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Es war gerade erst Mittag, als Lissianna aufwachte. Sie hatte nicht einmal fünf Stunden geschlafen, war aber sofort hellwach, obwohl sie normalerweise den ganzen Tag durchgeschlafen hätte.
Ihr erster Gedanke beim Aufwachen galt ihrem Geburtstagsgeschenk.
„Dr. Gregory Hewitt”, murmelte sie laut. Lissianna wusste, dass sie für das Geschenk dankbar sein sollte, aber sie hätte ihn wirklich lieber zum Essen gehabt. Der chinesische Lieferantenjunge war nicht besonders sättigend gewesen, und sie war sicher, dass das bei Hewitt anders gewesen wäre. Außerdem war sie durcheinander wegen dieser Sache mit ihrer Phobie einen Augenblick voller Hoffnung, den nächsten voller Furcht.
Lissianna hatte, seit sie etwas über zehn Jahre alt gewesen war, unter Hämophobie gelitten. Sie hatte versucht, es sich auszureden, aber schon ein Blick auf das rote Zeug genügte, um sie umfallen zu lassen.
Eine Vampirin, die beim Anblick von Blut ohnmächtig wurde.
Dümmer ging es wirklich nicht mehr. Es war eine Schwäche, die sie demütigend fand. Jedes Mal, wenn sie etwas zu sich nehmen musste, zeigte sich diese Schwäche erneut und zwang sie, sich auf die altmodische Weise zu ernähren.
In ihrer Jugend war das kein Problem gewesen. Alle hatten damals „al fresco” gespeist. Doch nachdem die ersten Blutbanken eingerichtet worden waren, wurde es schwierig. Nicht gleich. Erst hatten nur einige der Ihren Blutbanken benutzt, und andere hatten sich weiter auf die herkömmliche Art ernährt, aber vor etwa fünfzig Jahren hatte der Rat ein Edikt erlassen, das ihnen die Benutzung von Blutbanken vorschrieb. So waren sie unabhängiger und vor allem relativ sicher, nicht entdeckt zu werden
Schließlich waren alle zu Blut in Beuteln übergegangen. Selbst Lissianna hatte es geschafft zumindest wenn ihre Mutter ihr eine Infusion verabreichte, während sie schlief. Das machte sie zwar abhängig wie ein Baby, aber es schien die einzige Möglichkeit zu sein. Eine Therapie zu machen war unmöglich gewesen; Lissianna konnte ja wohl kaum zu einem Psychologen gehen und verkünden, sie sei eine Vampirin mit Hämophobie. Leider war das Bestandteil ihrer Phobie. Lissiannas erste Erfahrung, sich aus Beuteln zu nähren, war nicht gut ausgegangen, und sie war seitdem jedes Mal beim Anblick von Blut ohnmächtig geworden.
Danach hatte sie die Wahl gehabt, sich weiter selbst mit Nahrung zu versorgen oder sich intravenös ernähren zu lassen, und Lissianna hatte sich für Infusionen entschieden. Es war alles gut gegangen.... bis ihr Vater gestorben war.
Plötzlich hatte sie der Tatsache gegenübergestanden, dass sie und die Ihren zwar ein langes Leben hatten, aber eben doch sterblich waren. Wenn ihr Vater sterben konnte, warum dann nicht auch eines Tages ihre Mutter? Entsetzen hatte sie bei diesem Gedanken gepackt, einmal, weil sie Marguerite liebte und ihr Tod sie zutiefst betrüben würde, und zum anderen, weil sie davon abhing, dass diese Frau für sie sorgte und sie wie ein Baby vor der Erfindung von Babyfläschchen stillte.
Ihre Schwäche war ihr damals schmerzlich bewusst geworden, und Lissianna hatte beschlossen, dass sie einfach unabhängiger werden und einen Weg finden musste, sich selbst zu ernähren.
Ausnahmen von der „Ausschließlich-Blutin-Beuteln”-Regel wurden für jene gemacht, die bestimmte Gebrechen hatten. Wie das ihre. Also hatte Lissianna an der Universität Kurse in Sozialarbeit absolviert und dann eine Arbeitsstelle in einem Obdachlosenheim in der Innenstadt gefunden, wo sie die Nachtschichten übernommen hatte. Sie hatte geglaubt, sich hier einfacher ernähren zu können, an diesem Ort, an dem es viele und häufig wechselnde Übernachtungsgäste gab. Und da sie denen, von denen sie trank, durch ihre Arbeit half, war ihr der Handel einigermaßen fair vorgekommen.
