wollte alles genießen, was es dort gab. Außer dem üblichen Strandurlaub hoffte er auf Fallschirmsegeln und Schnorcheln, und vielleicht gab es dort sogar eine dieser Bootsfahrten, auf denen man Delfine beobachten konnte.
Er hoffte auch, das Museum Casa Maya besuchen zu können, einen ökologischen Park mit einer Reproduktion des vor Jahrhunderten versunkenen Alltagslebens der Mayas und mit ausgeschilderten Wegen, von denen aus man die lokale Tierwelt betrachten konnte. Und dann natürlich das Nachtleben! Wenn er nach seinen Besichtigungen tagsüber noch Energie haben sollte, würde er es vielleicht mit Tanzbars wie dem Coco Bongo oder dem Bulldog Cafe versuchen, wo die Gäste halbnackt zu ohrenbetäubender Musik herumwirbelten.
Das fröhliche Bing des Fahrstuhls lenkte Gregs Gedanken wieder von den halbnackten tanzenden Frauen ab hin zur Anzeige über den Türen. P3 leuchtete, Parkebene drei. Sein Stockwerk.
Er nickte der Frau höflich zu, trat aus dem Fahrstuhl und durchquerte dann die große, beinahe leere Parkfläche. Am Rande seiner Gedanken tanzten immer noch halbnackte Frauen, deshalb brauchte Greg eine Minute, um die Schritte hinter sich zu bemerken. Er hätte beinahe einen Blick über die Schulter zurückgeworfen, um zu sehen, wer es war, tat es dann aber doch nicht. Das Geräusch war das hohle Klackern von hohen Absätzen auf Beton; scharf und schnell und laut in dem weiten Raum widerhallend. Die Brünette hatte offenbar auch auf diesem Stockwerk geparkt.
Sein Blick wanderte zerstreut dorthin, wo sein Auto sein sollte, blieb aber an einem der Stützpfeiler hängen, an dem er vorbeikam. Das große, auf den Beton gemalte PI bewirkte, dass er verwirrt langsamer wurde. Die Parkebenen 1 und 2 waren für Besucher der diversen Büros und Geschäfte im Gebäude reserviert. Sein Auto stand auf P3, und er war sicher, die Anzeige im Fahrstuhl hatte genau das angegeben, als er hinschaute.... aber offensichtlich hatte er sich geirrt. Er blieb stehen und wollte sich wieder in die Richtung wenden, aus der er gekommen war.
Das hier ist die richtige Ebene. Das da vorn ist das Auto.
„Ja, selbstverständlich”, murmelte Greg und setzte seinen Weg fort. Er ging bis zu dem einzigen Auto auf der Etage.
Erst als er den Kofferraum öffnete, wurde ihm schockartig klar, dass der kleine rote Sportwagen überhaupt nicht sein Auto war.
Er fuhr einen dunkelblauen BMW. Aber so schnell ihm dieser Gedanke gekommen war, so schnell war er auch schon wieder verschwunden, aufgelöst wie Nebelschwaden von einem Windstoß.
Greg beruhigte sich, stellte seine Aktentasche in den Kofferraum, stieg selbst hinterher, rückte sich in dem kleinen Raum zurecht und zog dann den Kofferraumdeckel über sich zu.