9
Es war das Zuschnappen der Tür, das ihn aufweckte. Als Greg die Augen öffnete, sah er über sich die dunkle Zimmerdecke, dann drehte er den Kopf auf die Seite, um sich in einem Raum voller Schatten umzuschauen. Das Licht im Badezimmer brannte, und die Tür war einen Spalt breit geöffnet, sodass das Zimmer nicht vollkommen im Dunkeln lag.
Er erkannte Lissianna, als sie sich ihm näherte, und war sofort hellwach. Sie sah aus, als sei sie sich nicht sicher, wie er sie empfangen würde, und das konnte er nur allzu gut verstehen.
Greg war alles andere als erfreut gewesen, als man ihn am Abend zuvor wieder hierher gebracht hatte, und das hatte er auch sehr deutlich kundgetan. Sie hatten ihr das wahrscheinlich erzählt.
Dann war Thomas hereingekommen und hatte versucht, ihn zu beruhigen, aber er war nicht in empfänglicher Stimmung dafür gewesen, und so hatte dieser schließlich seine Bemühungen aufgegeben und ihn sich selbst überlassen. Greg hatte weitergeflucht, bis er schließlich erschöpft eingeschlafen war.
„Sie hassen mich sicher.”
Greg erstarrte bei der Bemerkung und sah sie überrascht an.
„Warum sollte ich Sie hassen? Sie sind nicht diejenige, die mich immer wieder herbringt. Tatsächlich haben Sie mich ja freigelassen.”
„Ja, aber es ist meine Phobie, deretwegen Sie überhaupt hier sind”, bemerkte sie.
„Das ist wohl kaum Ihre Schuld. Niemand sucht sich eine Phobie selbst aus”, sagte er freundlich, dann sah er sie forschend an und seine Gedanken befassten sich wieder damit, wer sie war.
Eine Vampirin.
Ihr Erscheinen und ihre ersten Worte hatten ihn diese Tatsache vergessen lassen, aber nun sah er sie ohne jede Leidenschaft an.
Diese schöne blonde Frau mit den silbrigblauen Augen, die ihn geküsst und gestreichelt und ihm einen Knutschfleck verpasst hatte, der kein Knutschfleck war, war eine Vampirin.
Greg fand es unglaublich, dass er sich überhaupt mit solchen Dingen auseinandersetzte. Er war Psychologe, um Himmels willen! Wenn ein Patient in sein Büro gekommen wäre und verkündet hätte, dass ein Vampir ihn gebissen habe, hätte er ihn als von Wahnvorstellungen besessen oder paranoid-wahnhaft oder wie auch immer diagnostiziert, was in allen Fällen bedeutete, dass er nicht ganz richtig im Kopf war. Und dennoch lag er hier und war vollkommen überzeugt davon, dass man ihn in ein Nest voller Vampire gezerrt hatte.
Trotz aufkeimender Verdächtigungen war Greg jedoch nicht vollkommen sicher gewesen, ob er es wirklich mit Vampiren zu tun hatte, bis Martine und Marguerite vor seiner Wohnung aufgetaucht waren. Keine Frau, die er kannte, würde imstande sein, eine Tür durch Gedankenkraft zu öffnen, wie es Marguerite getan hatte. Und dass er plötzlich ganz ruhig geworden und ins Wohnzimmer gegangen war, passte auch dazu. Aber als echter Hammer hatte sich Marguerites Reaktion erwiesen, als Martine sie auf die Vampire/Keine-Vampire-Liste auf dem Couchtisch aufmerksam gemacht hatte. Lissiannas Mutter war blass geworden, hatte unglücklich dreingeschaut und gesagt: „Er weiß jetzt, wer wir sind. Das erklärt, wieso es noch schwieriger geworden Ist, ihn zu beeinflussen. Was machen wir jetzt?”
„Nun”, hatte Martine bedächtig gesagt, „Ich habe in sein Hirn ge‘schaut, Marguerite, und er.... ”
Mehr hatte Greg nicht von ihrem Gespräch mitbekommen.
Martine war aufgestanden, hatte Marguerite zu sich herübergewunken und leise auf sie eingeredet. Das Interessante war, dass, sobald Martine ihn nicht mehr berührt und sich wegbewegt hatte, Greg von dem Zwang befreit gewesen war, auf der Couch sitzen bleiben zu müssen. Sein Verstand hatte wieder ihm gehört und sich sofort Gedanken darüber gemacht, was er tun sollte: Fliehen, die Polizei rufen oder die Tausende von Fragen stellen, die sich plötzlich für ihn auftaten. Greg war hin- und hergerissen gewesen. Ein Teil von ihm war schrecklich verängstigt, der andere schrecklich neugierig.
