11
„Sie ist schon wach!” Sie zuckten gehörig zusammen, als Vicki diesen Aufschrei von sich gab auch Thomas, der erschrocken eine Vollbremsung mit dem Van machte, die sie alle nach vorn in die Gurte fliegen ließ. „Himmel!”, murmelte Lissianna, dankbar, dass sie sich angeschnallt hatte.
„Vicki, mein Liebes”, flötete Thomas mit gekünstelter Freundlichkeit, nachdem er eingeparkt hatte. „Wenn du das je wieder tust, wenn ich fahre, werde ich dir deinen dünnen kleinen Hals umdrehen.”
„Tut mir leid, Thomas.” Das Mädchen klang allerdings nicht sonderlich reuevoll. „Ich war einfach so erschrocken zu sehen, dass Tante Marguerite auf uns wartet. Ich meine, Lissianna dachte doch, wir würden zurück sein, bevor alle anderen wach sind, aber Tante Marguerite ist bereits wach.”
„Und sie sieht ziemlich verärgert aus!”, stellte Juli fest.
Lissianna musste ihnen recht geben. Ihre Mutter sah tatsächlich verärgert aus, wie sie da in der offenen Tür zwischen Haus und Garage stand. Tatsächlich genauso sehr wie gestern, obwohl sie inzwischen ja wohl gesehen hatte, dass sie Greg wieder mit zurückgebracht hatten.
Er saß wieder auf dem Beifahrersitz neben Thomas. Die Jungs, hatte Thomas gesagt, sollten vorn sitzen. Eine vollkommen sexistische Entscheidung, hatte Juli sich beschwert, aber Lissianna hatte sich nicht daran gestört, denn es bedeutete, dass Thomas Greg mochte. Aus irgendeinem Grund freute sie das.
„Also gut.” Thomas schaltete den Motor aus und schnallte den Sicherheitsgurt ab. „Gebt euch lässig. Es gibt keinen Grund, wieso Tante Marguerite wütend sein sollte. Winkt ihr einfach nur zu und lächelt, und dann laden wir die Lebensmittel aus und gehen zusammen rein. Einverstanden?”
„Einverstanden”, antworteten sie einstimmig und machten sich fertig zum Aussteigen. Im Nu war der Wagen wieder erfüllt von lautem Geschnatter und dem Öffnen und Schließen von Türen.
„Danke”, murmelte Lissianna, als Greg ihr die Hand reichte, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Er drückte ihre Finger ein wenig, dann drehte er sich um, um der nächsten behilflich zu sein, während Lissianna Mirabeau zur Rückseite des Vans folgte. Sie warf einen hoffnungsvollen Seitenblick auf die Tür zwischen Garage und Haus, musste aber feststellen, dass ihre Mutter immer noch dort stand. Lissianna seufzte, und es tat ihr leid, dass sie wieder da waren. Die letzten Stunden waren so entspannt gewesen und hatten einfach Spaß gemacht, sie hatten so viel miteinander gescherzt und gelacht. Greg hatte sich, sobald er nicht mehr ans Bett gefesselt war, als Gentleman erwiesen. In dem Restaurant, in das Thomas sie zum Essen geführt hatte, hatte Greg die Tür aufgehalten und Stühle mit einem Alte-Welt-Charme zurechtgerückt, den Lissianna bei den meisten modernen Männern stets vermisst hatte.
Juli, Vicki und Greg waren die Einzigen, die etwas gegessen hatten. Die anderen hatten einfach nur Kaffee oder Saft getrunken und amüsiert zugesehen, wie die drei ihr Frühstück verschlungen hatten, als hätten sie tagelang gefastet.