Aber Lissiannas großartige Pläne hatten auf falschen Annahmen beruht. Es kamen zwar tatsächlich viele Leute ins Obdachlosenheim, wechselten allerdings nicht so häufig, wie sie angenommen hatte. Meist waren es dieselben.... und die Tatsache, dass so viele Leute ein und aus gingen, machte es eher schwieriger, jemanden allein anzutreffen, und erhöhte damit das Risiko, erwischt zu werden.
Ihre Stellung im Obdachlosenheim bedeutete, dass Lissianna hie und da einen schnellen Biss nehmen konnte, aber sie konnte sich nie ausreichend mit Nahrung versorgen. Außerdem waren die Spender, die ihr hier zur Verfügung standen, nicht die gesündesten. Viele waren mangelernährt oder kränklich, und einige waren alkohol- oder drogenabhängig. Lissianna versuchte, diese Leute zu meiden, aber oft erlaubten ihr die Umstände und die zeitlichen Abstände nicht, den Kopf ihrer potenziellen Spender angemessen zu durchsuchen, und dann entschied sie sich manchmal für die falschen Leute. Lissianna hörte zwar auf, sobald sie bemerkte, dass ihr Blut von einem Giftstoff verseucht wurde, aber dann war es für gewöhnlich zu spät, und sie war ein bisschen angesäuselt oder bei mehr als nur einer Gelegenheit vollkommen betrunken gewesen. Das waren Situationen, an die sie nicht gerne zurückdachte. Jedes Mal hatte sich ihre Mutter schrecklich über sie aufgeregt, und Lissianna war schließlich in eine eigene Wohnung gezogen, in der Hoffnung, damit die Sorgen ihrer Mutter zu verringern. Aber sie wusste, dass das nicht funktionierte.
Marguerite Argeneau hatte Angst, dass Lissianna in die Fußstapfen ihres mit einem schwachen Willen behafteten Vaters treten und ebenso wie er dem Alkohol verfallen würde. Daher also ihr Geburtstagsgeschenk. Ihre Mutter hoffte, eine Tragödie zu verhindern.
Lissianna verstand das und war dankbar dafür, aber nach beinahe zweihundert Jahren unter der Knute ihrer Phobie hatte sie nicht viel Hoffnung, darüber hinwegzukommen, und schon der Gedanke daran, es zu versuchen und zu versagen, deprimierte sie ganz einfach.
Aber ihr blieb wohl keine große Wahl, stellte sie fest, als sie sich aufsetzte und vorsichtig aufstand, wobei sie versuchte, ihre Cousinen nicht zu wecken. Sie konnte genauso gut gleich einmal nachsehen, was Dr. Gregory Hewitt für sie tun konnte.
Greg spähte zu dem Fenster mit den schweren Vorhängen hin über und seufzte. Der Stoff verhüllte es so vollkommen, dass alles Licht von außen abgehalten wurde. Das machte es unmöglich zu entscheiden, wie spät es war, aber er nahm an, es müsste beinahe Mittag sein, eindeutig später als zwanzig vor zehn morgens, der Zeitpunkt, an dem sein Flieger nach Cancun gestartet war. Ohne ihn.
All das rausgeworfene Geld für ein Ticket für einen unbenutzten Platz, dachte er verärgert, dann erstarrte er, als die Schlafzimmertür aufging. Beim Anblick von Lissianna ließ die Anspannung jedoch gleich nach, und er setzte dazu an, seine Verstimmung darüber zu äußern, wie lange sie gebraucht hatte
oder wer auch immer, um nach ihm zu sehen. Aber er klappte den Mund wieder zu, als er erkannte, dass sie immer noch das rosa Spitzenbabydoll trug.
Es war alles eine üble Intrige, beschloss Greg gerade für sich, während sein Ärger auch schon zusammen mit allem, was er sich vorgenommen hatte, ihr an den Kopf zu werfen, langsam und stetig wie Sand aus seinem Kopf rieselte.
„Guten Morgen. Sind Sie schon lange wach?”, fragte sie, als sie die Tür hinter sich schloss.
„Nein.” Sein Blick folgte ihr zum Schrank, dann merkte er, was für einen Unsinn er gesagt hatte, und verbesserte sich rasch. „Ich meine, ja, ich bin nicht wieder eingeschlafen, nachdem Sie heute früh gegangen waren.”