Bevor er entscheiden konnte, mit welchem Teil er weitermachen würde, hatten die Frauen ihr Gespräch beendet, und Martine war wieder an seiner Seite gewesen. Als sie ihn erneut am Arm berührt hatte, hatte Greg diesen fremden Zwang in sich gespürt.
Er hatte die Wohnung mit den beiden Frauen verlassen, war im Fahrstuhl mit ihnen nach unten gefahren, aus dem Gebäude hinausgegangen und hatte sich ruhig in denselben Van gesetzt, in dem Lissianna und ihre Verwandten ihn erst kurz vorher in seine Wohnung gebracht hatten. Diesmal hatte er sich auf die erste der beiden hinteren Bänke und Martine sich neben ihn gesetzt.
Sobald er bei ihrem Haus angekommen und ausgestiegen war, war er seelenruhig hineingegangen und direkt hoch in das Schlafzimmer, wo er sich erneut fesseln ließ.
Greg hatte erst begonnen zu schreien und sich zu wehren, als sie mit dem Fesseln fertig waren und Martine seinen Arm losgelassen hatte. Seine Gedanken waren sofort wieder seine eigenen, und er war enorm wütend gewesen, als er sah, was mit ihm passiert war. Er hatte sie angeschrien, aber die Frauen waren einfach darüber hinweggegangen und hatten ihn allein gelassen.
Er hatte anschließend noch so lange weitergebrüllt, bis er schließlich heiser war.
An diesem Morgen fühlte er sich viel ruhiger. Greg nahm an, dass er sich eigentlich vor Lissianna fürchten müsste.... oder auch vor ihren Cousinen. Aber das war nicht der Fall. Er fand es schwierig, sich vor Leuten zu fürchten, die man in ihrem Nachtzeug gesehen hatte; Babydolls und Spiderman-Schlafanzüge waren erst recht nicht sonderlich furchteinflößend. Martine und Marguerite fand er dagegen aus irgendeinem Grund ein wenig einschüchternder.
„Hm”, sagte er schließlich, „ihr seht alle ziemlich gut aus für Tote.”
Lissianna blinzelte und fand seine Worte offenbar schockierend. Aber sie war nicht annähernd so schockiert wie Greg selbst; er konnte sich selbst nicht erklären, warum er das gesagt hatte. Gott! Wie geschickt er sich doch wieder angestellt hatte! Kein Wunder, dass seine Familie glaubte, er benötigte Hilfe, um eine Frau zu finden.
„Wir sind nicht tot”, sagte Lissianna schließlich, und Greg hörte auf, sich für seine dumme Bemerkung geistig zu ohrfeigen, sondern schaute sie fragend an.
„Aber Sie sind doch Vampire. Nosferatu, die Untoten.... ” Er fuhr bei diesem Wort zusammen, dann sagte er: „Aha, ich verstehe. Sie sind Untote.” Bevor Lissianna es bestätigen oder abstreiten konnte, fragte er: „Werde ich jetzt, da Sie mich gebissen haben, auch ein Vampir? Oder bin ich nur im Renfield-Stadium und fange an, Käfer zu essen?”
„Sie haben sich nicht in einen Vampir verwandelt, und Sie werden auch nicht plötzlich den unerklärlichen Drang verspüren, Käfer zu essen”, versicherte Lissianna ihm geduldig.
„Das ist gut. Ich kann Käfer nicht ausstehen. Um ehrlich zu sein, habe ich eine Insektenphobie.”
Sie blinzelte überrascht. „Sie behandeln Phobien und haben selbst eine?”
Er zuckte ein wenig verlegen die Achseln. „Es heißt doch auch immer, ein Klempner habe tropfende Wasserhähne, ein Steuerberater sei mit seiner eigenen Steuererklärung immer zu spät dran.... ”
„Und der Phobieexperte hat selbst eine Phobie”, schloss sie amüsiert. Dann fügte sie ernster hinzu: „Wir sind nicht tot, Greg.”
Greg war ratlos. „Sie sind also Vampire, aber nicht tot oder sogar untot?”
„Stimmt, obwohl ich den Begriff Vampir lieber nicht gegenüber meiner Mutter benutzen würde; sie hasst ihn”, informierte Lissianna ihn. „Das tun die meisten Älteren von uns.”
„Warum? Sind sie das etwa nicht?”, fragte er.
Sie zögerte, dann erklärte sie: „Vampir’ ist ein Begriff, den die Sterblichen uns gegeben haben. Wir haben ihn uns nicht ausgesucht. Außerdem verleitet das Wort zu mehr als unangenehmen Assoziationen.... Dracula, dämonengesichtige Wesen.”