Danach waren sie in einem Lebensmittelladen gewesen. Sobald sie drin waren, hatten sich die Zwillinge gestritten, wer den Einkaufswagen schieben durfte. Greg hatte die Auseinandersetzung entschieden, indem er vorschlug, er würde sich darum kümmern, was ihnen beiden genug Gelegenheit geben würde zu entscheiden, was sie hineintun wollten. Nicht, dass er nicht selbst auch für sich etwas ausgesucht hätte; seine Schwäche für Süßigkeiten schien ebenso ausgeprägt zu sein wie die der Zwillinge. Am Ende war der Einkaufswagen vor allem vol mit Junkfood gewesen. Es gab Süßigkeiten, salzige Leckereien, tiefgefrorene Mahlzeiten, Hotdogs und Pizza und drei verschiedene Arten nichtalkoholischer Getränke. Man hätte glauben können, Greg und die Mädchen wollten eine einen Monat andauernde Pyjamaparty feiern.
„Du meine Güte”, murmelte Lissianna, als sie und Mirabeau als Erste die Rückseite des Vans erreichten und Thomas die Doppeltür öffnete, damit sie die Lebensmittel herausholen konnten. „Ich begreife überhaupt nicht, dass wir so viel gekauft haben. Wer soll denn das alles nur essen?”
„Man sollte annehmen, wir bleiben einen Monat, wie?”, sagte Elspeth amüsiert, die ihnen gefolgt war.
„So viel ist es ja nun wirklich nicht”, protestierte Vicki.
„Wir haben hier genug, um eine zehnköpfige Familie zu füttern”, stellte Mirabeau fest.
„Nur zwei heranwachsende Mädchen und einen großen starken Sterblichen mit gesundem Appetit”, konterte Juli.
„Zwei heranwachsende Mädchen und ein großer starker Sterblicher mit gesundem Appetit für Junkfood?”, fragte Jeanne Louise zweifelnd und sah dabei Greg an. „Ich kann verstehen, dass sich die Mädchen auf diese Weise ernähren, sie sind Teenager, aber Sie essen doch sicher zu Hause nicht so?”
„Nein”, gab er grinsend zu. „Ich esse gesundes Zeug: Obst, Gemüse, Reis und Huhn.” Er beugte sich vor, um zwei der drei Getränkekästen aus dem Van zu heben, und wartete darauf, dass Thomas den letzten nahm, bevor er den El bogen einsetzte, um eine der Türen zuzustoßen, als er hinzufügte: „Aber ich bin diese Woche im Urlaub, also dachte ich, ich sollte mir das irgendwie auch durch spezielle Kost klarmachen. Nächste Woche gibt es wieder nur Gesundes und Sport.”
„Ihr Sterblichen.” Thomas lachte leise, als er die zweite Tür mit einem Schubs schloss. „Ihr verbringt eine oder zwei Wochen im Jahr im Urlaub und esst alles, was euch schmeckt, und dann tut ihr fünfzig Wochen lang Buße. Das muss deprimierend sein.”
„Hmm.” Greg verzog den Mund, als sich die Gruppe widerstrebend auf die Tür zubewegte, vor der Marguerite auf sie wartete. „Ich nehme an, ihr braucht euch bei eurer Blutdiät keine Sorgen um euer Gewicht zu machen, aber ich glaube, ich bleibe doch bei Fritten und Pizza.”
Lissianna lächelte immer noch über diese Bemerkung, als sie vor ihrer Mutter standen. Ihr Lächeln verschwand schnell, und sie trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, als sie Marguerites finstere Miene bemerkte. „Mom”, begrüßte sie diese und nickte ihr zu. „Du bist früh wach.”
„Ihr wart einkaufen?”, fragte Marguerite spitz, dann bedeutete sie Lissianna, ihr zu folgen, und ging wieder zurück in die Garage, an zwei Autos vorbei und war schon an ihrem Sportwagen angekommen, bevor sie ihre Tochter ansah.