Lissianna blieb an der offenen Schranktür stehen und sah ihn erstaunt an. „Sie waren die ganze Zeit wach? Sie müssen ja vollkommen erledigt sein.”
Er zuckte die Achseln oder versuchte es wenigstens, aber das war schwierig in seiner Position. „Nein, eigentlich nicht. Ich bin letzte Nacht sehr früh eingeschlafen, glaube ich. Nachdem Ihre Mutter Sie nach unten zu der Party gescheucht hatte, bin ich eine Weile wach gewesen und habe die Musik von unten gehört, dann bin ich eingedöst. Ich hatte wahrscheinlich schon acht Stunden geschlafen, bevor Sie und Ihre Cousinen heute früh vorbeigekommen sind.”
„Oh.... hm.... gut.” Sie wandte sich wieder dem Schrank zu und überließ Greg seinen Betrachtungen. Sie sah in diesem rosa Hemdchen anbetungswürdig und gleichzeitig sexy aus. Die Frau hatte genau die Figur, die er mochte, mit ein wenig Fleisch auf den Knochen und Kurven genau an den richtigen Stellen.
Sie hatte auch wirklich heiße Beine, lang und wohlgeformt. Sie würden sich leicht um seine Hüften schlingen....
„Wie war die Party?”, fragte er schnell und versuchte, seine Gedanken von ihren Vorzügen abzulenken.
„Ach, ganz schön.” Lissianna zuckte die Achseln, dann warf sie ihm über die Schulter ein leichtes Lächeln zu und sagte bedeutungsvoll: „Es war eine Geburtstagsfeier mit vielen Verwandten.”
„Ich verstehe”, antwortete er voller Mitgefühl, dann schwieg er wieder und sah ihr ruhig zu, wie sie in dem Schrank herumsuchte.
Thomas hatte gesagt, Lissianna sei nach dem Tod ihres Vaters ausgezogen. Er nahm an, das bedeutete, dass dies ihr altes Zimmer war und dass sie ein paar Dinge hiergelassen hatte für den Fall, sie übernachtete hier. Greg hatte nichts mehr im Haus seiner Mutter, aber er wusste, dass seine Schwestern noch Sachen von sich dort aufhoben. Er nahm an, alle Mädchen und Frauen machten es so.
Lissianna suchte sich eine Hose und ein Top aus, dann ging sie zur Kommode und öffnete die oberste Schublade. Er erhaschte einen kurzen Blick auf weiße Seide, dann schloss sie die Schublade wieder und ging zur Badezimmertür, die sich ihm genau gegenüber befand. Greg konnte einen kurzen Blick in ein Badezimmer in hel en Blautönen und Weiß werfen, als sie hineinging. Dann zog sie die Tür hinter sich zu.
Er nahm an, sie zog sich um, und versuchte, sich nicht vorzustellen, wie die rosa Seide raschelnd zu Boden glitt und sie nur noch diese elfenbeinfarbene Haut trug. Er hörte Wasser rauschen und vermutete, dass sie sich duschte. Das Plätschern erinnerte ihn daran, dass er mittlerweile dringend zur Toilette musste. Er hatte den Drang seit dem frühen Morgen gehabt und die ganze Zeit gehofft, dass irgendwer, völlig egal, wer, ins Zimmer kam und ihn losband. Hin und wieder hatte das Bedürfnis nachgelassen, aber es kam immer wieder.... so wie jetzt.
Auf dem Bett liegend, begann Greg von tausend angefangen rückwärts zu zählen, in Siebenerabständen, in dem angestrengten Versuch, sich abzulenken. Dennoch stand er kurz davor zu platzen, als Lissianna aus dem nun mit Dampf gefüllten Bad kam, vollständig bekleidet und mit feuchtem Haar.
Greg lächelte erleichtert, als er sie sah. „Könnten Sie mich bitte losbinden?”
Als Lissianna ihn nur verständnislos anstarrte, stellte Greg schnell sein Bedürfnis ganz hinten an, um stattdessen Argumente für seine Freilassung vorzubringen. Er fuhr schnell fort: „Sehen Sie, ich weiß, dass Ihre Mutter meine Hilfe bei der Behandlung Ihrer Phobie will, und ich bin mehr als froh, mich dieser Aufgabe anzunehmen, aber im Augenblick kommt es ein wenig ungelegen. Ich möchte heute nach Cancun fliegen.”