Sie zuckte die Achseln.
„Sie sind also keine Dämonen; das zu wissen, beruhigt ungemein”, stellte er trocken fest. „Wie alt sind Sie?”
Lissianna schwieg so lange, dass er dachte, sie würde überhaupt nicht auf seine Frage antworten. Dann setzte sie sich auf die Bettkante zu ihm, schaute auf ihre Hände, überlegte kurz und gab schließlich zu: „Ich bin 1798 zur Welt gekommen.”
Greg lag vollkommen reglos da, und sein Verstand raste 1798? Lieber Gott, sie war zweihundertundzwei. Das machte sie wirklich richtig alt. Und dann erinnerte er sich daran, dass er sich Gedanken gemacht hatte, sie könne glauben, er sei zu alt für sie.
Er schüttelte den Kopf und fragte: „Und Sie sind nicht tot?”
„Nein”, antwortete sie mit fester Stimme.
Greg runzelte die Stirn und sagte: „Aber wenn man Büchern und Filmen Glauben schenkt, sind Vampire tot.”
„Und wenn man Büchern und Filmen glaubt, sind Psychologen und Psychiater psychotische Mörder”, erwiderte sie. „Denken Sie doch an Dressed to kill oder Das Schweigen der Lämmer.”
„Touche”, sagte er amüsiert.
Sie schwiegen beide eine kleine Weile, dann sagte Lissianna: „Wie bei allem gibt es viele verzerrte Darstellungen über uns, die im Lauf der Jahrhunderte entstanden sind.”
Greg dachte kurz darüber nach, dann fragte er: „Wie verzerrt sind die Darstellungen denn? Sind Sie verflucht und seelenlos?”
Sie lächelte mit echter Heiterkeit. „Nein, wir sind nicht verflucht, wir sind nicht seelenlos, und Knoblauch und religiöse Symbole haben keinerlei Wirkung auf uns.”
„Aber Sie trinken Blut?”
„Wir brauchen Blut, um zu überleben”, gab sie zu.
„Das ist verrückt”, sagte Greg laut. Sein Verstand rebellierte dagegen, das Unakzeptable zu akzeptieren. „Vampire, ewiges Leben, sich von Blut ernähren.... das ist eine Geschichte, ein Mythos, eine Legende.”
„Die meisten Legenden und Mythen basieren auf einem Körnchen Wahrheit”, sagte sie ruhig.
Greg riss erschrocken die Augen auf. „Was ist mit Werwölfen und so?”
„Na ja, Sie sind Psychologe”, sagte sie amüsiert. „Sie haben doch sicher von Lykanthropie gehört?”
„Das ist eine Psychose, bei der der Patient sich einbildet, er sei ein Wolf.”
„Na also.”
Was hatte das zu bedeuten?, fragte sich Greg. Er glaubte nun wirklich nicht an so etwas wie Werwölfe, aber er hatte auch vorher nicht an Vampire geglaubt. Diese ganze Geschichte hatte seine Erfahrungen und sein Wissen auf den Kopf gestellt. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.
„Es tut mir leid, dass ich Sie gebissen habe.”
Lissiannas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, und das war wohl gut so. Er würde sonst noch von all diesen Ideen, die ihm durch den Kopf gingen, in den Wahnsinn getrieben werden. Als Nächstes würde er noch an Feen und Elfen glauben.
„Es war ein Fehler”, fügte sie rasch hinzu. „Als ich Sie auf dem Bett liegen sah, mit einer Schleife um den Hals, dachte ich, Sie seien mein Geburtstagsgeschenk.... und das waren Sie ja auch. Ich hatte nur nicht begriffen, dass Sie meine Phobie behandeln sollten. Ich nahm an, dass Sie.... eine besondere Leckerei wären.”
„Eine besondere Leckerei?” Greg wiederholte ihre vorsichtige Ausdrucksweise ungläubig. „Wollen Sie damit sagen, dass Sie mich für das Abendessen hielten?”
Sie machte ein schuldbewusstes Gesicht und war anständig genug, rot zu werden, und Greg tat leid, was er gesagt hatte. Er war wegen des Bisses nicht einmal richtig böse auf sie. Es war schwer, sich wegen etwas zu ärgern, das er so genossen hatte, und Greg musste zugeben, dass es wirklich Spaß gemacht hatte.
Schon sich daran zu erinnern genügte, eine eindeutige Reaktion seines Körpers hervorzurufen.
„Sie sind also eine Vampirin mit Hämophobie”, sagte er schnell, um das Thema zu wechseln.