„Ich weiß”, sagte Lissianna schnell. „Du bist wütend, weil wir Greg mit zum Einkaufen genommen haben, aber es gab nichts zu essen im Haus, und er und die Zwillinge hatten einen Riesenhunger. Und”, fügte sie hinzu, „er hat sich die ganze Zeit hervorragend benommen. Er hat nicht versucht zu fliehen oder uns zu überzeugen, ihn wieder nach Hause zu bringen.” Lissianna musste tief Luft holen, dann fuhr sie fort: „Wirklich, Mom, du kannst den Mann nicht die ganze Zeit ans Bett fesseln! Das ist Freiheitsberaubung. Du solltest seine Erinnerungen auslöschen, nicht ihn wieder hierher bringen.”
Marguerite seufzte, und ihr Zorn ließ ein wenig nach. „Genau das hatte ich auch vorgehabt. Leider hat er einen sehr starken Willen. Und noch schlimmer, er hat erraten, wer wir sind, und das machte es noch schwieriger.”
„Ja. Ich weiß”, gab Lissianna zu. „Er hat mir heute Morgen viele Fragen gestellt, und ich habe ihm ein paar Dinge erklärt.”
Marguerite nickte. „Ja, seine Fragen und der Argwohn machten es beinahe unmöglich, ihn zu manipulieren. Martine ist die Einzige, die es noch schafft, und sie muss wirklich direkt in seinen Verstand eindringen. Solange sie sich in seinen Gedanken befindet, tut er, was sie will, aber sobald sie ihn loslässt.... ” Sie zuckte die Achseln. „Er bleibt nicht einmallein paar Minuten länger in ihrem Bann.... und wir konnten seine Erinnerung nicht auslöschen.”
„Mist.” Lissianna ließ müde den Kopf hängen. Sie schaute zur Tür hin, wo die anderen noch standen. Sie hatten dieses „alle für einen” ernst genommen und waren in Rufweite geblieben, falls Lissianna Beistand brauchte. Lissianna lächelte schwach über ihre demonstrative Unterstützung, blickte dann wieder ihre Mutter an und fragte: „Und was geschieht jetzt?”
„Wir haben ihn eigentlich wieder hierher zurückgebracht, damit dein Onkel Lucian ihn sich ansehen kann.”
„Onkel Lucian?” Lissianna lehnte sich gegen den Sportwagen ihrer Mutter und fühlte sich plötzlich schwach vor Sorge. Wenn Onkel Lucian gerufen wurde, um sich um etwas zu kümmern, ging es immer um schlimme Dinge.
„Keine Panik”, sagte Marguerite schnell. „Lucian ist älter, viel älter, und geschickter und mächtiger. Ich hoffe, er kann alles in Ordnung bringen, und es gelingt wenigstens ihm, Gregs Erinnerung zu tilgen.”
Lissianna hoffte es ebenfalls. Sie wusste sehr gut, dass ihr Onkel nicht zögern würde, Greg auszulöschen, um ihre Familie zu schützen, wenn ihm das nicht gelingen würde. „Wann wird er denn hier sein?”, fragte sie nervös und fühlte, wie sie sich auf die Lippen biss, als ihre Mutter zögerte.
„Naja, das ist das Problem”, gab sie zu. „Wir haben Schwierigkeiten, uns mit ihm in Verbindung zu setzen.”
„Und wie wird’s jetzt weitergehen?”, fragte Lissianna.
„Bastien hat versprochen, ihn für mich aufzustöbern. Inzwischen”, sagte sie mit gezwungener Fröhlichkeit, „gibt es keinen Grund, dass Dr. Hewitt deine Phobie nicht behandeln sollte, solange er hier ist.”
Lissianna verdrehte die Augen über die Hartnäckigkeit ihrer Mutter. Diese Frau gab niemals auf, wenn sie sich erst einmal zu etwas entschlossen hatte. Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Ich bezweifle, dass ihm danach ist, mich zu behandeln, wenn er hier gegen seinen Willen festgehalten wird.”