„In die Ferien”, fügte er hinzu, als sie überrascht die Brauen hochzog. „Ich habe keine Ferien mehr gemacht, seit ich als Kind mit meiner Familie zusammen verreist bin. Erst war ich zu beschäftigt mit der Universität, dann habe ich meine Praxis aufgebaut.... ” Er holte tief Luft. „Es hat Wochen gedauert, die Termine mit meinen Klienten umzubuchen und alles für diese Reise zu arrangieren. Wie ich schon sagte, ich werde Ihnen gerne bei Ihrer Phobie helfen, wenn ich zurückkomme, aber ich brauche diesen Urlaub wirklich dringend.”
Greg schloss mit einem, wie er hoffte, charmanten Lächeln, während er sich innerlich zu seinen vorsichtigen Formulierungen gratulierte. Er hatte nicht gesagt, dass er sie selbst behandeln würde, er hatte gesagt, er würde ihr dabei helfen, ihre Phobie zu heilen. Greg fand die Idee, sie selbst zu behandeln, immer noch nicht gut; seine Gefühle für sie waren zu wirr für eine erfolgreiche Therapie.
Als er die Unentschlossenheit auf ihrem Gesicht sah, fügte er hinzu: „Wenn Sie sich Sorgen darüber machen, dass ich mich an die Polizei wende, kann ich Sie beruhigen. Erstens bin ich freiwillig in den Kofferraum des Wagens Ihrer Mutter gestiegen”, führte er an, dann hielt er inne, als er bemerkte, dass sie plötzlich zur Seite blickte. Greg hatte auf einmal das sichere Gefühl, dass er selbst zwar keine Ahnung hatte, wieso er so gehandelt hatte, sie jedoch sehr wohl. Er überlegte kurz, ob er sie danach fragen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass es weniger wichtig war, als losgebunden zu werden. Also fuhr er stattdessen fort mit seinen Erklärungen.
„Ich bin in den Kofferraum gestiegen, und das wird man auch auf den Aufnahmen der Sicherheitskameras im Parkhaus sehen.
Selbst wenn ich wollte, gibt es keine Möglichkeit, dass ich behaupten könnte, ich sei entführt worden. Die Polizei würde sich den Bauch halten vor Lachen.
Ich bin auch aus Gründen, die ich nicht verstehe hier hinaufgegangen und habe mich auf das Bett gelegt, sodass Marguerite mich fesseln konnte.” Wieder bemerkte er, dass sie den Blick beinahe schuldbewusst abgewandt hatte. Stirnrunzelnd fuhr er fort: „Also könnte ich bestenfalls behaupten, dass mich niemand losbinden wollte, als ich freigelassen werden wollte. Wie könnte ich damit zur Polizei gehen? Sie würden denken, es war ein verrücktes Sexspiel, das länger dauerte, als mir lieb war, dass ich deshalb meinen Flug verpasste und nun hoffe, dass er mir ersetzt wird, wenn ich Anzeige erstatte.
Und ich könnte nicht einmal Ihren vol ständigen Namen oder die Adresse angeben.” Er schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Interesse, mich an die Polizei zu wenden. Ich verstehe, dass Marguerite ebenso wie der Rest Ihrer Familie nur will, dass Sie geheilt werden, und ich bin beeindruckt, dass sie Sie alle so gern haben. Ich werde gerne eine Behandlung für Sie arrangieren, wenn ich aus Cancun zurückgekommen bin. Und jetzt möchte ich einfach nur freigelassen werden.”
Er hielt inne, weil seine Blase sich wieder bemerkbar machte, und fügte hinzu: „Und während Sie darüber nachdenken, wüsste ich es wirklich zu schätzen, wenn Sie mich für eine kleine Toilettenpause losbinden würden. Ich bin seit gestern Abend hier, und ich muss wirklich aufs Klo.”
„Oh!”, rief Lissianna entsetzt und eilte sehr zu seiner Erleichterung zum Bett, um sich mit den Stricken zu beschäftigen, mit denen er festgebunden war. Sie fing an seinem rechten Fuß an und war gerade damit fertig geworden, als die Schlafzimmertür plötzlich aufging.
„Hier bist du also!”
Greg hätte beinahe laut geflucht, als ihre Cousine Elspeth hereinkam. Wenn sie nur ein paar Minuten später gekommen wäre.... Sein Blick glitt zu Lissianna, und er seufzte, als er sah, wie sie sich mit schuldbewusster Miene wieder aufrichtete.