„Lächerlich, nicht wahr?”, murmelte sie angewidert. „Ich weiß, dass ich keine Angst vor Blut haben sollte, dass es nichts daran zu fürchten gibt, aber.... ”
„Phobien sind nicht rational erklärbar. Ich habe einen Klienten, der sechs Fuß groß und hundertzwanzig Kilo schwer ist und schreckliche Angst vor winzigen Spinnen hat. Phobien sind per definitionem irrational”, versicherte er ihr, dann fiel ihm etwas anderes ein, und er fragte: „Und wie ist das mit dem Sonnenlicht?”
„Sonnenlicht?”, fragte sie unsicher.
„Nach allem, was ich weiß, zerstört Sonnenlicht Vampire”, sagte er.
„Oh. Ja.... ” Sie zögerte, dann sagte sie es ihm. „Es fügt unseren Körpern den gleichen Schaden zu wie ihrem, aber es ist für uns ein klein wenig gefährlicher, weil unsere Körper Blut in einem schnelleren Maß benutzen, um den Schaden zu reparieren.... was uns wiederum dehydriert, und das bedeutet, dass wir mehr essen müssen. In früheren Zeiten mieden wir Sonnenlicht wie die Pest, damit wir uns nicht öfter ernähren mussten. Nahrung zu sich zu nehmen war damals eine gefährliche Sache. Man konnte jederzeit dabei ertappt werden.”
„Und heute?”
„Heute benutzen die meisten von uns Blutbanken zur Ernährung, aber viele meiden die Sonne immer noch aus Gewohnheit, oder weil es einfach praktischer ist. Immer einen Kühlbehälter mit Blutkonserven bei sich haben zu müssen wäre reichlich lästig.”
Greg nickte verständnisvoll. „Wenn Sie also nicht verflucht oder tot sind, was sind Sie dann?”
Lissianna dachte einen Moment über die Frage nach, dann sagte sie: „Sie werden es wohl am besten verstehen, wenn ich Ihnen die Geschichte von Anfang an erzähle.”
„Bitte.” Greg war neugierig. Intellektuel betrachtet, war das alles ungemein faszinierend. Es war, als entdeckte man, dass es tatsächlich einen Weihnachtsmann gab. Naja, oder so ähnlich.
„Sie haben doch sicher schon einmal von Atlantis gehört?”
Das war keine wirkliche Frage, aber Greg brummte dennoch ein „Ja”, obwohl er ein wenig verwirrt war, was dieses mythische Land mit Vampiren zu tun haben sollte. „Die untergegangenen Zivilisationen. Plato, Poseidon, Kreta. Ein Paradies mit wohlhabender Bevölkerung, die Zeus gegen sich aufbrachte, weil sie gierig wurde”, erinnerte er sich aus Kursen an der Universität.
„Zeus bestrafte sie, indem er alle Götter zusammenrief und sie auslöschte.”
„Auch das ist Büchern zu entnehmen”, stimmte Lissianna ihm mit einer Spur von Heiterkeit zu.
„Was hat das mythische Atlantis damit zu tun, dass Sie eine Vampirin sind?”
„Atlantis ist ebenso wenig eine Legende, wie es Vampire sind”, verkündete sie. „Es war von einem sehr fortschrittlichen Volk bewohnt, und kurz bevor es unterging, hatten die Wissenschaftler eine Art Nano entwickelt.”
„Diese winzig kleinen Roboterdinger?”, fragte Greg.
„Ja”, sagte sie. „Ich will nicht so tun, als verstünde ich viel davon. Ich habe Naturwissenschaft nie besonders interessant gefunden. Mein Bruder Bastien könnte Ihnen das alles viel besser erklären, aber grundsätzlich haben sie die Nanotechnologie mit einer Art von Bio-sowieso kombiniert und.... ”
„Biotechnik?”, fragte er.
„Etwas in dieser Richtung”, stimmte sie ihm zu. „Sie verbanden zwei Technologien, um mikroskopische Nanos zu schaffen, die ins Blut injiziert werden konnten, in dem sie weiterleben und sich vermehren konnten.”
„Ich verstehe immer noch nicht, was das mit.... ”
„Diese Nanos waren programmiert und hatten die Aufgabe, Gewebe zu reparieren”, unterbrach Lissianna ihn. „Sie sollten medizinische Hilfsmittel sein, um Leute heilen zu helfen, die schwer verwundet oder krank waren.”
Greg zeigte sich skeptisch. „Und das funktionierte?”
„O ja. Es funktionierte besser, als man erwartet hatte. Wenn sie einmal in einem Körper waren, reparierten sie nicht nur beschädigtes Gewebe, sie zerstörten auch jede Art von Infektion und regenerierten selbst totes oder sterbendes Gewebe.”