„Ich bin sicher, er wird es sich überlegen”, versicherte Marguerite ihr. „Er scheint ein durchaus vernünftiger Mann zu sein. Und, wie du eben selbst sagtest, ist er mit euch allen einkaufen gegangen, hat sich dabei wunderbar benommen und ist ohne Widerstand zurückgekehrt.” Ihr Blick wanderte zu Greg, und sie fügte hinzu: „Vielleicht überlegt er es sich ja jetzt schon.”
Lissianna war ihrem Blick gefolgt. Greg sah sie ernst an und war sich offensichtlich bewusst, dass sie über ihn sprachen. Sie zwang sich um seinetwillen zu einem Lächeln, dann wandte sie sich wieder ihrer Mutter zu und bemerkte: „Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wie lange Bastien brauchen wird, um Onkel Lucian zu finden? Es wird sicher eine Weile dauern.”
„Ja”, gab Marguerite zu. Onkel Lucian hatte die Tendenz, hin und wieder zu verschwinden. Niemand wusste, wohin. Er erschien zwar immer, wenn es einen Notfall gab, um den er sich kümmern musste, aber wer wusste schon, ob er das hier für einen solchen Notfall hielt? Immerhin war Greg gefangen und stellte keine unmittelbare Gefahr dar, solange er bei ihnen war.
„Du kannst ihn nicht mehr fesseln”, sagte Lissianna.
„Lissianna.... ”
„Mutter, das darfst du nicht!”, wiederholte sie aufgeregt. „Er ist kein Tier, und du kannst ihn nicht einfach anbinden und festhalten.”
„Ja, aber.... ”
„Ich rede mit ihm”, sagte sie schnell. „Wenn er verspricht, nicht zu fliehen.... ”
„Ich werde mit ihm sprechen”, unterbrach Marguerite sie mit fester Stimme, „und dann werde ich es entscheiden.”
Lissianna zögerte, aber sie wusste, dass sie in dieser Angelegenheit nicht viel machen konnte. Deshalb nickte sie widerstrebend, überlegte aber gleichzeitig, was sie tun würde, wenn ihre Mutter beschloss, ihn weiterhin gefangen zu halten. Lissianna bezweifelte sehr, dass sie einfach danebenstehen und zusehen würde, wie sie ihn fesselte; sie würde ihm wahrscheinlich helfen zu fliehen....
„Jetzt kommen sie.” Greg nickte finster bei Thomas’ Worten.
„Tante Marguerite sieht nicht mehr böse aus”, sagte Juli hoffnungsvoll.
„Nein, aber Lissi scheint nicht besonders erfreut zu sein”, stellte Vicki fest.
„Sie wirkt besorgt.” Jeanne Louise klang selbst besorgt, und Greg bemerkte, dass sie ihm plötzlich nervöse Blicke zuwarfen. Er nahm an, sie machten sich Sorgen um ihn. Er war selbst auch ein wenig nervös.
„Nun, warum steht ihr hier alle so herum?” Marguerite lächelte, als sie mit Lissianna zu ihnen trat. „Eure Einkäufe werden noch verderben. Ihr solltet sie lieber reinbringen.”
Greg blinzelte überrascht, als sie ihm plötzlich die beiden Kästen mit Getränken abnahm, die er trug. Sie hielt sie, als wären sie federleicht, und reichte sie dann Vicki weiter, die am nächsten stand. Er war noch erstaunter, als das Mädchen die Kästen in eine Hand nahm und sie hielt wie eine Kellnerin, die ein Tablett mit Getränken trägt, als sie sie zum Haus brachte. Greg schüttelte den Kopf; er musste Lissianna fragen, wie viel zusätzliche Kraft die Nanos ihnen verliehen. Er selbst hatte die Kästen schwer gefunden.
„Kommen Sie, Dr. Hewitt.” Marguerite Argeneau nahm ihn am El bogen und führte ihn auf die Tür zu. „Die Kinder werden die Lebensmittel wegpacken. In der Zwischenzeit würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten, wenn es Ihnen recht ist.” Trotz ihrer höflichen Art fühlte sich Greg wie eine Beute, die von einem Raubtier von der Herde abgesondert wird, als Marguerite ihn von den anderen wegführte.
