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REX UND SAMMY gehen schweigend zur Lobby. Der dicke Teppich dämpft ihre Schritte. Das Muster der Tapeten verdunkelt sich zwischen den hellen Ellipsen der Wandleuchten. Rex kontrolliert die Sicherung und legt das Gewehr über den Arm.
»Ich habe über das nachgedacht, was du vorhin gesagt hast, dass man tatsächlich schwach sein darf«, sagt Rex. »Ich denke genau wie du, ich meine … wenn ich mich früher daran gehalten hätte, dann hätte ich mir das Leben vielleicht nicht wegsaufen müssen, dann hätte ich dich vielleicht nicht verloren.«
Sie kommen ins Foyer. Niemand ist dort. Einer der Computer liegt auf dem Boden. Der Regen schlägt wütend gegen die schwarze Fensterfront. Die Dachrinnen fließen über, und das Wasser plätschert auf das Pflaster.
»Ten little rabbits, all dressed in white«, erklingt plötzlich eine Kinderstimme. »Tried to go to Heaven on the end of a kite.«
Rex und Sammy drehen sich um und entdecken einen alten Kassettenrekorder auf einem Tisch in der Nähe.
»Kite string got broken«, fährt die Kinderstimme fort. »Down they all fell. Instead of going to Heaven, they went to …«
»Was passiert hier?«, flüstert Sammy.
Rex erkennt den Kinderreim von dem Telefongespräch im Restaurant wieder, er nähert sich dem Tisch und sieht, dass die Knöpfe des Geräts mit Blut befleckt sind.
»Nine little rabbits, all dressed in white, tried to go to Heaven on the end of a kite …«
»Geh zur Eingangstür«, sagt Rex gestresst.
»Papa«, sagt Sammy.
»Geh zur großen Straße hinunter und folge ihr nach rechts«, ruft Rex.
»Papa!«
Rex dreht sich um und sieht, dass James Gyllenborg durch den Gang zu den Zimmern heraneilt. Er hält ein Jagdmesser in der Hand, die Kleidung ist mit Wein überschüttet, und er atmet mit offenem Mund, als wäre seine Nase gebrochen.
»Eight little rabbits, all dressed in white«, sagt die Stimme aus dem Kassettenrekorder.
James erreicht das Foyer, schaut auf das Messer in seiner Hand und geht auf Rex zu. Er wischt sich kurz mit der freien Hand über den Mund und geht um einen Sessel herum.
»Ganz ruhig, James!«, sagt Rex und hebt das Gewehr.
James bleibt stehen und spuckt blutigen Speichel auf den Boden. Rex weicht zurück und legt den Finger auf den Abzug.
»Du bist einfach nur ein Idiot«, faucht James und bedroht Rex mit dem Messer.
Es knackt, als James’ Bein am Knie abreißt. Blut spritzt auf den Boden und er fällt um. Er beugt den Körper nach hinten, fast als würde er eine Brücke machen, und schreit vor Schmerzen.
Es dauert ein paar Sekunden, bis Rex überhaupt versteht, was passiert ist.
DJ steht in der Tür zur Treppe, über die man die Spa-Abteilung erreicht. Er hält eine Pistole mit Schalldämpfer in der Hand.
Er hat zehn Kaninchenohren auf ein Lederband gezogen, das er um seinen Kopf gebunden hat.
Rex sieht, dass seine Hosen bis zu den Oberschenkeln nass sind, als er das Foyer betritt, ein gummiertes Seil auf den Boden wirft und die Pistole in einem Achselholster unter der Jacke befestigt.
DJ bleibt stehen, schließt die Augen und klopft sich selbst auf die Wange, über einem der abgeschnittenen Kaninchenohren.
James schreit und versucht, in den Korridor zurückzukriechen.
DJ schaut ihn an und geht dann zu Rex, nimmt ihm das Gewehr ab, entfernt die Patronen, und legt es auf den Loungetisch neben die anderen Waffen.
»Six little rabbits, all dressed in white, tried to go to Heaven on the end of a kite«, sagt die Kinderstimme im Rekorder.