„Ah”, sagte Greg, der plötzlich verstand, warum sie Atlantis angeführt hatte. „Und diese Nanos sind der Grund dafür, dass Sie so lange leben und so jung bleiben.”
„Ja. Denn sie hatten eine unerwartete Nebenwirkung. Sie waren so programmiert, dass sie sich selbst zerstören sollten, sobald der Schaden im Körper behoben war, aber.,”
„Der Körper wird ständig von Sonnenlicht, Umweltverschmutzung und einfach vom Altern angegriffen”, beendete Greg den Satz für sie.
„Ja.” Sie lächelte erfreut über sein Verständnis. „Solange es Schaden zu reparieren gibt, werden die Nanos leben und immer wieder neue erschaffen. Und dazu benutzen sie Blut aus dem Blutkreislauf. Und es gibt immer irgendwelche Schäden zu reparieren.”
Greg schloss die Augen, und seine Gedanken überschlugen sich. Das eben Gehörte warf ebenso viele Fragen auf, wie es beantwortete. „Was ist mit dem Blut? Sie sagen, es.... äh.... nähre Sie. Liegt es daran, dass die Nanos das Blut brauchen?”
„Ja. Sie benutzen es zum Antrieb und um die Reparaturen durchzuführen. Je mehr Schaden, desto mehr Blut wird gebraucht. Aber selbst, wenn es nur um den Schaden geht, den das alltägliche Leben anrichtet, kann der Körper selbst nicht genügend Blut liefern, um sie zufriedenzustellen.”
„Also müssen Sie Blut trinken, um die Nanos zu füttern”, schloss er.
„Ja, entweder trinken oder es durch eine Infusion zu mir nehmen.”
„Infusion?”, echote er, erfreut, ein so geläufiges Wort in diesem Gespräch zu hören. „Es ist also eher wie Hämophilie? Eine Blutkrankheit.... ” Dann stockte er und fügte trocken hinzu:.Bis auf die Tatsache, dass Sie alle von einem uralten, wissenschaftlich fortgeschrittenen Volk abstammen.” Er hielt inne, als ein Gedanke ihn streifte. „Aber Sie wurden vor ein wenig mehr als zweihundert Jahren geboren. Sie selbst stammen nicht aus Atlantis. Es wird von Mutter zu Kind weitergegeben?”
„Ich habe es von meiner Mutter geerbt”, gab Lissianna zu.
„Aber sie wurde nicht damit geboren.”
„Und Ihr Vater?”, fragte er und erkannte, dass er nicht gefragt hatte, wie alt jean Claude Argeneau gewesen war, als er vor ein paar Jahren gestorben war. „Wie alt war Ihr Vater?”
„Er, sein Zwillingsbruder und ihre Eltern gehörten zu denen, die aus Atlantis flohen, als es unterging. Tante Martine kam ein paar hundert Jahre später zur Welt.”
Ihr Vater und seine Familie waren aus Atlantis geflohen, dachte er leise. Wann war das wohl gewesen? Er war sich nicht sicher. Eindeutig vor den Römern, vor Christi Geburt.... lieber Gott, er mochte kaum daran denken!
„Mein Vater hat meiner Mutter die Nanos eingegeben, als sie heirateten”, fügte Lissianna hinzu, als sein Schweigen andauerte.
Greg zuckte bei dieser Nachricht zusammen. „Es könnte also jeder.... ”
„Man braucht nicht so zur Welt zu kommen”, gab sie leise zu, als er mitten im Satz stockte. „Sie wurden ganz zu Anfang intravenös in das Blut eingegeben, und so kann es immer noch gemacht werden.”
„Und das Blut muss nicht unbedingt getrunken werden?”, fragte er, denn seine Gedanken kehrten zu diesem Punkt zurück.
Er wusste nicht, warum. Vielleicht, weil es sie weniger fremd erscheinen ließ, wenn er das Außergewöhnliche an ihr als eine Blutkrankheit wie Hämophilie betrachtete.
„Nein, aber alles andere ist etwas zeitaufwendiger”, erklärte sie.
„Etwa so unterschiedlich wie zwischen dem Trinken von einem Glas Wasser und der Zeit, die ein Liter Salzlösung braucht, um durch eine Infusion in den Körper zu gelangen.”
„Ich nehme an, es war unangenehm für Sie, wenn die anderen sich einfach einen Beutel Blut verabreichen und weitermachen konnten”, sagte er in dem Versuch, sie ganz zu begreifen.