„Als ich aufwachte, warst du verschwunden”, sagte Elspeth besorgt. „Als ich dich unten nicht finden konnte, dachte ich, ich sehe hier mal nach. Konntest du nicht schlafen?”
„Ich habe sehr gut geschlafen”, versicherte Lissianna ihr. „Na ja, jedenfalls den größten Teil des Vormittages, aber dann bin ich gegen Mittag aufgewacht. Ich wusste sofort, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war, also bin ich aufgestanden und hierher gekommen, um ein paar Kleidungsstücke zu holen.”
„Die Reinigungsmannschaft hat dich wahrscheinlich geweckt”, vermutete Elspeth.
Lissianna zog überrascht die Brauen hoch. „Sind sie denn schon hier? Ich habe auf dem Weg durchs Haus niemanden gesehen.”
„Sie haben wahrscheinlich Mittagspause gemacht. Ich bin einigen von ihnen auf dem Weg hierher begegnet. Sie wollten gerade wieder mit ihrer Arbeit weitermachen, die Spuren der gestrigen Party zu beseitigen.” Elspeth lächelte Greg an. „Guten Morgen. Wie haben Sie geschlafen?”
„Er konnte nicht wieder einschlafen, nachdem wir ihn geweckt hatten”, antwortete Lissianna, aber die andere hörte nicht zu. Sie hatte das lose Strickende auf dem Bett an seinem Fußgelenk gesehen.
Sie wandte sich erstaunt Lissianna zu. „Was machst du denn da?”
Lissianna zögerte, dann sagte sie einfach: „Er muss die Toilette benutzen.”
„Nun, das kannst du nicht zulassen”, sagte Elspeth sofort. „Was, wenn er aus dem Badezimmerfenster steigt und flieht? Taute Marguerite würde einen Anfall bekommen.”
„Ja. Ich weiß. Aber.... ” Lissianna biss sich auf die Lippen, dann platzte sie heraus: „Wusstest du, dass er heute früh nach Mexiko in Urlaub fliegen wollte?”
„Das erklärt einiges.” Die Bemerkung kam von Mirabeau, die gerade durch die Tür trat, die Elspeth offen gelassen hatte. Sie durchquerte das Zimmer und fügte hinzu: „Deine Mutter ist gar nicht dumm. Niemand wird ihn vermissen, wenn alle denken, er sei in Urlaub.”
„Hmm.” Lissianna wirkte nicht ganz erfreut. „Ich frage mich, ob Mutter ihm den Gedanken eingegeben hat, die Reise zu buchen, oder ob es nur ein glücklicher Zufall war, dass er eine geplant hatte.”
Greg blinzelte überrascht bei dieser kühnen Annahme. Er hatte diese Reise seit Monaten geplant und war ziemlich sicher, dass Marguerite einfach Glück gehabt hatte. Bevor er das sagen konnte, führte Jeanne Louise die Zwillinge herein und fragte:
„Was macht ihr denn hier?”
„Ich nehme an, Thomas ist ebenfalls auf dem Weg zu uns”, stellte Lissianna gereizt fest, als die Zwillinge Greg zuwinkten.
„Das hast du richtig vermutet.” Thomas gähnte und streckte sich, als er hereinkam. „Wer könnte bei all dem Krach da unten auch schlafen?”
„Sie haben dort unten im Flur vor dem Wohnzimmer angefangen, lautstark Staub zu saugen”, erklärte Jeanne Louise. „Das hat uns aufgeweckt.”
„Und, was macht ihr hier?”, fragte Thomas.
„Lissi war dabei, Greg loszubinden”, verkündete Elspeth.
Lissianna sah ihre Cousine erbost an, als die anderen entsetzte Gesichter machten.
„Glaubst du, dass das klug ist?”, fragte Jeanne Louise besorgt.
„Das darfst du nicht!”, keuchte Juli. „Er soll deine Phobie heilen. Er darf nicht gehen, ehe er das getan hat.” Ringsum gab es überwiegend zustimmendes Gemurmel.
„Und.... und jetzt?”, fragte Lissianna. „Wir behalten ihn einfach gegen seinen Willen hier? Er wird mich wohl kaum heilen wollen, wenn er unser Gefangener ist”, argumentierte sie, und sieben Augenpaare richteten sich neugierig auf ihn.