James liegt auf dem Boden und keucht. Eine Lache aus Blut wächst unter dem zerschossenen Bein.
»Wir müssen die Wunde verbinden«, sagt Rex zu DJ. »Er wird sterben, wenn wir nicht …«
DJ packt James an den Beinen und schleppt ihn in den Speisesaal. Rex und Sammy folgen ihm zwischen den gedeckten Tischen hindurch. James stößt gegen einen Tisch, sodass der Kerzenständer umfällt und das Stearinlicht über die Tischkante kullert.
DJ stößt James auf den Bauch, setzt ein Knie zwischen die Schulterblätter, fesselt seine Hände mit Kabelbinder hinter dem Rücken und drückt eine Leinenserviette in seinen Mund. Mit nüchternen Bewegungen zieht er einen Stuhl heran und zieht das schwarze Seil durch denselben Haken, an dem auch der Kronleuchter hängt.
»Was machst du da?«, fragt Rex.
DJ ignoriert seine Fragen, bindet eine Schlinge und legt sie um James’ Kopf, zieht an und schlingt das Seil um einen Pfeiler, bevor er ihn am Hals hochhievt.
James’ Gewicht drückt den Kronleuchter zur Seite, seine zuckenden Bewegungen versetzen die Prismen ins Zittern. Panische, quakende Laute dringen durch die Stoffserviette. Ein paar Prismen lösen sich und fallen zu Boden.
»Das reicht jetzt«, sagt Rex, geht zu James und versucht ihn anzuheben.
DJ wickelt das Seil mehrere Male um den Pfeiler, bindet einen Knoten und schubst Rex weg.
James schaukelt mit zuckenden Beinen zur Seite.
Die Kristalle klirren über ihm.
DJ betrachtet James, während er eine langsame Runde dreht, schiebt dann den Stuhl zu ihm herüber, beobachtet, wie er sein gesundes Bein auf den Stuhl stellt und um sein Gleichgewicht kämpft.
Im Foyer spielt der Kassettenrekorder die letzte Strophe des Kinderreims über ein einzelnes Kaninchen, das in die Hölle fällt. DJ schaut auf die Uhr, geht zu dem straffen Seil und lockert es ein wenig.
James atmet durch die Nase ein, Tränen rinnen seine Wangen hinunter, und sein ganzer Körper zittert.
»Wenn du stürzt oder das Bewusstsein verlierst, wirst du sterben«, sagt DJ ruhig.
»Bist du verrückt? Was zum Teufel soll das werden?«, fragt Rex.
»Du hast es immer noch nicht begriffen«, sagt DJ mit verhaltener Stimme. »Alle anderen haben es begriffen, nur du nicht.«
»Papa, wir gehen«, sagt Sammy und versucht, Rex mit sich zu ziehen.
»Was habe ich nicht begriffen?«, fragt Rex und muss schlucken.
»Dass ich dich auch töten werde«, antwortet DJ. »Sobald ich mit James fertig bin, werde ich … ich glaube, ich werde dir den Rücken aufschneiden und die Schulterblätter auseinanderklappen.«
Er holt ein altes Bild von Grace aus ihrem ersten Jahr an der Schule heraus. Das Fotopapier hat einen weißen Knick direkt über ihrem fröhlichen Gesicht.
»Sie ist meine Mutter.«
»Grace?«
»Ja.«
»Soweit ich weiß, ist sie vergewaltigt worden«, sagt Rex. »James hat mir gerade davon erzählt.«
»Papa, wir gehen jetzt«, wiederholt Sammy leise.
»Du warst dabei«, sagt DJ mit einem Lächeln und kommt ins Taumeln.
»Nein, das war ich nicht«, sagt Rex.
»Das haben alle gesagt, kurz bevor ich sie …«
»Ich bin nicht unschuldig«, unterbricht ihn Rex. »Ich habe jede Menge Dinge getan, die ich bereue, aber ich habe nie jemanden vergewaltigt, ich war …«
Er wird von einem festen, klopfenden Geräusch aus dem Foyer unterbrochen. Sie warten stumm, dann erklingt das Klopfen erneut.