„Und das war nicht die einzige Unbequemlichkeit”, sagte sie leise. „Mutter wartete für gewöhnlich, bis ich im Bett lag, und dann verabreichte sie mir eine Infusion. Ich ernährte mich, während ich schlief. Das war eigentlich nicht besonders unbequem, aber.... ” Sie zögerte, dann gab sie zu: „Es bewirkte, dass ich mich wie ein Kind fühlte, so verwundbar wie ein kleiner Vogel, der seine Mutter braucht, die den Wurm fängt und ihn dann ihrem Vogelkind füttert. Ich war völlig von ihr abhängig.”
„Und jetzt sind Sie das nicht mehr?”, fragte er.
„Jetzt ernähre ich mich selbst”, sagte sie mit Stillem Stolz. Doch dann gab sie mit ironischer Miene zu: „Nicht immer gut, aber ich schaffe es.”
„Wenn Sie hämophob sind, wie funktioniert das dann?”
Sie seufzte. „Greg, ich glaube nicht.... ”
„Wie also?”, hakte er beharrlich nach, obwohl er glaubte, die Antwort schon zu kennen. Wenn sie ohnmächtig wurde, wenn sie Blut sah, dann blieb ihr ohne jemanden, der ihr eine Infusion verabreichen konnte, nur eine Möglichkeit: jemanden zu beißen, wie sie ihn gebissen hatte.
„Auf die traditionelle Weise”, gestand sie schließlich.
„Sind das Schuldgefühle, die ich da in Ihrer Stimme höre?”, fragte er erstaunt. Zugegeben, er selbst hätte es weniger beunruhigend gefunden, wenn sie Blut aus Beuteln benutzt hätte wie die anderen, statt herumzulaufen und Leute zu beißen wie eine weibliche Version von Dracula, aber er hatte nicht erwartet, dass es sie selbst störte.
„Blutbanken sind die Haupternährungsquelle für die Meinen, und das seit über fünfzig Jahren. Alle sind dazu übergewechselt, nur ich wurde weiterhin intravenös ernährt”, erklärte sie. „Nachdem man sich fünfzig Jahre nicht mehr direkt von Sterblichen ernährt hat, kann man sich fast einbilden, dass sie und der Blutbeutel am Tropf nichts miteinander zu tun haben. Sterbliche werden einfach Nachbarn und Freunde und.... ”
„Ich verstehe”, unterbrach Greg, und das tat er wirklich. Er nahm an, es war ähnlich wie das Phänomen, das Menschen, die ihr Fleisch in ordentlichen kleinen Packungen im Supermarkt kauften, beinahe vergessen ließ, dass beispielsweise ein Kalbsbraten von den niedlichen kleinen Kälbchen mit den staksigen Beinen und großen Augen stammte.
Gregs Gedanken wandten sich wieder dem Gespräch zu, das er in seiner ersten Nacht hier mit Thomas geführt hatte. Er hatte ihn angefleht, Lissianna zu helfen, weil aufgrund ihrer Phobie jeder befürchtete, dass sie wie ihr Vater enden könnte. Er setzte die Bruchstücke des Gehörten langsam zusammen. Lissianna hatte sich angestrengt, weniger abhängig von ihrer Mutter zu werden, sie hatte einen Studienabschluss erworben, sich eine Stelle beschafft und war in ihre eigene Wohnung gezogen. Sie
„Sie arbeiten im Obdachlosenheim, nicht wahr?”
„Ja”, sagte sie vorsichtig.
„Und Sie ernähren sich dort.” Das war keine Frage, denn nur so ergab es einen Sinn.
„Ich dachte, ich könnte den Leuten helfen und mich gleichzeitig um meine eigenen Bedürfnisse kümmern”, erklärte sie.
Greg nickte. Verständlich. Es vermochte sicher ihre Schuldgefühle zu lindern, die sie hatte, weil sie wieder direkt von Menschen trank, nachdem das so lange nicht der Fall gewesen war.
„Ich nahm an, die Leute im Obdachlosenheim würden täglich wechseln.”
„Tun sie das denn nicht?”, fragte Greg überrascht. Er wusste nicht viel über Obdachlosenheime.
„Leider nicht. Es sind oft dieselben Leute, manchmal monatelang, obwohl es auch ein paar gibt, die nur kurze Zeit da sind.”
„Aber viele Obdachlose sind Alkoholiker oder nehmen Drogen”, sagte er und verstand mit einem Mal, was die Familie beunruhigte. Wenn sie sich regelmäßig von den vielen abhängigen Obdachlosen des Heims nährte....
„Einige, ja”, sagte sie leise. „Nicht alle. Einige sind aus Alkoholoder Drogengründen obdachlos geworden, haben ihre Stellen, ihre Familien, ihr Heim verloren.... Andere wurden durch andere Umstände obdachlos, und manchmal trinken sie oder nehmen Drogen, um ihre Situation eine Weile zu vergessen. Aber sie sind nicht alle süchtig.”