„Ich komme nach, sobald wir die Sachen weggeräumt haben”, rief Lissianna, und Greg schaute über die Schulter zurück und sah, dass ein ermutigendes Lächeln ihre Lippen umspielte. Ihm selbst gelang nur ein klägliches Grinsen als Antwort.
„Es gibt keinen Grund nervös zu sein, Dr. Hewitt”, sagte Marguerite beruhigend, als sie ihn durch die Küche in den Flur führte. „Wir werden uns nur miteinander unterhalten.”
Greg machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Es hatte keinen Sinn, zu lügen und zu behaupten, dass er nicht unruhig war; diese Frau konnte seine Gedanken lesen, also hielt er den Mund, aber er wurde doch von Hoffungslosigkeit gepackt, als sie ihn nach oben führte. Sie brachte ihn zurück in Lissiannas Schlafzimmer, und er bezweifelte nicht, dass sie ihn auch wieder fesseln würde. Greg fragte sich, ob er es nach diesem schönen Nachmittag in Freiheit noch einmal ertragen könnte, ans Bett gebunden zu werden.
Der Ausflug mit den anderen hatte ihm Freude gemacht. Er hatte die Gesellschaft ebenso sehr genossen wie das Gefühl der Freiheit. Die jüngeren Argeneaus waren wirklich ein prima Haufen, und Lissianna.... sie war klug und witzig, und es machte Spaß, mit ihr zusammen zu sein. Er hatte beobachtet, wie sie mit ihren Verwandten umging, und das hatte ihn beeindruckt. Sie war liebevoll und fürsorglich, respektierte sie und ihre Gefühle offensichtlich und verhielt sich nie herablassend gegenüber den so viel jüngeren Zwillingen. Er mochte Lissianna und hielt sie für einen wirklich guten Menschen. Ganz zu schweigen davon, dass sie auch teuflisch sexy war.
Greg musste ein wenig lächeln. Dann seufzte er tief, als Marguerite ihn in das Schlafzimmer führte, wo er den größten Teil der letzten beiden Tage zugebracht hatte. „Setzen wir uns auf die Couch”, schlug Marguerite freundlich vor, als er automatisch auf das Bett zustrebte.
Greg versuchte, seine Überraschung zu verbergen, als er folgsam die Richtung wechselte und auf das Sofa zuging, das unter dem Fenster stand. Er ließ sich an einem Ende nieder, Marguerite am anderen. Dann wartete er darauf, dass sie mit dem Gespräch begann. Sehr zu seiner Überraschung schien sie nicht so recht zu wissen, wie sie anfangen sollte, und es verging einige Zeit, bis sie schließlich sagte: „Lissianna erzählte mir, dass sie Ihnen heute früh einige Dinge über uns erklärt hat.”
„Sie hat mir viele Fragen beantwortet, ja.”
Marguerite nickte. „Gibt es irgendetwas, das Ihnen seitdem eingefallen ist, das Sie außerdem noch wissen möchten?”
Greg zögerte. Nachdem er viel Zeit mit den jungen Leuten verbracht hatte, war ihm plötzlich der Unterschied von Marguerites Art zu reden zu der der anderen aufgefallen. Lissianna und die anderen hatten, was er vielleicht als schwachen Akzent bezeichnet hätte, nur einen kleinen Unterschied in der Aussprache, der kaum auffiel, aber auf einen ausländischen Hintergrund verwies. Marguerite hatte jedoch einen sehr ausgeprägten Akzent; sie vermied auch Slang und zog die Wörter nicht zusammen; sie sprach ein sehr präzises Englisch. Es hatte ihn neugierig gemacht.
„Sie sind keine geborene Kanadierin?”, fragte er schließlich.