Greg versuchte, nicht verärgert auszusehen, aber sein Bedürfnis, aufs Klo zu gehen, wurde immer schmerzhafter.
Lissianna machte sich an seinem Handgelenk zu schaffen und fuhr fort: „Tatsache ist, dass der Mann auf dem Weg nach Cancün sein sollte. Sein erster Urlaub seit Jahren. Und er ist nicht erfreut, stattdessen hier festzusitzen.”
„Könntest du nicht wenigstens warten, bis Tante Marguerite aufgewacht ist, und mit ihr darüber reden?”, fragte Elspeth, aber sehr zu Gregs Erleichterung schüttelte Lissianna den Kopf.
„Nein, sie wird erst in ein paar Stunden aufstehen.”
„Und dann?”, fragte Mirabeau.
„Und bis dahin ist es vielleicht zu spät für ihn, heute noch einen anderen Flug nach Cancun zu bekommen”, antwortete sie. „Leute, er hat versprochen, mir zu helfen, wenn er zurückkommt. Ich hatte diese Phobie mein ganzes Leben lang, eine Woche mehr oder weniger macht jetzt auch nicht mehr viel aus.... falls er sie überhaupt heilen kann”, fügte sie zweifelnd hinzu.
Greg runzelte die Stirn angesichts dieses Mangels an Vertrauen.
Man hielt ihn für einen der Besten auf diesem Gebiet. Wenn überhaupt jemand sie heilen konnte, dann er.
„Oh, davon bin ich aber überzeugt”, sagte Elspeth schnell. „Er wird dir helfen, damit fertig zu werden, Lissi, und dann kannst du dich ernähren wie wir anderen alle auch.”
„Und was ist, wenn er zur Polizei geht?”, fragte Jeanne Louise plötzlich.
„Er wird nicht zur Polizei gehen. Er ist selbst in den Kofferraum gestiegen, und das zeigen auch die Sicherheitsaufnahmen aus dem Parkhaus”, benutzte Lissianna sein Argument.
„Aber.... ”, begann Jeanne Louise.
„Ich binde ihn los und bringe ihn nach Hause”, erklärte Lissianna mit fester Stimme, dann stützte sie die Hände in die Hüften und wandte sich ihren Verwandten zu. „Ihr wartet unten, während ich das tue, damit ihr keinen Ärger bekommt. Ihr hattet nichts damit zu tun.”
Greg hielt den Atem an, als sie sich zweifelnd ansahen, und schloss dann die Augen, weil sich ein Fünkchen Hoffnung in ihm regte, als Jeanne Louise sagte: „Nun, wenn du so entschlossen bist, ihn zu befreien, helfe ich dir.”
„Wir helfen dir alle”, korrigierte Elspeth sie, und sie nickten einmütig.
Lissianna lächelte dünn. „Ich brauche keine Hilfe.”
„Klar doch”, erwiderte Thomas. „Erstens brauchst du ein Auto, und zweitens wird es die Schuld verteilen. Je mehr von uns damit zu tun hatten, desto weniger Ärger wirst du bekommen.”
„Ehrlich, Thomas, du bist wirklich clever, wenn es darum geht, keinen Ärger zu bekommen.” Jeanne Louise wirkte beeindruckt.
Auch Greg imponierte dieser Vorschlag.
„Das ist ja wirklich nett, ihr Lieben”, warf Lissianna ein. „Aber ihr braucht nicht.... ”
„Du auch nicht”, sagte Elspeth. „Aber wenn du drinsteckst, stecken wir mit drin.”
„,Einer für alle, alle für einen’, wie?”, zitierte Lissianna amüsiert, und dann gab sie sehr zu Gregs Erleichterung nach. „Also gut, aber wenn ihr mitkommen wollt, solltet ihr euch lieber anziehen.”
Greg blickte überrascht auf und bemerkte plötzlich, dass alle außer Lissianna noch in Babydoll und Pyjama waren. Es gab jede Menge bloße Haut im Zimmer, aber er hatte zwar Lissiannas Babydoll bemerkt, als sie hereingekommen war, aber nicht darauf geachtet, was die anderen trugen. Das fand er ein wenig sonderbar.
„Wir gehen uns anziehen, und dann kommen wir gleich zurück”, sagte Mirabeau.
„Das braucht ihr nicht. Wir können uns unten treffen, wenn ich Greg losbekommen habe”, sagte Lissianna, aber Mirabeau schüttelte den Kopf.