Greg lächelte über ihren defensiven Ton. Sie mochte die Leute im Obdachlosenheim offenbar, und das nicht nur als Nahrungsmittel. Er fand das irgendwie beruhigend.
„Aber viele von ihnen sind auch, nicht ganz gesund”, fuhr sie fort. „Sie haben wenig oder gar kein Geld und ernähren sich nicht richtig. Einige haben nur eine einzige Mahlzeit am Tag, das Frühstück im Obdachlosenheim.”
„Und deshalb macht sich Ihre Familie Sorgen und will, dass Ich Ihre Phobie heile”, spekulierte Greg. „Selbst wenn Sie nicht von Leuten Ihre Nahrung bezögen, die Alkohol oder Drogen in Ihrem Organismus haben, dann doch immerhin oft von Leuten, die sich nicht gesund ernähren, also ernähren auch Sie sich nicht gesund.”
„Das stimmt.” Sie verzog das Gesicht. „Ich lebe von etwas ähnlichem wie einer Fast-Food-Diät; sie ist sättigend, aber enthält nur wenige Nährstoffe. Aber ich glaube, dass Mutter nichts so sehr beunruhigt wie der Alkohol.”
Greg nickte, aber er konnte seinen Blick nicht von ihrem Mund wenden. Er hatte nie sonderlich auf ihre Zähne geachtet, seine Aufmerksamkeit hatte sich bis jetzt auf ihre Lippen gerichtet und darauf, was er gerne mit ihnen tun würde. Dennoch, dachte er, er hätte doch irgendwann ihre Eckzähne bemerken müssen.
„Darf ich einmal Ihre Zähne sehen?”
Lissianna sah ihn aufmerksam an und fragte dann zögernd: „Warum?”
„Na ja.... ” Greg rutschte ein wenig unbehaglich hin und her und fuhr dann fort: „Ich glaube natürlich, dass es stimmt, was Sie mir über die Ihren erzählen. Ich habe ja schließlich die Male an meinem Hals gesehen. Und ich weiß auch, dass ich manipuliert wurde, aber.... ”
„Aber Sie wollen mehr Beweise. Physische Beweise”, vermutete sie, als er zögerte.
„Es tut mir leid, aber worüber wir hier reden, ist ziemlich absurd”, erinnerte er sie. „Vampire aus Atlantis, die nicht verflucht oder seelenlos sind, aber ewig leben und jung bleiben und gesund aussehen? Das ist irgendwie, als würden Sie mich bitten, an den Osterhasen zu glauben.”
Lissianna nickte, zögerte aber immer noch, den Mund zu öffnen und ihre Zähne zu zeigen. Sie waren hübsch und perlweiß, aber
„Keine Reißzähne”, sagte er enttäuscht.
Als Antwort auf seine Bemerkung beugte sich Lissianna ein wenig vor. Er sah ihre Nasenlöcher leicht zucken, als sie einatmete, und ihre Eckzähne bewegten sich, glitten wie auf Schienen aus den oberen Zähnen heraus. Zwei lange, spitze Reißzähne ragten plötzlich aus ihrem Mund.
Greg spürte, wie er blass wurde und erstarrte. „Tut.... “Erhielt inne, um sich zu räuspern, als seine Stimme unnatürlich hoch herauskam, dann versuchte er es noch einmal. „Tut das weh?”
Lissianna ließ ihre Zähne erst wieder in ihre Ruhestellung zurückfahren, bevor sie ihm antwortete. „Meinen Sie das Ausfahren und Zurückziehen der Zähne?” Er nickte, den Blick immer noch fasziniert auf ihren Mund gerichtet. „Nein.”
„Wie machen Sie.... ”
„Ich vermute, es ist wie bei den Kral en von Katzen”, sagte sie achselzuckend, dann hob sie die Hand, um ein Gähnen zu verbergen, bevor sie schloss: „Zumindest sagt mein Bruder Bastien das.”
„Sie wurden also damit geboren?”, fragte Greg, und als sie nickte, fuhr er fort: „Aber Ihre Vorfahren, ich meine die ursprünglichen Bewohner von Atlantis, hatten doch keine Beißzähne, oder auch schon?”
„Nein. Meine Ahnen sind so menschlich wie Ihre.” Greg konnte einfach nicht anders, er sah sie zweifelnd an, und sie runzelte unmutig die Stirn. „Und wir sind es heute immer noch”, erklärte sie. „Wir haben nur.... ” Sie rang einen Moment mit sich. „Wir haben uns nur ein bissehen anders ent.... Die Nanos haben uns gezwungen, gewisse Charakteristiken zu entwickeln, die nützlich sind und uns helfen zu überleben. Wir brauchen Blut, um uns am Leben zu erhalten, und daher.... ”
„Daher die Reißzähne”, schloss er, als sie zögerte.