„Ich bin in England zur Welt gekommen”, gab ihm Marguerite zur Antwort. Greg runzelte die Stirn. Er hätte nicht erraten können, dass ihr Akzent englisch war. Zumindest klang er nicht wie irgendein ihm bekannter englischer Akzent. „Ich lebe schon sehr lange, Dr. Hewitt, und habe an vielen Orten gelebt.”
„Wie lange, und wie viele Orte?”, fragte er prompt, und Marguerite lächelte über seine Unverblümtheit.
„Ich kam am 4. August 1265 zur Welt”, verkündete sie.
Greg öffnete den Mund vor Erstaunen, dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Unmöglich. Damit wären Sie ja über siebenhundert Jahre alt!”
Marguerite lächelte. „Aber es stimmt. Als ich zur Welt kam, herrschte Bürgerkrieg in England, und Heinrich III. war König. Es gab keine Badezimmer, und Ritterlichkeit war mehr als eine Antwort in einem Kreuzworträtsel. Aber selbstverständlich nur für die Reichen und Mächtigen”, fügte sie ironisch hinzu.
„Und ich nehme an, Sie waren eine von den Reichen und Mächtigen?”, fragte er.
Marguerite schüttelte den Kopf. „Ich war ein Bauernmädchen. Ich war das ungewollte Ergebnis des Besuchs eines Adligen auf der Burg, in der meine Mutter diente.”
„Ungewollt?”, fragte Greg voller Mitgefühl.
„Leider ja. Ich fürchte, der einzige Grund, wieso sie sich an meinen Geburtstag erinnerte, bestand darin, dass es während der Schlacht von Evesham geschah.” Marguerite zuckte die Achseln. „Ich arbeitete in der Burg, sobald ich laufen konnte, und ich wäre auch dort gestorben, und wahrscheinlich sehr jung, wenn Jean Claude nicht vorbeigekommen und mich da rausgeholt hätte.”
„Man hat mir gesagt, Jean Claude habe Probleme mit Alkohol gehabt.”
Marguerite nickte bedächtig. „Und es hat ihn umgebracht. Er starb, weil er zu viel von dem Blut eines Betrunkenen zu sich genommen und das Bewusstsein verloren hatte. Erwachte nicht einmal auf, als das Haus, in dem er sich befand, in Flammen aufging. Er ist darin verbrannt.”
„Ja, ich glaube, Thomas hat erwähnt, Jean Claude sei bei einem Feuer ums Leben gekommen”, sagte er, dann fragte er verwundert: „Leute wie Sie können also sterben?”
„O ja. Nicht so einfach, aber wir können sterben”, versicherte sie ihm. „Und Feuer ist eines der Dinge, die uns töten können.”
„Keine angenehme Art zu sterben, würde ich annehmen”, murmelte Greg.
„Nein, und ich würde es vorziehen, wenn Lissianna nicht in die Fußstapfen ihres Vaters träte.”
„Weshalb Sie mich hergebracht haben.” Er wusste nicht, wie er fortfahren sollte und geriet ins Stottern: „Sie wollen, nicht, dass sie.... äh.... ”
„Sich ,al fresco’ ernährt”, vollendete Marguerite seinen Satz. „Sie könnte selbstverständlich so weitermachen, aber es ist eine gefährliche Sache. Wenn man einmal von dem Risiko absieht, dass sie entdeckt werden könnte, so besteht immer auch das Risiko, sich am Blut der falschen Leute satt zu trinken und sich an deren Krankheiten anzustecken oder an deren Nebenwirkungen zu erkranken.”
„Ich nehme an, mit den falschen Leuten’ meinen Sie die Obdachlosen?”, fragte Greg.
„Ich bin kein Snob, Dr. Hewitt”, sagte Marguerite müde. „Aber Leute, die Orte aufsuchen wie das Heim, in dem Lissianna arbeitet, sind wohl kaum die gesündesten Individuen. Ihr Blut ist nicht sonderlich nahrhaft.”