„Du vergisst die Reinigungsleute. Sie könnten uns an Tante Marguerite verraten”, fügte sie erklärend hinzu. „Es ist besser, wenn wir zurückkommen, um dir zu helfen, ihn hier rauszuschmuggeln.”
„O ja, das wird Spaß machen”, sagte Juli aufgeregt und eilte zur Tür, dicht gefolgt von Vicki.
„Waren wir auch mal so jung?”, fragte Jeanne Louise.
Lissianna schüttelte den Kopf, dann wandte sie sich dem Bett zu. Sie lächelte, stellte Greg fest, und das ließ auch ihn lächeln, dann räusperte er sich und bat: „Können Sie mich jetzt ganz losbinden? Ich muss wirklich dringend auf die Toilette!”
„Oh!” Sehr zu seiner Erleichterung wandte sich Lissianna schnell wieder ihrer Aufgabe zu.
Er beobachtete, wie sie den Strick von seinem Handgelenk löste, und sein Blick schweifte über das weiße Seidentop, das sie angezogen hatte, dann hinunter zu der schwarzen Stoffhose. Sie sah gut aus. Nicht so gut wie in dem Babydoll, aber jedenfalls so gut, dass er spürte, wie sich sein Interesse regte.
„Was ist denn nun Ihre Phobie?”, fragte er plötzlich, als sie mit dem ersten Handgelenk fertig war und ums Bett herumgehen wollte, um sich das zweite vorzunehmen.
„Das wissen Sie nicht?”, fragte Lissianna überrascht, als sie auf die andere Seite wechselte.
„Nein.” Er sah zu, wie sie mit den Knoten an dem Strick um sein linkes Handgelenk beschäftigt war. Sie hatte die Finger einer Pianistin, schlank und geschickt.
„Ach je.” Sie verzog das Gesicht und gab dann sichtlich ungern zu: „Ich bin hämophob.”
„Hämophob?”, fragte Greg langsam, und seine Gedanken überschlugen sich. Sie war hämophob? Man hatte ihn entführt, damit er eine Hämophobie behandelte?
Eigenartig, dachte er, und langsam sah er klarer. Also hatten sie ihn entführt und ihn dann auch noch gefesselt, weil sie wollten, dass er sie wegen einer angeblich das Leben unerträglich machenden Phobie behandelte. Thomas hatte gesagt, es sei so, als würde man beim Anblick von Lebensmitteln ohnmächtig.
Um Himmels willen, die Frau wurde ohnmächtig, wenn sie Blut sah! Millionen litten unter Hämophobie und führten ein vollkommen normales Leben.
Lieber Gott! Da saß er nun und erinnerte sich an all die ernst vorgebrachten Bitten, die ihre Familie geäußert hatte, als sie alle nacheinander in sein Zimmer gekommen waren, um ihm zu sagen, wie sehr Lissianna ihn brauche, wie sehr eine Phobie ihr Leben zerstöre....
Jetzt war er wirklich sauer. Greg hätte vielleicht verstehen können, wenn sie Klaustrophobie gehabt hätte oder irgendeine andere Phobie, die es ihr unmöglich machte, ein normales Leben zu führen, aber Hämophobie? Lieber Himmel, selbst Arachnophobie hätte mehr Mitleid in ihm geweckt. Spinnen fanden sich wirklich überalll.... aber Hämophobie? Der Anblick von Blut war nicht etwas, dem eine normale Person alltäglich oder sogar jede Woche ausgesetzt war. Es veränderte das Leben wohl kaum auf tragische Weise. Es war sicher nicht angenehm; sie würde in einer Notaufnahme zu nichts zu gebrauchen sein, und es würde ihr sicher übel werden, wenn sie sich selbst verletzte oder jemand in ihrer Umgebung zu bluten begann, aber ihn hier festzuhalten nur wegen....
„Fertig.”
Greg schaute hinunter und sah, dass sie ihn losgebunden hatte.
Er war frei. Er murmelte „Danke”, sprang aus dem Bett und eilte ins Bad, bevor er noch etwas sagte, das ihm später leid tun würde. Er wollte schreien und brüllen und ein paar Dinge zerbrechen, so wütend war er, weil er wegen dieser Sache seinen Flug verpasst hatte, aber das konnte er sich nicht leisten. Er würde nichts tun, was möglicherweise verhindern würde, dass er aus diesem Irrenhaus herauskam.