Lissianna nickte und gähnte erneut, dann sagte sie: „Ich muss dringend ins Bett.”
Greg verzog unglücklich das Gesicht. Es war Morgen, und er war hellwach und wollte noch so viel wissen, aber es war ihm natürlich auch klar, dass sie im Obdachlosenasyl in der Nachtschicht arbeitete und dass das hier ihre Schlafenszeit war. Er taug einen Moment mit seinem Gewissen, aber sein Egoismus siegte doch.
„Können Sie nicht noch ein bisschen länger bleiben? Hier, setzen Sie sich neben mich und lehnen Sie sich an. Das wird bequemer für Sie sein”, schlug er vor und rutschte so weit zur Seite, wie er mit gefesselten Händen konnte.
Lissianna zögerte, dann setzte sie sich zu ihm. Sie klopfte sich ein Kissen zurecht, legte es vorsichtig über seinen Arm, dann lehnte sie sich dagegen und machte es sich bequem.
Greg spähte zu ihr hoch. Aber sein Denken war ausschließlich damit beschäftigt, wie gut sie roch und dass sie ihm so nah war, dass er die Wärme spüren konnte, die sie ausstrahlte. Es dauerte einige Zeit, bis er seine Gedanken wieder den Fragen zuwenden konnte, die ihm durch den Kopf gingen. „Und was noch? Auf welche andere Weise haben die Nanos Sie noch beeinflusst?”
Lissianna sah ihn ernst an. „Wir können nachts hervorragend sehen, und wir sind schneller und stärker.”
„Um die Beute besser sehen und jagen zu können. Sie haben Sie zu perfekten nächtlichen Raubtieren gemacht.”
Sie verzog das Gesicht bei diesen Worten, aber sie nickte.
„Und die Manipulation des Verstandes?”
Lissianna seufzte. „Die macht es einfacher, sich zu nähren. Sie erlaubt uns, unsere Spender oder Geber erst zu beherrschen und danach das Erlebnis aus ihren Erinnerungen zu tilgen. Und wir können ihnen Schmerzen ersparen, die sie bei der Nahrungsvermittlung empfinden würden. Wir lassen sie vergessen, was passiert ist, weil das sowohl für die Spender als auch für uns sicherer ist.”
„Was ist also bei mir schiefgelaufen?”, fragte Greg neugierig, als sie erneut gähnte.
Lissianna zögerte. „Einige Sterbliche sind nicht so einfach zu beherrschen wie andere. Sie scheinen einer davon zu sein.”
„Warum?”
„Vielleicht, weil Sie einen stärkeren Willen haben.” Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht genau. Ich habe zwar davon gehört, aber das ist das erste Mal, dass ich so etwas selbst erlebe. Ich weiß nur, dass ich Ihre Gedanken überhaupt nicht lesen konnte, ganz zu schweigen davon, Sie zu manipulieren, und selbst Mutter hatte schon von Anfang an Schwierigkeiten mit Ihnen.”
„Sie sagte etwas darüber, dass sie keine Macht über mich hätte, als sie in meine Wohnung kam, aber sie schien keine Schwierigkeiten damit zu haben, mich gestern Abend wieder Hierher zu bringen”, sagte Greg trocken. Dann runzelte er die Stirn und setzte hinzu: „Oder vielleicht war es diese Martine. Sie führte immer wieder meinen Arm. Sie hielt ihn die ganze Zeit fest, bis sie mich gefesselt hatten, und sobald sie mich losließ, wurden meine Gedanken wieder klarer. Aber am Abend zuvor halte es ein paar Minuten gedauert, nachdem Ihre Mutter den Kaum verlassen hatte, bis ich wieder klar denken und erkennen konnte, was geschehen war und in welcher Situation ich mich befand.”
Lissianna gähnte und rieb sich müde die Augen. „Es sieht so uns, als müssten sie jetzt direkt bis ins Zentrum Ihres Verstandes vordringen und Sie festhalten, um eine Verbindung mit Ihnen herstellen zu können.”
Greg hatte das Gefühl, dass ihr das aus irgendeinem Grund missfiel. Er selbst mochte den Gedanken, von irgendjemandem beherrscht zu werden, überhaupt nicht. Also war ihm die aktuelle Entwicklung, nämlich dass es offenbar immer schwieriger für sie wurde, sehr will kommen.
Er sah sie an, um ihr das zu sagen, aber da bemerkte er, dass Ihr die Augen zugefallen waren. Sie war eingeschlafen.