Greg nickte. Lissianna hatte zuvor fast dasselbe gesagt, aber er dachte ketzerisch, dass es noch eine Menge anderer Leute gab, die sich überwiegend von Junkfood ernährten und ebenso wenig nahrhaft gewesen wären. Er machte sich jedoch nicht die Mühe, näher darauf einzugehen, denn es war in diesem Zusammenhang nicht wichtig. „Und die Nebenwirkungen, deretwegen Sie so besorgt sind, bestehen möglicherweise darin, dass sie sich zu häufig betrinken könnte?”
Marguerite nickte. „Lissianna kehrte mehrmals betrunken oder auch high aus dem Obdachlosenheim zurück, als sie noch hier wohnte, weil sie sich von dem falschen Individuum genährt hatte, und ich weiß, dass es noch immer passiert. Sie kann nicht immer sagen, ob sie sich betrunken oder Drogen benutzt haben, bevor es zu spät ist. Leute, die solche Gewohnheiten haben, haben selbst einen gewissen Schutz dagegen entwickelt; Lissianna nicht. Was einen von ihnen vielleicht ein bisschen high macht, aber immer noch ermöglicht, dass sie einen nüchternen Eindruck machen, kann Lissianna vollkommen berauschen.”
Greg versuchte, sich Lissianna berauscht vorzustellen, aber das konnte er nicht. Sie schien einfach nicht der Typ dafür zu sein.
„Und”, fragte Marguerite plötzlich, „was halten Sie von meiner Tochter?”
Verblüfft über den plötzlichen Themenwechsel erstarrte Greg, und eine Unzahl von Gedanken schoss ihm durch den Kopf. Er dachte, dass Lissianna schön und intelligent und freundlich und sanft war, und sie roch gut und.... Die Liste, die durch seinen Kopf lief, war endlos, aber bevor er aus der Sammlung von warmherzigen und angenehmen Wahrnehmungen, die er über Lissianna gemacht hatte, wählen konnte, nickte Marguerite und fragte: „Und wie kommen Sie damit zurecht, dass wir sind, was wir sind? Mir ist klar, dass das befremdlich für Sie sein muss.”
Greg lächelte ein wenig über die Untertreibung. Befremdlich? Oja. Wenn die gesamte Wahrnehmung auf den Kopf gestellt wurde, war das tatsächlich ein wenig befremdlich, aber auch unglaublich interessant. Besonders, nachdem er sich mit Lissianna unterhalten und sie ihm einiges erklärt hatte.
Er nahm an, sein Interesse erschien den anderen ein wenig seltsam, aber.... nun, das hier waren unglaubliche Leute, mit Fähigkeiten, die unbegreiflich waren, und die schon sehr lange lebten. Marguerite behauptete, über siebenhundert Jahre alt zu sein. Lieber Gott, die historischen Ereignisse, deren Zeugin sie gewesen sein musste, die technischen Entwicklungen und Fortschritte und die Menschen, denen sie im Lauf der Jahrhunderte begegnet war.... große historische Gestalten, die die Welt bewegt hatten mit ihren Taten, von denen Greg und andere Sterbliche nur aus Büchern erfuhren! Selbst Lissianna mit ihren etwas mehr als zweihundert Jahren musste Dinge gesehen haben, die sein Vorstellungsvermögen überstiegen.
In gewisser Weise war er beinahe dankbar, dass man ihn hierher gebracht hatte. Das hier war erheblich interessanter, als am Strand zu liegen oder Volleyball zu spielen.
Er erkannte, dass Marguerite auf seine Antwort wartete, und blickte auf, aber bevor er noch etwas sagen konnte, nickte sie erneut und fragte: „Würden Sie als unser Gast hierbleiben und sie behandeln?”
Greg starrte sie an und erkannte plötzlich, dass sie ihre Antworten schon erhalten hatte, indem sie seine Gedanken las. Er musste sie gar nicht aussprechen. Er hatte für einen Augenblick ihre Fähigkeit vergessen gehabt. Aber nun, da er sich wieder daran erinnerte, war er mehr amüsiert als verärgert. Es hatte ihm erspart, Worte zu finden, die ihr auf höfliche Weise sagten, was er dachte. Er nahm an, er müsste eigentlich darüber erschrocken sein, denn nicht all seine Gefühle für Lissianna waren jugendfrei gewesen.
„Dr. Hewitt?”, fragte Marguerite.
„Nennen Sie mich Greg”, murmelte er und bemerkte interessiert, dass sie ungeduldig, ja verärgert wirkte. Es schien, als hätten seine wandernden Gedanken verhindert, dass sie in seinen Gedanken lesen konnte. Interessant, dachte er.
„Werden Sie Lissianna behandeln?”, wiederholte sie.
Ein kleines boshaftes Lächeln erschien in seinen Mundwinkeln, und er sagte: „Sagen Sie mir das.”
Sie kniff angesichts dieser Herausforderung die Augen zusammen, dann blickte sie ihn nachdenklich an und schwieg. Greg verbrachte die nächsten Sekunden damit zu versuchen, seine Gedanken leer zu halten und zu prüfen, ob er sie blockieren konnte. Als er erneut Ungeduld über ihre Züge flackern sah, war er beinahe überzeugt, dass ihm das gelungen war, aber einen Augenblick später richtete sie sich auf und nickte. „Sie würden es lieber sehen, wenn sich ein anderer Therapeut um Lissiannas Phobie kümmerte, während Sie sich lieber auf sexuellem Gebiet um sie kümmern möchten, aber Sie wollen ihr auch helfen und glauben, dass Jeanne Louise recht hat und Sie in diesem Fall nicht an die übliche therapeutische Vorgehensweise gebunden sind, also werden Sie ihr helfen”, fasste sie ruhig zusammen; dann stand sie auf. „Ich habe heute früh nur wenig Schlaf bekommen, deshalb werde ich wieder zu Bett gehen, bis die Sonne untergeht.”
„Bett?”, wiederholte Greg zerstreut; er war vollkommen entsetzt darüber, wie klar sie seine Gedanken erkannt hatte. Diese Frau war der Albtraum jeden Mannes, eine Mutter, die genau wusste, was der Kerl wollte, und nicht mit guten Manieren und höflichen Lügen eingelullt werden konnte.
„Ja, Bett. Wir schlafen nicht mehr in Särgen, Greg. Es gab eine Zeit, in der Särge und Krypten die sichersten Orte für uns waren, um zu schlafen, weil sie uns sowohl vor dem Sonnenlicht als auch vor denen schützten, die uns verfolgten, aber das gehört der Vergangenheit an. Wir schlafen in Betten in Schlafzimmern, deren Fenster behandelt wurden, um die schädlichen Sonnenstrahlen herauszufiltern, und mit dunklen Vorhängen als zusätzlichem Schutz.” Marguerite sah ihn prüfend an. „Ist Ihnen das nicht aufgefallen, als Sie in Lissiannas Zimmer waren?
„Ah.... ja”, sagte er und fühlte sich ein bisschen wie ein Idiot. „Und ich habe eigentlich nicht geglaubt, dass Sie in Särgen schliefen, aber.... ”
„Aber Sie waren sich nicht sicher.” Greg nickte schuldbewusst. „Nun, machen Sie sich keine Gedanken, es gibt keinen Sarg hier”, versicherte Marguerite ihm und ging auf die Tür zu. „Lissianna steht schon seit einiger Zeit vor der Tür und wollte uns nicht stören. Sie wird erleichtert sein, Sie immer noch ungefesselt vorzufinden. Genießen Sie den Rest des Nachmittags. Ich hoffe, es wird ein produktiver Nachmittag sein.”